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01. März 2019

Zu viel versprochen?

Die Wahrheitskommission in Tunesien hat Verbrechen der Vergangenheit aufgearbeitet. Doch für eine bessere Zukunft reicht das noch nicht

Nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes 2011 hatte Tunesien zügig damit begonnen, die repressive, von Gewalt geprägte Vergangenheit aufzuarbeiten: zunächst mit Maßnahmen, die sich auf bestehende Gesetzgebung und Institutionen stützten wie Untersuchungs- und Reformkommissionen, die noch von Ben Ali eingesetzt wurden, und Verfahren vor Militärgerichten, in denen sich der Präsident und andere hochrangige Mitglieder des Regimes für Tötungen und Verletzungen von Demonstranten während der Revolution verantworten mussten. Anschließend wurde dann ein strukturierter Aufarbeitungsprozesses geplant und durchgeführt.

Mit internationaler Unterstützung und einem landesweiten Konsultationsprozess wurde von einem Komitee aus Vertretern der Zivilgesellschaft und des Ministeriums für Menschenrechte und Transitional Justice ein umfassendes ­Gesetz entwickelt. Dieses Transitional-Justice-­Gesetz wurde vom Parlament verabschiedet und sah die Schaffung einer Wahrheitskommission, eines Reparationsfonds und von Spezialkammern im Justizsystem vor.

Die zentrale Institution dieses Aufarbeitungsprozesses war die Kommission für Wahrheit und Würde, deren Mitglieder im Mai 2014 nominiert wurden und die bis Ende 2018 tätig war. Das Mandat dieser Kommission war breit angelegt und äußerst ambitioniert: Die Aufarbeitung setzte im Jahr 1955 an, in der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe, und umfasste die Herrschaft des ersten Staatspräsidenten Habib Bourguiba und seines Nachfolgers Zine el-Abidine Ben Ali. Tunesiens Vergangenheit war geprägt von Repression, Menschenrechtsverletzungen, sozioökonomischer Marginalisierung und Nepotismus. Deshalb war das Transitional-­Justice-Gesetz darauf angelegt, nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Verbrechen aufzuarbeiten. Dieser innovative Anspruch macht den tunesischen Prozess zu etwas ganz Besonderem.

Im Einklang mit internationalen Prinzipien ging das ambitionierte Vorhaben in Tunesien mit dem Versprechen einher, die Wahrheit über Gräueltaten autoritärer Herrschaft herauszufinden, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, Entschädigung für die Opfer bereitzustellen und dafür zu sorgen, dass sich die Verbrechen der Vergangenheit nicht wiederholen. Das breite Mandat passt zwar gut zu all den Problemen und Konflikten in Tunesien, aber schon zu Beginn des Aufarbeitungsprozesses wurden Zweifel an der Umsetzbarkeit laut. Sie wiesen auf die Gefahr hin, dass die neuen Institutionen in dem angespannten politischen Klima überfordert sein könnten. Am Ende würde die Wahrheitskommission doch nur „kleine Maßnahmen für große Probleme“ anbieten, sagte ein Anwalt, der die Kommission häufig öffentlich kritisierte, im Interview. An dieser Überfrachtung seien internationale Berater nicht unschuldig, so ein weiterer Interviewpartner, da jede Organisation versucht habe, ihr Lieblingsthema in dem Mandat unterzubringen.

In den vergangenen Jahren änderten sich die politischen Machtverhältnisse in Tunesien ständig, was sich natürlich auch auf den Transitional-­Justice-Prozess auswirkte. Da Vergangenheitsaufarbeitung immer politisch, also von Interessen und Wertekonflikten geprägt ist, konnte der sorgfältig geplante Prozess nicht so einfach Schritt für Schritt umgesetzt werden. Er galt als wichtiges Projekt der Ennahda-Partei, die die ersten freien Wahlen 2011 gewonnen hatte und unter deren Wählern viele Opfer von Menschenrechtsverletzungen und sozio­ökonomischer Marginalisierung sind. Aus den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2014 ging dann aber die Partei Nidaa Tounes als Siegerin hervor, die viele Mitglieder des alten ­Regimes in ihren Reihen hat.

Schon zu Beginn des Aufarbeitungsprozesses hatten Gesprächspartner aus Politik und Zivilgesellschaft ihre Bedenken geäußert, dass die Revolution nur oberflächlich erfolgt sei und die tieferen Strukturen des autoritären Systems immer noch intakt wären: „Der Sturz Ben Alis war nur der Fall des Kopfes des korrupten Regimes. Das war nicht das Ende des gesamten Regimes, es existiert immer noch.“ Mit dem Machtwechsel verlor der Aufarbeitungsprozess an politischer Priorität, die Wahrheitskommission war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge.

