Zu kurz gesprungen
Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstüberschätzung und Wegducken
Dass neue Macht mit neuer Verantwortung einherzugehen habe, ist eine Erkenntnis, die in einer neuen Studie von GMF und SWP schon in der Überschrift anklingt. Wenn die Bundesregierung vor allem auf Kontinuität setzt, ist das zu wenig: Berlins Außenpolitik muss sich neu aufstellen, wenn sie die anstehenden Aufgaben in der Welt meistern will.
Deutschland wird von anderen als „Gestaltungsmacht“ in Europa und in der Weltpolitik wahrgenommen, und auch die Berliner Republik selbst scheint geneigt, sich diese Einschätzung zu eigen zu machen. Mit Recht?
Nur bedingt. Deutschland ist, erstens, keineswegs so mächtig, wie das häufig im In- und Ausland gesehen wird; vor allem ist seine Macht – hier verstanden im Sinne von Durchsetzungs- und Gestaltungsfähigkeit – fragil, weil an zahlreiche Voraussetzungen gebunden. Ob Deutschland tatsächlich mehr Macht hat, hängt sehr vom Kontext ab und davon, ob Berlin diese Macht klug einsetzt.
Die außenpolitische Verantwortung der Bundesregierung besteht, zweitens, schlicht darin, das Gemeinwohl der deutschen Bevölkerung auf Dauer zu wahren und, wo möglich, zu mehren. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Immerhin hilft es aber, gängige Missverständnisse über Außenpolitik auszuräumen – etwa die irrige Vorstellung, es gehe in der Außenpolitik um die Abwägung von „Interessen“ gegen „Werte“, oder den Vorwurf, Deutschland tue nicht genug für EU, NATO oder Vereinte Nationen.
Dem Zugriff der Politik entzogen
„Macht“ ist, politikwissenschaftlich gesprochen, stets „relational“, also immer in Beziehung zu anderen Akteuren zu setzen. Ihre Grundlage sind Machtressourcen, die in konkreten Entscheidungssituationen zum Einsatz gebracht werden müssen. Die Frage ist dann: Geschieht dies effektiv oder nicht? Effizient oder verschwenderisch? Nachhaltig oder kurzatmig? Während all dies wesentlich von der Außenpolitik selbst abhängt, gibt es natürlich auch Rahmenbedingungen, die dem Zugriff der Politik und ihren Gestaltungsmöglichkeiten ganz oder doch weitgehend entzogen sind.
So beruht die Einschätzung, Deutschland habe international an Macht gewonnen, vor allem auf seinen wirtschaftlichen Machtressourcen. 2010 war Deutschland mit 3281 Milliarden Dollar die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, hinter Japan (5459 Milliarden), China (5927 Milliarden) und den USA (14 587 Milliarden). Beim Außenhandelsvolumen wie auch beim Export lag Deutschland 2010 auf Platz 3; sein Anteil am Weltexport betrug 8,5 Prozent (gegenüber 10,3 Prozent 1993 und der Höchstmarke von 11,7 Prozent 1973).
Nun geht es bei der Wirtschaftskraft vornehmlich um Mittel, über die nicht der Staat, sondern private Unternehmen verfügen. Unmittelbar für außenpolitische Zwecke verfügbar sind lediglich die finanziellen Ressourcen des Auswärtigen Amtes, des BMZ und des Verteidigungsministeriums; darüber hinaus kann der Staat das Verhalten privater Wirtschaftsakteure über seine Regelungskompetenz in gewissem Umfang beeinflussen, etwa, indem er Wirtschaftssanktionen gegen andere Staaten verhängt. Die Wirtschaftsressourcen eines Landes sind daher bestenfalls teilweise und mit erheblichen Nebeneffekten verbunden außenpolitisch instrumentalisierbar; die dadurch erreichbare Gestaltungsfähigkeit sollte deshalb nicht überschätzt werden.
Umgekehrt wird das Gestaltungspotenzial, das auf „weichen“ Machtquellen beruht, unterschätzt. Dazu zählen Vorbildfunktion, die Stärke von Argumenten, aber auch die Wahrnehmung durch andere. Deutschlands Einfluss in Europa und in der Weltwirtschaft fußt vor allem auf solchen „weichen“ Grundlagen. Das Land steht für ein erfolgreiches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell (soziale Marktwirtschaft), dessen Institutionen (wie eine unabhängige Zentralbank oder das duale Ausbildungssystem) von anderen Ländern studiert und übernommen werden. Daraus resultieren Einflussmöglichkeiten.
