Zukunftsstrategie für den Nahen Osten
Deutschlands verlässliche Partnerschaft mit Israel ist eine starke Basis, um einen Politikwechsel zu vollziehen und in dieser Region eine neue Rolle zu übernehmen.
Der Nahe Osten befindet sich im Umbruch. In großer Geschwindigkeit vollziehen sich einschneidende Ereignisse, die Chancen für weitreichende Veränderungen der Region eröffnen. Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien ist ein Wendepunkt: eine seltene Gelegenheit zur Umgestaltung der Region in eine positive und konstruktive Richtung. Weitere Faktoren sind die israelischen Erfolge bei der Schwächung von Irans Stellvertreter-Netzwerken und die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus, die mutmaßlich eine harte Haltung gegenüber dem Iran nach sich ziehen wird. All dies führt dazu, dass sich ein Weg zur Transformation des Nahen Ostens abzeichnet.
Eine solche Vision kann jedoch nur dann Wirklichkeit werden, wenn die internationalen Akteure sich von überholten Mustern lösen, ihre Politik revidieren und die sich neu ergebenden Möglichkeiten ergreifen. Deutschland ist das beste Beispiel für einen solchen Akteur, weil es sein Potenzial in der Region nicht ausschöpft. Um den Moment zu nutzen, muss Deutschland einen strategischen Politikwechsel vollziehen und eine Führungsrolle in der Region übernehmen.
Die künftige Bundesregierung sollte eine Zukunftsstrategie entwickeln, um Deutschland in fünf kritischen Bereichen mehr Gewicht zu verleihen: der iranischen Bedrohung entgegentreten, Erdoğans Ambitionen entgegenwirken, Fortschritte in der Palästinenser-Frage unterstützen, regionale Partnerschaften auf Grundlage der Abraham-Abkommen festigen und ihr Vorgehen auf ein enges deutsch-israelisches Bündnis gründen. Auf diese Weise kann Deutschland seinen Einfluss in der Region neu gestalten und zur langfristigen Stabilität und zum Wohlstand des Nahen Ostens beitragen.
Deutschland bringt drei Voraussetzungen mit, um diese Chance nutzen zu können:
- Eine enge Partnerschaft mit Israel: Deutschlands unverbrüchliche Unterstützung für Israel, insbesondere im vergangenen Jahr, hat die bilateralen Beziehungen gestärkt und dem Land eine positive Haltung vieler Israelis eingebracht. Diese Beziehung zu Israel ist für das regionale Engagement Deutschlands von entscheidender Bedeutung.
- Die wirtschaftliche und diplomatische Präsenz: Deutschland hat sich durch seine starken wirtschaftlichen Beziehungen und die aktive Diplomatie als zuverlässiger und pragmatischer Partner etabliert.
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Das Streben nach einer Führungsrolle: Der (zumindest partiell vorhandene) Wunsch Deutschlands, weltweit mehr Verantwortung zu übernehmen, deckt sich mit dem strategischen Handlungsbedarf im Nahen Osten.
Dennoch wird Deutschland diese Chance nur dann nutzen können, wenn es seine politische Herangehensweise verändert. Maßnahmen, die darauf abzielen, Druck auf Israel auszuüben, gingen wiederholt nach hinten los. Sie schürten Misstrauen und die Skepsis, ob es überhaupt europäische Akteure gibt, die als ehrliche Vermittler auftreten können. Deutschland sollte daher eine ausgewogene, pragmatische Strategie verfolgen, die Vertrauen schafft und gemeinsame Ziele voranbringt.
Der Bedrohung Iran entgegentretenIrans nukleare Ambitionen und sein Einfluss in der Region sind die größten Herausforderungen für die deutschen und israelischen Interessen. Auch wenn Israel die Stellvertreter-Netzwerke des Irans erfolgreich geschwächt hat, ist die Annäherung Teherans an Russland, China und Nordkorea eine direkte Bedrohung nicht nur für die Region, sondern auch für Europa.
