Zukunft statt Vergangenheit
Die Benes-Dekrete und das deutsch-tschechische Verhältnis
Warum stehen die Benes-Dekrete aus den Jahren 1945/46 heute immer noch auf der Tagesordnung der deutsch-tschechischen Beziehungen? Warum gestaltet sich dieses Nachbarschaftsverhältnis im Vorfeld des tschechischen EU-Beitritts so kompliziert? Der Autor erläutert die schwierige Frage der Vergangenheitsbewältigung und fordert neue Wege der Annäherung.
Sind es die Auswirkungen des Wahlkampfs in Tschechien und Deutschland, dass die Vergangenheit wieder so massiv auf der politischen Tagesordnung steht? Warum schiebt sich die Debatte um die Benes-Dekrete in den Vordergrund der deutsch-tschechischen Beziehungen? Es erscheint merkwürdig, dass bis heute von Tschechen und Deutschen auf diese historischen Aspekte weitaus häufiger hingewiesen wird als auf die positiven Ansätze in den letzten Jahren, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Gemeinsame Erklärung von 1997 – das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarvölkern gilt nach wie vor als problematisch.
Die Selbsteinschätzung der Tschechen geht von der Vorkriegs-Tschechoslowakei aus, dem letzten demokratischen Staat in Mitteleuropa. Er wurde Opfer der Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands und gewann Bedeutung erst wieder durch die Rolle, die sein Präsident Eduard Benes im Londoner Exil spielte. Dieser Staat handelte nach dem Krieg als eine Siegermacht. Doch bis heute spielt die damals empfundene Unsicherheit bezüglich des Status dieser Siegermacht eine fatale Rolle.
Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Geschichte anders dar, als man in Deutschland annimmt. Als Beispiel sei die Frage genannt, wann der Zweite Weltkrieg eigentlich begonnen hat. Manche Historiker datieren seinen Beginn auf den 3. September 1939, als Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärten; der deutsche Überfall auf Polen erfolgte jedoch bereits am 1. September. Doch schon am 14./15. März des gleichen Jahres wurde die Rest-Tschechoslowakei von deutschen Truppen besetzt, und die Tschechen selbst haben das Gefühl, der Krieg habe schon am 29. September 1938 begonnen, als das Münchener Abkommen ohne ihre Beteiligung und gegen ihren Protest unterschrieben wurde.
Heute wird das Denken und Handeln tschechischer Politiker teilweise immer noch von der Nachkriegsgeschichte und durch die Auswirkungen der Dekrete des Präsidenten Benes aus den Jahren 1945 und 1946 bestimmt, mit denen die Vertreibung der Sudetendeutschen möglich wurde. Zwar wurde in Tschechien heftig über deren Beibehaltung oder Aufhebung diskutiert, doch im April 2002 sprach sich das Parlament einstimmig für deren Beibehaltung aus.
Es ist eher diese Unsicherheit bezüglich einer Welt, die in eine andere Richtung zu blicken scheint, die ausschlaggebend für die Politik ist. Hinzu kommt, dass die kommunistische Periode in der Geschichte der Tschechoslowakei Meinungsfreiheit und pluralistische Diskussion unterdrückte. Heute beruht die öffentliche Meinung auf einer verlogenen Geschichte der kommunistischen Sieger. „Frühe Stimmen der Vernunft“, wie die tschechischen Gegner der Vertreibung der Deutschen in den Jahren 1945 bis 1947 einmal genannt wurden, sind heute in Prag praktisch unbekannt.
Asymmetrien
Auch die Einstellung der Deutschen ist durch die Asymmetrie des beiderseitigen Verhältnisses belastet. Nicht erst in den neunziger Jahren vertiefte sich das bilaterale Ungleichgewicht, auf der einen Seite mit dem Zerfall der Tschechoslowakei und auf der anderen mit der Vereinigung Deutschlands.