Fehlende Kooperationsbereitschaft

Die Mitglieder der Wahrheitskommission beschwerten sich über mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der Politiker und der Regierung, über verspätete Budgetzahlungen und darüber, dass die Posten ausgeschiedener Kommissare nicht vom Parlament nachbesetzt wurden. Hingegen sahen manche Gesprächspartner die Kommission in der Pflicht, ihren Aufgaben „besser und schneller“ nachzukommen.

Es wurde versucht, die Arbeit der Kommission zu torpedieren. Der Staatspräsident brachte beispielsweise einen Vorschlag für ein konkurrierendes „Gesetz zur nationalen Versöhnung“ ein, der in seiner ursprünglichen Form die Kompetenzen der Wahrheitskommission im Bereich Korruption und Veruntreuung stark beschnitten hätte. Auch dank zivilgesellschaftlicher Mobilisierung scheiterte die Verabschiedung des ­Entwurfs im Parlament mehrfach – es wurde schließlich nur ein Gesetz in stark eingeschränkter Form verabschiedet. Da das Gesetz eine persönliche Initiative des Präsidenten war, sei es zur Demonstration seiner Autorität aber nötig gewesen, dass zumindest irgendeine Version verabschiedet wurde, so eine Parlamentarierin der konkurrierenden Ennahda-Partei.

Selbst die Mitglieder der Wahrheitskommission, die laut Gesetz durch Neutralität, Integrität und Kompetenz qualifiziert sein sollten, konnten diese Erwartungen nicht immer erfüllen. Innerhalb der Wahrheitskommission gab es Auseinandersetzungen um Posten, Arbeitsabläufe und inhaltliche Prioritäten, die die Kommission nach außen hin zerstritten wirken ließen. Außerdem wurden immer wieder Zweifel an der Integrität der Vorsitzenden geäußert. „Sie ist nicht Desmond Tutu“, kommentierte eine ­Parlamentarierin, dass Sihem Ben Sedrine nicht die versöhnende Kraft und Integrität des ehemaligen Vorsitzenden der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission besitze, sondern eher polarisiere.

Zieht man eine vorläufige Bilanz des tunesischen Transitional-­Justice-Prozesses, so fällt diese gemischt aus. In jedem Fall hat die Arbeit der Wahrheitskommission dazu beigetragen, Menschenrechtsverletzungen und Gewaltstrukturen aufzudecken. Ab Ende 2014 hatte die tunesische Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Akten bei der Wahrheitskommission einzureichen, um sich als Opfer registrieren zu lassen. Insgesamt wurden über 60 000 Akten eingereicht. Wenn die Akte zugelassen wurde, weil der Fall in das Mandat der Wahrheitskommission fiel (was bei einem Großteil der Fall war), dann hatte das Opfer in einer geschlossenen ­Anhörung die ­Möglichkeit, Zeugnis abzulegen; anschließend wurde die Aussage geprüft, ob sie plausibel war. Dieses ­Anhörungs- und Prüfverfahren sollte jedem potenziellen Opfer zur Verfügung stehen und auch die Grundlage für spätere Reparationsentscheidungen bilden. Bis zum Auslaufen des Mandats konnten allerdings nicht alle Anhörungen durchgeführt werden: Über 13 000 Opfer hatten nicht die Möglichkeit, ihre Aussage zu ­machen.

Parallel dazu führte die Kommission Arbitrage-Verfahren im Bereich der Wirtschaftsverbrechen durch – ein Mechanismus, der für Menschenrechtsverletzungen nicht vorgesehen war. Diese Verfahren zielten auf ein Abkommen zwischen dem Staat und Personen ab, gegen die wegen Wirtschaftsverbrechen ein Strafverfahren lief. Die Abkommen verlangten ein Schuldeingeständnis und die Zahlung einer Entschädigung, gingen dafür aber mit der Einstellung der Strafverfahren einher. Hier schaffte es die Kommission, einige öffentlichkeitswirksame Abkommen zu schließen.

Nach mehrmaligem Aufschub fanden schließlich im November 2016 die ersten von insgesamt 14 öffentlichen Anhörungen der Wahrheitskommission statt. Bei diesen Anhörungen, die landesweit zur besten Sendezeit im Fernsehen übertragen wurden, berichteten Opfer und Angehörige von Tod, Folter und Verschwundenen. Gerade die ersten Anhörungen bekamen viel Aufmerksamkeit und haben so dazu beigetragen, die Arbeit der Wahrheitskommission sichtbarer zu machen, die zuvor weitgehend hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatten. Indem eine breitere Öffentlichkeit mit Details der Verbrechen der Diktatur konfrontiert wurde, konnte auch das Verständnis für Transitional Justice gestärkt werden.

