Zeitenwende und zivile Krisenprävention
Ist die Idee eines Vorrangs der Vorsorge angesichts der Entwicklungen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gescheitert? Nein – aber wir müssen lernen, ihre Grenzen zu erkennen. Nicht nur der Fall Russland zeigt, dass wir über vieles neu nachdenken müssen, wenn wir die strukturellen Ursachen von Krisen und Konflikten überwinden wollen.
Also schrieb Angela Merkel: „Deutschland setzt vorrangig auf Krisenprävention … Krisenreaktion kann immer nur die zweitbeste Lösung sein.“ Sätze aus einer vergangenen Epoche? Fast scheint es so. Tatsächlich stammen sie aus dem September 2017, als die damalige Bundeskanzlerin ein Vorwort zu den „Leitlinien“ der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung beisteuerte. Überschrift der Strategie, die erstmals auf einer breiten gesellschaftlichen Debatte fußte und ebenfalls zum ersten Mal wirklich ressortübergreifend konzipiert war: „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“.
Inzwischen scheint die Vorrangigkeit von Krisenprävention vor der Krisenreaktion nach „Zeitenwende“ (Bundeskanzler Scholz) und „Epochenbruch“ (Bundespräsident Steinmeier) fast wie aus der Zeit gefallen. Einstmalige Gewissheiten über die Stabilität einer regelbasierten europäischen und internationalen Ordnung sind Ernüchterung und Sorge gewichen. Mehr noch, Wladimir Putins Russland stellt die Rechtmäßigkeit dieser Ordnung in Wort und Tat offen infrage und zeigt sich sogar bereit, für imperiale Ambitionen in den Krieg zu ziehen. Die führenden Politiker Russlands werben unverhohlen um gleichgesinnte Verbündete für den „Endkampf“ gegen „den“ Westen, vorzugsweise unter von Russland wirtschaftlich abhängigen und mehr oder weniger autokratisch verfassten Staaten.
Das Ende der kollektiven Friedensordnung
Berlin muss sich heute vorwerfen lassen, die dramatischen Folgen der sich seit mehr als 15 Jahren abzeichnenden innenpolitischen Entwicklungen in Russland falsch eingeschätzt oder interessenbedingt verdrängt zu haben. Mit dem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers erfolgten politischen Rückgriff auf Abschreckung und Sicherheit ging nicht nur die Ankündigung massiver, nachholender Investitionen in die deutsche und kollektive Verteidigungsfähigkeit einher, sondern auch eine beispiellose militärische Unterstützung der Ukraine in ihrem legitimen Widerstand gegen Russlands Aggression.
Ist die Idee des Vorrangs der zivilen Krisenprävention vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen gescheitert oder zeigen sich lediglich kontextabhängige Grenzen? Kann zivile Konfliktbearbeitung nachhaltige Ergebnisse hervorbringen, wenn doch bei einigen Akteuren die Überzeugung wächst, dass der Einsatz militärischer Gewalt sich lohnt, um eigene Interessen auf Kosten der Sicherheit und des Wohlergehens Anderer durchzusetzen? Und was können zivile Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung in einer Welt im Wandel leisten, in der alte Gewissheiten nicht mehr gelten und sich an ihrer Stelle Unsicherheit über die künftige Welt und Weltordnung breit zu machen scheint?
Die Idee einer kollektiven Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok – oder, in engere europäische Grenzen gefasst, vom Atlantik bis zum Ural –, wie sie nach dem Ende des ersten Ost-West-Konflikts im Jahre 1990 in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verankert wurde, ist zweifellos gescheitert. Das „neue Europa“ erscheint aus heutiger Sicht als Fiktion. Wie das „alte Europa“ zeigt sich der Kontinent heute militärisch gespalten und politisch uneins.
Illusionsfreie politische Kontakte
Ist damit zivile Krisenprävention grundsätzlich obsolet? Mitnichten. Nicht als politisches Konzept – übrigens auch nicht in den Beziehungen zu offenbar feindlich gesinnten Staaten wie dem heutigen Russland – und auch nicht als ein wirksames Instrument von Politik. Vom heute gern gescholtenen SPD-Politiker Egon Bahr stammt nicht nur die Formel vom möglichen „Wandel durch Annäherung“, sondern auch jene, dass Amerika für Europa „unverzichtbar“, Russland jedoch „unverrückbar“ sei. Die Verhinderung einer militärischen Konfrontation mit der benachbarten nuklearen Supermacht bleibt auf der Tagesordnung.