Allerdings haben diese „weichen“ Gestaltungspotenziale einen Haken: Sie beinhalten nämlich auch die Verpflichtung, den eigenen Maßstäben gerecht zu werden und sich von anderen da beeinflussen zu lassen, wo sie über die besseren Argumente und überlegene Modelle verfügen. Dass die „weichen“ Machtquellen Deutschlands in der Vergangenheit nicht sonderlich wirkungsvoll waren, erklärt sich u.a. durch Versäumnisse der deutschen Politik: Der Maastrichter Vertrag und der Stabilitäts- und Wachstumspakt etwa formulieren seit 1993 Konvergenzkriterien, mit denen sich alle Mitgliedstaaten der Euro-Zone auf Kernelemente des deutschen Wirtschaftsmodells verpflichteten. Diese Verpflichtungen wurden danach aber nur allzu gern ignoriert, wobei Frankreich und Deutschland mit schlechtem Beispiel vorangingen.
Schließlich lohnt es, einen Blick darauf zu werfen, welche wirtschaftlichen Ressourcen es sind, die die Grundlagen für Einflussnahme liefern. Denn diese Ressourcen entstehen heute in hohem Maße im Kontext internationaler Arbeitsteilung. Damit sind sie durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägt. Deutschland ist sogar in besonderem Maße in derartige weltwirtschaftliche Interdependenzen eingebettet. Asymmetrische wechselseitige Abhängigkeiten, wie sie sich in diesen Interdependenzen auch finden, lassen sich zwar unter bestimmten Umständen politisch instrumentalisieren, etwa durch Sanktionen. Jedoch entstehen durch politische Eingriffe in die Interdependenzgeflechte im Zweifel neue Probleme und Kosten.
Und wie steht es um Deutschlands sonstige Machtpotenziale? Gemessen an seiner Bevölkerungszahl lag Deutschland 2010 im Weltmaßstab auf Rang 16, hinter den Philippinen, Vietnam, Äthiopien und Ägypten; 2025 dürfte es vom Kongo, von der Türkei und dem Iran überholt werden und auf Platz 19 zurückfallen. 2010 betrug Deutschlands Anteil an der Weltbevölkerung 1,18 Prozent, bis 2025 dürfte er auf 0,98 Prozent sinken. Auch ein Blick auf die Militärausgaben im Vergleich zu denen anderer Staaten zeigt eine deutliche Abnahme der deutschen Machtposition. Die Entwicklung der Personalstärke der Bundeswehr, die seit 1990 deutlich unter die in den Zwei-plus-Vier-Verträgen festgelegte Obergrenze von 370 000 gefallen ist und 2012 etwa 236 000 Soldaten und Reservisten umfasste, weist in dieselbe Richtung.
Über Macht im Sinne von Durchsetzungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit verfügt Deutschland also global nur in sehr begrenztem Umfang. In Europa und insbesondere der Euro-Zone sieht das anders aus, aber auch hier wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Zwar dominiert Deutschland seit Ausbruch der Krise die Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber es ist eingebunden in wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den europäischen Volkswirtschaften und in die Entscheidungsregeln der EU. Deutschlands Abhängigkeit von den schwächeren Euro-Zonen-Volkswirtschaften zeigte sich etwa daran, wie stark in der ersten Phase der Krise die Handlungsmöglichkeiten Berlins dadurch eingeengt waren, dass Deutschlands Banken über erhebliche Bestände an Wertpapieren aus Krisenländern verfügten.
Inzwischen bemüht sich Deutschland, die Konvergenz in der Euro-Zone mit Hilfe neuer europäischer Regeln durchzusetzen. Dabei vertraut Berlin zum einen auf seine eigenen finanziellen Druckmittel, zum anderen hofft man, dass die internationalen Finanzmärkte reformunwillige Staaten mittels hoher Zinsaufschläge unter Druck setzen. Allerdings ist das, was diese Märkte wollen und erwarten, situationsabhängig und keineswegs immer rational vorhersehbar. Ob Deutschland sich auch gegen die Märkte durchsetzen könnte, ist eine offene Frage. Und selbst wenn: Die innenpolitischen Widerstände und das Beharrungsvermögen der etablierten gesellschaftlichen Kräfte in Griechenland, Italien und Frankreich könnten sich letztlich als zu hohe Hürden auf dem Weg zu einer Stabilitätsunion erweisen.
Ob Deutschland heute tatsächlich über mehr Gestaltungsmacht verfügt als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, ist also keineswegs ausgemacht. Plausibel erscheint eher das Gegenteil, dass nämlich Deutschland – jedenfalls aus einer globalen Perspektive – an Macht eingebüßt hat, und das sogar deutlich. Allerdings ließe sich auch eine derartige Einbuße kompensieren. Worauf es letztlich ankommt, ist ein kluger Einsatz der verfügbaren Machtpotenziale. Dabei kann Deutschland heute nach wie vor von der alten Bundesrepublik lernen. Eines ihrer Erfolgsgeheimnisse war die Fähigkeit, Koalitionen mit anderen Staaten, etwa mit den USA, mit Frankreich oder auch den kleineren Mitgliedstaaten der damaligen EG, zu schmieden und den Einfluss der Bundesrepublik zu multiplizieren, indem sie ihre Außenpolitik multilateralisierte.