Verhinderung von Atomwaffen: Deutschland sollte unter den E3 vorangehen und größtmöglichen Druck auf den Iran ausüben, um ein wirksames Abkommen zu erreichen. Im Gegensatz zum JCPOA sollte dieses Abkommen ausdrücklich sämtliche Aktivitäten im Zusammenhang mit nuklearer Bewaffnung verbieten, einschließlich der Fähigkeit des Irans, seine Raketen mit Atomsprengköpfen zu bestücken. Außerdem sollten die Verfallsklauseln abgeschafft werden, weil sie das iranische Atomprogramm legitimieren, das unter Verletzung der weltweiten Nichtverbreitungsnormen entwickelt wurde, und weil sie die Durchsetzung künftiger Abkommen erschweren. Außerdem verliert der Westen seinen Einfluss auf den Iran, wenn die in den Verfallsklauseln genannten Beschränkungen auslaufen. Die Aufhebung von Sanktionen sollte an die überprüfbare Einhaltung von Auflagen geknüpft sein, mit stringenten Durchsetzungsmechanismen wie dem Zusatzprotokoll zur Aufdeckung geheimer Aktivitäten.
Bekämpfung von Stellvertreter-Netzwerken: Deutschland sollte sich an die Spitze der Bemühungen stellen, die regionalen Stellvertreter des Irans zu schwächen. Dazu sollte es gezielte Sanktionen verhängen und die Verteidigungsfähigkeit Israels und der befreundeten Golfstaaten stärken. Ebenfalls dazu gehören Maßnahmen gegen die Huthis – sowohl gezielte Sanktionen zur Einschränkung ihrer Aktivitäten als auch indirekte Maßnahmen, zum Beispiel durch Druck auf den Iran, damit dieser seine finanzielle und logistische Unterstützung für die Milizen einschränkt. Dass diese Maßnahmen Vorrang erhalten, ist für die regionale Sicherheit und den Schutz der europäischen Interessen unerlässlich.
Wenn Deutschland nicht im Nahen Osten entschlossen gegen den Iran vorgeht, muss es sich darauf einstellen, womöglich eines Tages in viel größerer Nähe mit iranischen Waffen konfrontiert zu werden.
Mit Erdoğans Ambitionen umgehenDer türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gehört zu den destabilisierenden Kräften in der Region und stellt eine Bedrohung für deutsche Interessen und Wertevorstellungen dar. Seine Vision eines von den Muslimbrüdern kontrollierten halbmondförmigen Landstreifens – von der Türkei über Syrien und Jordanien bis nach Ägypten – bedroht die regionale Stabilität und untergräbt Europas Interessen. Erdoğans Unterstützung für sunnitische Milizen, darunter auch Al-Kaida-Verbände, und seine Manipulation der europäischen Angst vor Flüchtlingsströmen zeigen sein Störpotenzial.
Deutschland ist aufgrund seiner ausgewogenen Beziehungen zu beiden Seiten in einer guten Position, vermitteln zu können
Deutschland sollte seine besonderen Beziehungen zur Türkei nutzen, um Erdoğan von weiteren Eskalationen in der Levante, im Mittelmeerraum oder gegen Griechenland und Zypern abzuhalten. Um aggressives Handeln zu verhindern, sollte Deutschland gezielte wirtschaftliche Maßnahmen wie Beschränkungen des Handels oder der Waffenverkäufe in Betracht ziehen. Darüber hinaus sollte sich Deutschland auf diplomatischer Ebene für die Einhaltung der internationalen Seerechtsvorschriften einsetzen und Vermittlungsbemühungen zwischen der Türkei und ihren Nachbarländern unterstützen. Deutschland hat ein großes Interesse an der Sicherheit der Energiewege und der Einhaltung der Flüchtlingsabkommen. Ebenso liegt es im deutschen Interesse, gegen die türkische Unterstützung für destabilisierende Milizverbände vorzugehen. Das unterstreicht, wie wichtig ein ausgewogenes, aber auch entschlossenes Vorgehen ist, um Ankaras Ambitionen zu bremsen und gleichzeitig die regionale Stabilität zu wahren.