Das schließt neben der gebotenen militärischen Vorsorge ein ziviles Sicherheitsnetz ein – auch wenn das Vertrauen in Russland als Partner durch Putin grundlegend beschädigt worden ist. Notwendig sind illusionsfreie diplomatische Kontakte. Die zivilgesellschaftliche, demokratische Opposition gegen die militarisierte Außenpolitik und innenpolitische Unterdrückung der Putin-Regierung muss weiter unterstützt werden. Gleichzeitig gilt es aber, da, wo es noch möglich ist, auch mit dieser Regierung pragmatisch zusammenzuarbeiten, etwa in Fragen des gemeinsamen zivilisatorischen Überlebens wie der nuklearen Abrüstung, des Klimawandels, der Sicherheit des Weltraums und der Meere.
Die Ambitionen der zivilen Kooperation sind bescheidener als in der Vergangenheit zu halten. Über die imperialen Ziele von Putins Russland gibt es keinen Zweifel, sie werden selbst öffentlich nicht verschwiegen. Im Umgang mit imperialen Mächten wie Russland zeigen sich unverkennbar Grenzen ziviler Krisenprävention, wenn es diesen Mächten vor allem darum geht, eigene Ziele mittels Gewaltandrohung und -anwendung zu verfolgen. In diesem Fall sind zivile Instrumente nicht mehr als Alternative zu militärischen Mitteln zu verstehen, sondern als komplementärer Ansatz, in den Grenzen des Möglichen und des Notwendigen als Teil eines integrierten Verständnisses von Politik und Sicherheit.
Die Demokratie verliert an Attraktivität
Das Beispiel der von Russland verursachten Krise der internationalen Ordnung lehrt noch mehr. Frieden und Sicherheit sind auf Dauer nicht garantiert, wenn Staaten und Staatenlenker eine gemeinsam vereinbarte Ordnung für sich nicht (mehr) als nützlich erachten. Eine Dauergarantie für den Bestand demokratischer Systeme gibt es nicht – folglich kann es auch keine für den Bestand einer darauf gestützten regionalen oder internationalen Ordnung geben.
Derzeit lässt sich das in einer Reihe von Ländern in Sahel-Afrika beobachten, wo unbewältigte Dauerkrisen zum Sturz demokratisch gewählter Regierungen geführt haben. Die neuen Machthaber in diesen Staaten scheinen eher gewillt, sich an der Seite Russlands in eine globale Konfrontation zu begeben, als demokratische Teilhabe innerhalb ihrer Länder zuzulassen, Rechtsstaatlichkeit zu fördern und Menschenrechte zu achten.
Das als Unterstützung eines demokratischen Wandels in den Ländern des Südens gedachte und eingesetzte Instrumentarium ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung scheitert da, wo zivile Interventionen von außen in der Bevölkerung als bevormundend oder übervorteilend wahrgenommen werden, oder wo der Eindruck entsteht, dass die lokalen Bedarfe und der Konfliktkontext ungenügend berücksichtigt werden. Wo demokratiegestützte Ansätze an Attraktivität und Zustimmung verlieren, entsteht Raum für die Ausbreitung populistischer Dogmen und die Akzeptanz autokratischer Führung.
Die jüngsten Entwicklungen in Afrika sollten auch für das westliche Europa und Deutschland Anlass zum Nachdenken geben, ob zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung vor dem Hintergrund systemisch verwickelter Dauerkrisen und ihrer Auswirkungen nicht auch hierzulande weitergedacht werden müssen.
Vermutlich sollten auch hier die Instrumente und Ansätze weiterentwickelt werden, um die Grenzen ihrer Wirksamkeit nicht immer enger werden zu lassen. Die „Leitlinien“ bieten hierfür eine gute Grundlage. Sie sind zwar nicht obsolet, gingen 2017 jedoch noch von Rahmenbedingungen aus, die sich inzwischen in kurzer Zeit und auf dramatische Weise verändert haben. Vor diesem Hintergrund müssen die „Leitlinien“ zeitnah überarbeitet und ergänzt werden. Werden die Chancen und Grenzen ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung besser verstanden, können ihre Ziele realistischer formuliert und die Wirksamkeit ihrer Umsetzung den Zeiten entsprechend erhöht werden.