Schillernde Formel
Die Formel von der „Verantwortung“, die in der deutschen Außenpolitik seit spätestens 1990 eine zentrale, aber auch sehr schillernde Rolle spielt, ist vieldeutig: Sie eignet sich ebenso dafür, eigene Machtansprüche zu kaschieren, wie Leistungen Deutschlands einzufordern. In der Tat trägt Deutschland zunächst einmal und vor allem Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern. Doch weil Deutschland aufgrund seiner Lage, seiner Geschichte und seiner Wirtschaftsstruktur in besonderem Maße auf gute Nachbarschaft und eine effektive internationale Ordnung angewiesen ist, muss es das Gemeinwohl seiner Nachbarn und Partner berücksichtigen und einbeziehen.
Mit dem Ruf nach mehr deutscher Verantwortung in der Weltpolitik wird häufig eine stärkere Beteiligung Deutschlands an den gemeinsamen militärischen Aktivitäten von EU und NATO gefordert. Dass aber militärische Mittel zwangsläufig da Erfolg haben müssen, wo andere Instrumente der Politik versagt haben, ist ein gefährlicher Trugschluss. Deutschlands historisch geprägte Skepsis gegenüber den Möglichkeiten militärischer Machtentfaltung ist durchaus angemessen, solange Berlin nicht in den umgekehrten Irrtum verfällt, den Einsatz militärischer Machtmittel prinzipiell und unter (fast) allen Umständen auszuschließen. Denn auch jenseits der Selbst- und Bündnisverteidigung können Militäreinsätze gerechtfertigt und wirksam sein. Dies beinhaltet allerdings eine Verantwortung für die Konfliktprävention und für die Konfliktnachsorge, wenn die Prävention gescheitert ist und eine Intervention beschlossen wird.
Wenn von den nationalen Interessen Deutschlands die Rede ist, dann werden häufig die eigenen Interessen gegen die anderer Länder gestellt oder „Interessen“ gegen „Werte“ ausgespielt. Beides ist logisch unhaltbar und politisch unsinnig. Denn in der internationalen Politik gehen die Gewinne des einen keinesfalls zwangsläufig auf Kosten des anderen, Nullsummenspiele sind eher die Ausnahme. Wir müssen uns also nicht zwischen Interessen und Werten entscheiden, sondern versuchen, Vereinbarkeit zwischen beidem herzustellen.
Hinzu kommt, dass „Interesse“ letztlich durch den Bezug auf Werte definiert wird: Man „interessiert“ sich für das, was für einen von Wert ist – gleichviel, ob es sich dabei um materielle oder immaterielle Werte handelt. Bei der Abwägung zwischen der angemessenen deutschen Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen durch das Putin-Regime und dem Werben um Exportaufträge aus Russland geht es nicht um einen Konflikt zwischen Interessen und Werten, sondern um einen zwischen verschiedenen Werten oder unterschiedlichen Interessen. Was ist Berlin in seinen Beziehungen zur russischen Regierung wertvoller – der Respekt für die eigenen Werte oder Arbeitsplätze in Deutschland? Und welche Interessen wiegen schwerer, Exportaufträge für deutsche Unternehmen oder eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in Russland?
Natürlich gehört es zu den Aufgaben der Außenpolitik, bei solchen Konflikten abzuwägen und Prioritäten zu setzen. Vor allem aber geht es in der Diplomatie darum, nach Wegen zu suchen, um derartig harten Alternativen zu entgehen. Es ist durchaus denkbar, dass die Alternative: Verbesserung der Menschenrechte in Russland oder Arbeitsplatzsicherung in Deutschland in Wirklichkeit gar keine Entscheidungsnotwendigkeit beinhaltet – dass sich beides durch kluge Strategien verbinden lässt, die sowohl zu Exportaufträgen als auch zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage führen.
In dem Maße, in dem neue Akteure in Weltwirtschaft und Weltpolitik an Gewicht gewinnen, werden Deutschlands weltpolitische Machtpotenziale kleiner, ebenso wie die Europas insgesamt. Zugleich wird Außenpolitik komplizierter, weil die Zahl der Mitspieler immer größer wird. Sie wird aber auch wichtiger, weil die internationale Ordnung, die bislang wesentliche Voraussetzungen für Deutschlands wirtschaftliche Erfolge und seine Sicherheit gewährleistete, durch Machtverschiebungs- und Machtdiffusionsprozesse unter Druck gerät und erodiert. Auch klügstes und effizientestes außenpolitisches Handelns ist nicht davor gefeit zu scheitern. Politische Gestaltung ist ganz ohne Risiko nicht zu haben – die deutsche Außenpolitik sollte in diesem Sinne mehr Initiative wagen.
Prof. Dr. Hanns W. Maull unterrichtete bis März 2013 Außenpolitik und internationale Beziehungen an der Universität Trier. Derzeit arbeitet er als Senior Distinguished Fellow
an der SWP.
Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 48 bis 52