Für Reinhard Heydrich, den berüchtigten deutschen Reichsprotektor von Böhmen und Mähren in den Jahren 1941/42, war die tschechische Frage damals lediglich eine Art Flurbereinigung. Dreißig Jahre später haben Willy Brandt und Egon Bahr sich mit ihrer Ostpolitik vorzugsweise an die Sowjetunion gewandt, in geringerem Ausmaß auch an Polen. Die Tschechoslowakei rangierte weit hinten, obwohl sie durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im Jahr 1968 eindeutig ein Opfer der Geschichte war. Doch sie war zu klein, um die große Friedensperspektive zu stören; Kniefälle und Umarmungen fanden anderswo statt. Auch die Forderung nach der Einheit Deutschlands durch die „Charta 77“ und diesbezügliche Äußerungen des damaligen Außenministers Jiri Dienstbier im Jahr 1989 haben keine Zuwendung des großen Nachbarn hervorgerufen.
Noch 1993 sah sich Helmut Schmidt als Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit nicht in der Lage, tschechischen Intellektuellen, die unter großen finanziellen Opfern eine wichtige Zeitschrift herausgaben, für ein Jahr ein Gratisabonnement zur Verfügung zu stellen. Kurze Zeit später investierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl Millionen in die deutsch-polnische Begegnungsstätte in Kreisau. Die tschechische Redaktion der Deutschen Welle wurde Ende 1998 mit Argumenten aufgelöst, die auch für die polnische Redaktion gültig gewesen wären – letztere blieb jedoch bestehen; derweil sicherte sich die britische BBC in Prag eine Hörfunklizenz bis zum Jahr 2012 – mehr Überheblichkeit ist kaum vorstellbar.
Selbst wenn heute jemand in Deutschland zu den tschechischen Nachbarn lediglich freundlich sein will, trifft er aus Mangel an Wissen in der Regel nicht den richtigen Ton. „Wer erklärt ihnen, dass wir von ihnen nicht gleich geliebt werden wollen?“ fragte ein Berater der tschechischen politischen Führung in den frühen neunziger Jahren sarkastisch nach einem Auftritt der grünen Bundestags-Vizepräsidentin, Antje Vollmer. Natürlich war kein Deutscher zugegen – beide Seiten bilden sich ihr Bild vom Anderen allein und brauchen die Wirklichkeit nicht.
Die Geschichte wirkt jedoch noch bis in die unmittelbare Gegenwart. Die vertriebenen Böhmen und Mährer deutscher Zunge besitzen ein Druckmittel: die Sudetendeutschen sind in Deutschland Wähler. So kamen gewissermaßen zwangsläufig die umstrittenen Benes-Dekreteins Spiel. Besondere Schärfe erhielt die Auseinandersetzung noch in jüngerer Zeit durch eine Reihe prononcierter Äußerungen führender tschechischer Politiker überdie Rolle der Sudetendeutschen (so äußerte der damalige Ministerpräsident Milos Zeman, die Sudetendeutschen seien die „Fünfte Kolonne“ bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei gewesen und ihre Vertreibung, so der neue Ministerpräsident Vladimír Öpidla, eine „Quelle des Friedens“).
Derartige Äußerungen wurden in Deutschland als unangemessen betrachtet und führten zu Verstimmungen zwischen Prag und Berlin; Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte sogar einen geplanten Besuch im Frühjahr 2002 in Prag ab. Hingegen hat der Ausdruck von Bedauern gegenüber den Vertriebenen, ausgesprochen vom Präsidenten Václav Havel gleich nach seinem ersten Amtsantritt, keine Akzeptanz zu Hause gefunden. Die Frage, wer sich wann entschuldigt hatte und wem eine Entschuldigung gebührt, ist für beide Seiten immer noch wichtig.
Hindernis für den EU-Beitritt?
Manche Völkerrechtler sind der Auffassung, die Vertriebenen hätten ihre Rechte, u.a. ihre Besitzansprüche, keinesfalls verloren; andere sehen in der Nachkriegsentwicklung in der Tschechoslowakei zahlreiche legal nicht zu beanstandende Aspekte, die aber dem Historiker und den Betroffenen – den Sudetendeutschen – keineswegs als geschichtlich gerechte Ereignisse erscheinen müssen. Zumal sind die rechtlichen Schritte eines und die viel weiter gehende Realtiät anderes. Ein für den EU-Beitritt der Tschechischen Republik wichtiges Gutachten zu den Beneö-Dekreten im Vorfeld des tschechischen EU-Beitritts wurde vom Europäischen Parlament im Sommer 2002 in Auftrag gegeben; das Ergebnis soll im September vorliegen.
