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01. Jan. 2005

Zwischen Bär und Elefant

Optionen der Ukraine nach den Wahlen

Ohne Zugehörigkeit zu den heutigen geopolitischen Blöcken in Europa –der EU und der NATO auf der einen, Russland auf der anderen Seite – bleibt der Status der Ukraine undefiniert. Seit sie 1995 freiwillig das weltweit drittgrößte Atomwaffenarsenal aufgegeben hat, steht sie ohne Sicherheitsschirm da. Angesichts dieser Realität braucht Kiew eine neue Strategie – und die EU muss klar sagen, welche Ukraine sie möchte.

Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine könnten die Landkarte Europas verändern. In dieser Lage ist eine Bewertung der geopolitischen Position der Ukraine unerlässlich. Wer immer der nächste Präsident sein wird, die außenpolitischen Optionen des Landes bleiben von objektiven geopolitischen Gegebenheiten bestimmt. Deren nüchterne Analyse muss die Grundlage der ukrainischen Außenpolitik bilden. Drei Faktoren sind hierbei entscheidend:

Erstens hat die während der Gorbatschow-Ära entstandene Idee eines geeinten Europas oder eines einigen europäischen Hauses im Jahr 2004 ihr Ende gefunden. Die Erweiterungen haben Putins Russland, innenpolitisch inzwischen ausreichend konsolidiert, dazu gebracht, eine Vision für eine russische Erweiterungspolitik zu entwickeln. Als Folge dieser Entwicklung ist Europa heute geopolitisch in zwei wirtschaftliche und militärisch-politische Blöcke gespalten: die EU und die NATO auf der einen Seite, Russland mit seiner Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAEC) und dem Kollektiven Sicherheitsvertrag auf der anderen Seite.

Zweitens: Als einzige große europäische Nation bleibt die Ukraine außerhalb des europäischen und des russischen Blockes. Sie findet sich, in Michael Emersons Worten, „zwischen dem Elefanten und dem Bären“. Ihr bleibt nur zu hoffen, dass der russische Bär liberalere Züge annimmt und der europäische Elefant seinen Club nicht für Neuzugänge schließt. Paradoxerweise erkennt man zwar allgemein die strategische Bedeutung der Ukraine für Europa an, aber gleichzeitig bleibt ihr geopolitischer und geowirtschaftlicher Status unklar.

Drittens: 1995 hat die Ukraine freiwillig das weltweit drittgrößte Atomwaffenarsenal aufgegeben. Heute steht sie ohne einen verlässlichen Sicherheitsschirm da. Der undefinierte Status der Ukraine als Mitglied weder der EU noch der NATO noch des russischen Sicherheitspakts lässt ihr nur den Sicherheitsschirm der Vereinten Nationen. Der Irak-Krieg hat bewiesen, dass das kein sehr zuverlässiger Schutz ist. Auch der Tusla-Konflikt hat gezeigt, wie unsicher der Status der Ukraine ist. In dieser kritischen Situation haben die Sicherheitsgarantien des beim Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag entstandenen Budapest-Memorandums versagt. Die Ukraine stand gegenüber Russland praktisch alleine da. Für die Ukraine als großes Land, das freiwillig seine Atomwaffen abgegeben hat und noch immer Atomwaffen produzieren kann, ist Unsicherheit neu und wenig wünschenswert.

Angesichts dieser Realität braucht die Ukraine eine neue geopolitische Strategie. Auch nach den Wahlen wird eine Integration in europäische Strukturen der Wunsch der Bevölkerung und das eigentliche außenpolitische Ziel des Landes bleiben. Aber wie kann die Ukraine ihr europäisches Ideal umsetzen? Es gibt vier Optionen.

Die erste Option ist eine Strategie, die auf die volle Mitgliedschaft des Landes in der EU abzielt. Damit würde die Ukraine ihre Beziehungen zu Russland gefährden, weil sie ihre Politik den Prinzipen der EU unterordnen müsste. Vermutlich müsste sie die Grenze zu Russland einem Visumregime unterwerfen, das den Personenverkehr stark behindern würde. Diese Strategie sollte die Ukraine nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Sie wäre gefährlich, weil sie ein außenpolitisches Ziel verfolgt, das auch langfristig vollkommen unrealistisch erscheint. So enttäuscht man nur die Erwartungen der Bürger.

EU-Beitrittsperspektive erhofft

Natürlich wäre es ein Gottesgeschenk, wenn die EU nach dem Sieg Viktor Juschtschenkos der Ukraine einen Kandidatenstatus eröffnen würde. Im westlichen Balkan hat sie das nach Constantinescus Sieg für Rumänien und nach Meciars Abwahl für die Slowakische Republik getan. Die ukrainische Bevölkerung erwartet von Juschtschenko nach einem Sieg eine Beitrittsperspektive. Wenn diese ausbleibt, wird er unter Druck geraten. Man muss aber bedenken, dass sowohl Rumänien als auch die Slowakei im Gegensatz zur Ukraine assoziierte Mitglieder der EU waren. Volle Mitgliedschaft ist darum aus heutiger Sicht kein realistisches Ziel.