Die Palästinenser-Frage
Auch wenn der israelisch-palästinensische Konflikt weiterhin festgefahren erscheint, ist Deutschland aufgrund seiner ausgewogenen Beziehungen zu beiden Seiten in einer guten Position, vermitteln zu können. Fortschritte erfordern einen pragmatischen Ansatz, der sowohl Israels Sicherheitsbedenken als auch den palästinensischen Bestrebungen Rechnung trägt.
Bedingungen für weitere Hilfe: Deutschland sollte seine finanzielle Unterstützung an die Umsetzung konkreter Reformen knüpfen. Dazu sollte die Einrichtung einer Anti-Terror-Einheit und die Einführung von Deradikalisierungsprogrammen in den Schulen gehören, um eine Kultur des Friedens zu fördern. Außerdem muss die Regierungsführung transparenter werden, um sicherzustellen, dass die Hilfe wirksam eingesetzt wird. So sollte zum Beispiel Hetze gegen Israel auf internationaler Ebene gestoppt werden. Zahlungen an Personen, die in den Terrorismus verwickelt sind, sollten eingestellt und durch ein transparentes Sozialversicherungssystem ersetzt werden.
Humanitäre Hilfe reformieren: Deutschland sollte die Bemühungen zum Umbau von UNRWA anführen, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Es sollte durch ein Rahmenwerk für humanitäre Hilfe ersetzt werden, das seinen Rechenschaftspflichten besser nachkommt und das palästinensische Flüchtlingsproblem nicht perpetuiert. Dies würde die Effizienz verbessern und Vertrauen wiederherstellen, insbesondere mit Blick auf die nachweislichen Verbindungen des UNRWA zur Hamas und seine Rolle bei dem Massaker am 7. Oktober 2023.
Nachhaltiger Wiederaufbau: Dank seiner Expertise im Bereich grüner Technologien ist Deutschland in der Lage, den Wiederaufbau im Gazastreifen in einer Weise voranzutreiben, die den humanitären Bedürfnissen gerecht wird und gleichzeitig den Sicherheitsbedenken Rechnung trägt. Projekte für erneuerbare Energien und Abfallwirtschaft könnten die Lebensbedingungen verbessern und die regionale Zusammenarbeit fördern.
Das deutsche Engagement sollte auch ein Stufenkonzept für die palästinensische Autonomie unterstützen, das Entmilitarisierung und eine internationale Aufsicht vorsieht. Solche Bemühungen sollten auf die Lösung der Geiselfrage folgen und eine nachhaltige Regierungsführung gewährleisten.
Die Abraham-Abkommen
Durch die Abraham-Abkommen hat sich die geopolitische Lage im Nahen Osten von Grund auf verändert. Auf ihrer Basis haben Israel und mehrere arabische Staaten in nie gekannter Weise zusammenarbeiten können. Deutschland hat eine einmalige Chance, auf diesem Erfolg aufzubauen, indem es Partnerschaften zum Nutzen der gesamten Region fördert.
Integration im Energiesektor: Deutschland sollte sich für gemeinsame Projekte für erneuerbare Energien und für Verbundnetze zwischen dem Nahen Osten und Europa einsetzen. Solche Initiativen würden die Energiesicherheit erhöhen und das Wirtschaftswachstum fördern.
Konnektivität der Infrastruktur: Gemeinsame Verkehrsnetze, zum Beispiel moderne Schienensysteme, die Israel, die Golfstaaten und Europa verbinden, würden den Handel und die regionalen Beziehungen stärken.
Technologische Innovation: Deutschland könnte die gemeinsame Forschung und Entwicklung in kritischen Bereichen wie dem Wassermanagement, der Landwirtschaft und der Cybersicherheit fördern. So könnte eine trilaterale Initiative zwischen Deutschland, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten gemeinsame Herausforderungen angehen und Innovationen fördern.