Die wesentliche Frage lautet, ob die Benes-Dekrete auch heute noch als gültige Normen anzusehen sind, die selbst jetzt, an der Schwelle des Beitritts zur Europäischen Union, Wirksamkeit besitzen. Dies würde dem Diskriminierungsverbot widersprechen und ein Hindernis für die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik darstellen.
Tatsächlich sind in einigen der Dekrete Verräter, Kollaborateure, Deutsche und Ungarn in einem Atemzug genannt worden, eine ethnische Definition der Betroffenen steht neben einer strafrechtlich relevanten. Zugleich wird aber in einem Dekret (Nr. 5) auch die Rücknahme der von den Nationalsozialisten vorgenommenen „Arisierungen“ verfügt.
Die Dekrete sind also keine eindeutig klassifizierbaren Texte. Die meisten Experten sind sich einig, dass einige Dekrete einmalig wirkende Normen waren, die zwar viele moralisch zweifelhafte Auswirkungen hatten, letztlich aber legal waren und die neue Rechtsordnung begründeten. Sie entsprachen der damaligen Handlungsweise vieler Staaten und wurden durch die Haltung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sanktioniert. Heute wird auf ihre damaligen Auswirkungen hingewiesen, aber nicht mehr nach ihnen geurteilt. Sollte auch das Europäische Parlament zu diesem Schluss kommen, wären die Dekrete kein Hindernis für einen Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union.
Dennoch sind die Beneö-Dekrete keine angenehme Lektüre; ihre Bewertung im Kontext der Machtpolitik Josef Stalins macht sie für jene, die keine Nutznießer dieser Entwicklung waren, noch unangenehmer. Neben die nüchterne Bewertung der Juristen muss deshalb eine weitgehend akzeptierte moralische und geschichtliche Interpretation treten, die differenziert sein sollte und zunehmend gemeinsame deutsch-tschechische Aspekte enthalten müsste. Pauschalurteile werden der Entwicklung in Mitteleuropa nicht mehr gerecht.
Schließlich muss auch die europäische Sicht aufgearbeitet werden. Man kann heute mit den Worten Winston Churchills aus der Kriegszeit sowohl für den „Abschub“ argumentieren, als auch mit seinen Reden aus den späten vierziger Jahren die „Vertreibung“ kritisieren. Diese Aufarbeitung sollte es ermöglichen, die Nachkriegsereignisse in der Tschechoslowakei als ungerecht (moralisch), legal, aber vollzogen (juristisch) und einmalig (politisch) zu sehen und aus ihnen Lehren für die gegenwärtigen Probleme Europas zu ziehen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Weg in die Normalität
Der künftige Leser eines Lehrbuchs der europäischen Geschichte wird die Fakten zur Kenntnis nehmen und einige gewiss wieder vergessen. Er wird jedoch das Bild einer Vergangenheit in Erinnerung behalten, die bis heute schmerzlich ist. Politisch gewollte Vereinfachungen mit ihrem allgegenwärtigen Unterton („Wir sind im Recht“), die in den Diskussionsbeiträgen beider Seiten vorherrschen, werden demhistorischen Laien, gleich auf welcher Seite der Grenze, leider eher im Gedächtnis bleiben. Er könnte zu der Erkenntnis kommen, dass diese Beiträge peinlich bemüht sind, alte und bequeme Positionen zu stützen; er könnte dann sagen: „Nicht mit mir.“
Doch eine derartige Veränderung der öffentlichen Meinung kann nicht vom gegenwärtigen Stand des Wissens vom Gegenüber ausgehen. Es müssen noch viele Wege gesucht werden und es muss noch viel Geduld aufgebracht werden; Tourismus und Jugendaustausch könnten ein Anfang sein. Und nicht zuletzt: Medien und Lehrbücher müssen diesem Thema mehr Platz einräumen, um die Nachbarschaft zwischen Tschechen und Deutschen zu einer Normalität zu machen, die für Wahlkämpfe ungeeignet ist.
Internationale Politik 9, September 2002, S. 29 - 32.