Im Mai 2018 nahmen die Spezialkammern im tunesischen Justizsystem die Arbeit an den ersten Fällen auf, die ihnen von der Wahrheitskommission überwiesen wurden. Die Kammern entsprechen einem strafrechtlichen Gericht erster Instanz und haben die Möglichkeit, auch Fälle noch einmal zu verhandeln, die in der Vergangenheit bereits entschieden wurden. Die Justiz hat allerdings damit zu kämpfen, dass die Angeklagten nicht kooperieren und trotz gerichtlicher Vorladung zum großen Teil nicht erscheinen. Hier bleibt abzuwarten, inwieweit die Kammern es schaffen, die Verfahren abzuhalten, und ob potenzielle Urteile vollzogen werden.

Die Wahrheitsfindung vorantreiben

Nach Ablauf ihres Mandats begann die Wahrheitskommission im Januar 2019 mit der Bekanntgabe von Entschädigungen. Als erste erhielten 15 Widerstandskämpfer gegen den Kolonialismus eine solche Entscheidung. Der Reparationsprozess muss jetzt allerdings fortgesetzt und von einer geringen Anzahl verbleibender Mitarbeiter bewältigt werden. Anschließend wird die Wahrheitskommission ihr gesammeltes Material an die nationalen Archive übergeben. Es bleibt zu hoffen, dass die Akten und Zeugnisse dort in guten Händen sind, unabhängig davon, wer in den nächsten Jahren an der Macht sein wird. Denn die Opfer, die ihre persönlichen Erlebnisse und Verletzungen der Wahrheitskommission mitgeteilt und dabei gegebenenfalls auch Täter benannt haben, haben sich darauf verlassen, dass dies im Vertrauen geschehen ist.

Den Teil ihres Mandats, der in die Vergangenheit blickt, hat die Wahrheitskommission also mit Einschränkungen erfüllt. Sie hat es geschafft, die Wahrheitsfindung entscheidend voranzutreiben und die Verbrechen des alten Regimes einer großen Öffentlichkeit vor Augen zu führen. Für manche Opfer wird die Anerkennung ihrer Verletzungen symbolisch wichtig sein, anderen wird die Entschädigung ein bisschen weiterhelfen.

Doch den Teil des Mandats, der in die Zukunft weist, hat die Kommission kaum erfüllt. Hierbei sollten die Gewaltstrukturen nicht nur offengelegt, sondern es sollte auch dazu beigetragen werden, sie zu demontieren – um zu verhindern, dass das alte Regime wieder an Macht gewinnt und sich die Gräueltaten wiederholen. Acht Jahre nach der Revolution kämpft die tunesische Zivilgesellschaft immer noch gegen Straflosigkeit und nepotistische Strukturen. Die Wahrheitskommission hat es zwar geschafft, diese Strukturen teilweise freizulegen. Bisher gibt es aber von staatlicher Seite keine Bemühungen, sie zu demontieren. Menschenrechtsverletzungen wie Folter sind immer noch weit verbreitet. Hier wird eine Kultur der Straffreiheit aufrechterhalten, indem die Sicherheitskräfte sich massiv dagegen zur Wehr setzen, dass sich ihre Mitglieder vor Gericht verantworten müssen.

Zur Abschlusskonferenz der Wahr-­heitskommission Mitte Dezember 2018 erschien kein Vertreter der Regierung. Die Kommission stellte ihren Abschlussbericht vor und leitete ihn an den Parlaments­präsidenten sowie Staats- und Regierungschef weiter. Bis Redaktionsschluss hat sie ihn aber nicht veröffentlicht. Auch wenn man andere Fälle betrachtet, in denen Wahrheitskommissionen eingesetzt wurden, muss man leider feststellen, dass die Abschlussberichte nicht weiterverbreitet wurden und nicht im öffentlichen Bewusstsein geblieben sind. So ist der Abschlussbericht der kenianischen Wahrheitskommission online nur über die Website des einzigen amerikanischen Mitglieds abrufbar. Eine Ausnahme bildet Argentinien mit dem Bestseller „Nunca Más“.

Wichtig ist nun, dass die Ergebnisse und Empfehlungen der tunesischen Kommission für Wahrheit und Würde nicht in der Versenkung verschwinden, sondern öffentlich gemacht und verbreitet werden. Nur so kann gesichert werden, dass diese Arbeit eine nachhaltige Wirkung entfaltet.

Ende 2019 finden in Tunesien Wahlen statt. Von den Machtverhältnissen wird dann abhängen, ob es den politischen Willen gibt, den Aufarbeitungsprozess weiterzuführen und die Empfehlungen der Wahrheitskommission umzusetzen. Daran wird sich entscheiden, ob der Transitional-­Justice-Prozess es lediglich geschafft hat, Einblicke in die Vergangenheit zu gewähren und Gewaltstrukturen offenzulegen – oder ob er auch zu nachhaltigen strukturellen Veränderungen beitragen kann.

Dr. Mariam Salehi ist Postdoctoral ­Research Fellow am Zentrum für Konflikt­forschung der Uni­versität Marburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 104-108

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