Wenn Deutschland solche Bemühungen unterstützt, trägt es nicht nur zur regionalen Stabilität bei, sondern stärkt auch die eigenen Lieferketten und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit.
Strategische Kooperation vertiefen
Deutschlands verlässliche Partnerschaft mit Israel ist ein starkes Fundament für eine erweiterte Zusammenarbeit. Sie sollte für Deutschland den Ausgangspunkt bilden, um im Nahen Osten Einfluss auszuüben. Indem diese Partnerschaft in einem unerschütterlichen Bekenntnis zur Sicherheit Israels verankert ist, die Teil von Deutschlands Staatsräson ist, erkennt Deutschland auch die strategische Bedeutung Israels an.
Aufwertung des Partnerschaftsstatus: Deutschland sollte den Status Israels aufwerten und den besonderen Beziehungen zwischen beiden Ländern neue Substanz verleihen. Dies sollte auf der Grundlage von Deutschlands historischer Verantwortung und seines Engagements für die Sicherheit Israels (als Teil der deutschen Staatsräson) in einer Weise geschehen, die den Interessen beider Nationen dient und den künftigen Herausforderungen für ihre Sicherheit gerecht wird.
Denkbar ist beispielsweise eine bessere Koordinierung von Initiativen in den Bereichen Verteidigung, Technologie und regionale Stabilität. Dies würde eine effektivere Zusammenarbeit bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen, der Förderung von Innovationen in beiden Ländern und der Bekämpfung gemeinsamer Bedrohungen ermöglichen. Gleichzeitig würde die Partnerschaft zwischen den Menschen in Deutschland und Israel ebenso wie im universitären Bereich und in der Privatwirtschaft vertieft.
Verteidigung und Technologie: Deutschland und Israel sollten ihre Zusammen- arbeit in Bezug auf moderne Verteidigungssysteme, Cybersicherheit, Künstliche Intelligenz und Biotechnologie vertiefen. Gemeinsame Forschung und Entwicklung in diesen Bereichen könnten die Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit beider Länder verbessern.
Strategische Koordinierung: Erforderlich ist auch, dass Deutschland und Israel ihren Dialog in politischen, wirtschaftlichen, verteidigungspolitischen und regionalen Fragen verbessern und ausweiten. Dies würde nicht nur das gegenseitige Verständnis und die Kooperation verbessern, sondern beide Nationen auch in die Lage versetzen, gemeinsamen Bedrohungen effektiver zu begegnen, die Zusammenarbeit zu fördern und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen zu verbessern.
Bekämpfung des Antisemitismus: Deutschland sollte eine führende Rolle bei der Bekämpfung des wachsenden Antisemitismus in Europa übernehmen. Dazu sollte es sich für strengere Strafen für Hassverbrechen und für Bildungsinitiativen und Aufklärungskampagnen einsetzen.
Eine neue Rolle für Deutschland
Deutschland steht an einem historischen Scheideweg. Es kann seine Rolle im Nahen Osten neu bestimmen, wenn es der iranischen Bedrohung entgegentritt, Erdoğans Ambitionen zurückdrängt, sich konstruktiv in der Palästinenser-Frage engagiert und Partnerschaften im Rahmen der Abraham-Abkommen fördert. Diese Maßnahmen würden nicht nur das Ansehen Deutschlands in der Welt erhöhen, sondern auch zu der Schaffung einer stabileren, wohlhabenderen und friedlicheren Region beitragen.
Israel ist Deutschlands engster Verbündeter in der Region, und Deutschland ist Israels engster Verbündeter in Europa. Wie diese beiden Länder ihre Beziehungen nach dem Krieg ausgestalten, entscheidet darüber, ob sie neue Wege im Umgang miteinander und bei der künftigen Gestaltung der Region beschreiten können.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 43-47