Die zweite Option der Ukraine ist eine Reintegration in den russischen Einflussbereich. Die dann unumgängliche Anpassung an die Normen der Russischen Union würde eine strategische Entscheidung gegen engere Beziehungen mit der EU bedeuten. Das Ziel dieser Strategie wäre eine vollständige Einbeziehung der Ukraine in die Zoll-, Währungs- und Wirtschaftsunion mit Russland im Rahmen des Einheitlichen Wirtschaftsraums.

Drittens könnte die Ukraine ihre derzeitige Strategie weiter verfolgen, einen Schritt nach Westen zu tun und dann einen nach Osten, und in Brüssel das Gegenteil von dem zu erklären, was man in Moskau sagt. Eine solche Schaukelpolitik zwischen Ost und West schafft aber nur Misstrauen und sonst gar nichts. Nach der historischen Erfahrung würde diese Politik dazu führen, dass die Ukraine sich letztlich wieder in den russisch kontrollierten eurasischen Raum integriert.

Die vierte Option wäre Blockfreiheit oder Neutralität. Sie besteht in einem klaren Bekenntnis zur Integration in die europäische und die euro-atlantische Gemeinschaft, das aber nicht an eine volle EU-Mitgliedschaft gebunden ist. Diese Politik bedeutet eine rein pragmatische Verfolgung ukrainischer Interessen in der Außenpolitik. Der Präsident der Ukraine würde in Brüssel und Moskau dieselben Aussagen machen. Er würde nicht das sagen, was die EU oder Russland hören wollen, sondern was aus seiner Sicht den nationalen Interessen der Ukraine am besten entspricht. So könnte die Ukraine dem Beispiel der Schweiz oder Norwegens folgen und eine Art Schweiz des 21. Jahrhunderts werden. Damit könnte sie eine Brücke zwischen der erweiterten EU und Russland bilden. Die Ukraine müsste kein Visumregime gegenüber Russland einführen, sondern könnte ihre Grenzen öffnen und ihre Verkehrs- und Kommunikations-Infrastruktur ausbauen.

Führen wir uns noch einmal die heutige Realität vor Augen. Russland bietet sehr deutlich, ja aggressiv seine Vorstellung der geopolitischen Zukunft der Ukraine innerhalb des eurasischen Blockes an. Dagegen beantwortet die EU den Wunsch der Ukraine nach einer Mitgliedschaft weder mit Ja noch mit Nein, also letztlich mit Nein. 2001 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgeschlagen, der Ukraine einen Status als assoziiertes Mitglied anzubieten, aber die EU hat nicht reagiert.

Vermutlich wird die EU auch dann keine klare Strategie für die Ukraine entwickeln, wenn die ukrainische Opposition die Oberhand behält. Denn die EU und vor allem Deutschland fürchten, mit der Eröffnung einer Beitrittsperspektive russische Interessen zu verletzen. Das während des Irak-Kriegs entstandene französisch-deutsch-russische Dreieck hat die europäische Rücksichtnahme auf Russland noch verstärkt und die Si-tuation der Ukraine damit weiter verschlechtert.

Welche Ukraine möchte Europa?

Ein großer Teil der Ukraine ist europäisch orientiert und davon überzeugt, dass das Schicksal des Landes in der europäischen Integration liegt. Aber Europa muss klar machen, welche Ukraine es möchte. Allgemeinplätze wie „demokratisch und stabil“ sind nicht zielführend. Die Ukraine braucht eine konkrete Aussage zu ihrer NATO- und EU-Mitgliedschaft. Wenn die EU die Ukraine aufnehmen möchte, muss sie das klar zum Ausdruck bringen. Wenn nicht, wird die Ukraine das akzeptieren – so ist das Leben – und eine neue geopolitische Rolle als Brücke oder Kommunikationszentrum übernehmen. Dazu braucht sie aber auch neue Sicherheitsgarantien.

Das heißt, die Ukraine und die EU müssen ihre Beziehung neu definieren. Aber kann die EU eine neue strategische Vision für die Zukunft der Ukraine entwickeln? Ist sie bereit, der Ukraine eine Integrations- und letztlich auch Mitgliedschaftsperspektive zu eröffnen? Wenn ja, wäre das ein wichtiger Beitrag zur Förderung von Frieden und Stabilität in einem europäischen Land von zentraler geostrategischer Bedeutung. Wenn nicht, verpassen wir eine bedeutende Gelegenheit. Deutschland spielt in dieser Frage eine führende Rolle. Kanzler Schröders Erwähnung einer Assoziierungsperspektive für die Ukraine hat 2001 die proeuropäische Elite in der Ukraine aufhorchen lassen. Leider wurde die Idee nicht durch konkrete Maßnahmen unterfüttert. Heute braucht die Ukraine mutigere Integrationsangebote der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Deutschland kann und sollte einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen europäischen Vision für die Ukraine leisten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 91 - 93.

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