Mangelnde Solidarität
Im Unterschied zum Krisenmanagement, das auf eine akute Verringerung von kritischen Kriseneffekten ausgerichtet ist, zielt zivile Krisenprävention darauf, die strukturellen Ursachen von Krisen zu überwinden. Die unmittelbare Betroffenheit von Auswirkungen der meisten Krisen ist allerdings regional differenziert und erfolgt oft auch zeitversetzt. Das zeigt sich etwa vor dem Hintergrund von Kriegsfolgen, der Verbreitung von Armut, dem Verlauf von Migrationsströmen und nicht zuletzt des Klimawandels.
So existiert das, was in Deutschland und in Europa in den zurückliegenden Jahren als bedrohliche Zunahme von Extremwetter empfunden wurde, in anderen Teilen der Welt seit Langem als akute Bedrohung im Alltag, ohne dass es zu einer globalen solidarischen europäischen Klimapolitik, geschweige denn zu einer konfliktsensiblen globalen Industriepolitik reichte.
Zwar stimmt es, dass global wirkende Risiken auch nur durch globale Zusammenarbeit dauerhaft zu beseitigen sind, jedoch ist das gängige Warten auf Verhaltensänderungen anderer Staaten oder die Erwartung europäischer oder universell bindender Vereinbarungen angesichts der inzwischen zahlreich grassierenden Krisen das falsche Rezept und politisch verantwortungslos. Indikatoren für zivilisationsunverträgliche Risiken sind mittlerweile in vielen Bereichen ermittelt und wissenschaftlich zweifelsfrei nachgewiesen.
Die Folgen sind – exemplarisch ablesbar an den Stränden des Mittelmeers – mittlerweile unübersehbar, und die politische Uneinigkeit unter den europäischen Partnern wirkt nicht nur krisenverschärfend und erhöht die Gewaltvirulenz, sondern bedroht letztlich auch den Zusammenhalt in der Europäischen Union. Den Umschlag in Gewalt zu verhindern und den Betroffenen bei der Suche nach lebenswerten Perspektiven zu helfen, ist Aufgabe eines in politischer, rechtlicher und auch moralischer Hinsicht verantwortungsvollen kollektiven Krisenmanagements.
Vorangehen statt abwarten
Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung erfordern jedoch mehr. Vor allem geht es darum, die Langfristigkeit von krisenhaften Entwicklungen und ihre strukturellen Triebkräfte zu erkennen und das wachsende Wissen um deren Folgen in eine angemessene Vorsorge zu übersetzen. So werden die zerstörerischen Folgen einer jahrzehntewährenden Überdehnung der Resilienz unseres Planeten und der Zivilisation erst heute ansatzweise ernster genommen als früher, obwohl der Club of Rome bereits vor 50 Jahren vor einem systemischen Kollaps warnte.
Die notwendige Konsequenz – eine endlich auf verbindliche Regeln und konkrete Ergebnisse fußende Zusammenarbeit für eine gemeinsame Zukunft in Frieden, Sicherheit und Wohlstand – lässt auf vielen Gebieten und in vielen Teilen der Welt weiter auf sich warten. Setzt sich dies fort, sind noch schärfere, existenzielle Krisenfolgen zu erwarten. Zögerliches Abwarten auf den universellen Konsens ist nicht nötig, es wäre sogar fahrlässig.
Jeder Staat – und damit auch Deutschland – hat das Recht und trägt eigene Verantwortung, seine Ressourcen für geeignete Maßnahmen zur Prävention von Krisen und zur Beseitigung ihrer Ursachen sowie den zivilisationsverträglichen Umgang mit ihren Folgen aufzubringen. Nur so kann zivile Krisenprävention als ein glaubwürdiges, graduelles Rollenmodell jedes Staates zur Förderung der Mitwirkung anderer Staaten funktionieren.
Kann zivile Krisenprävention auch ein globales Rollenmodell für die Zukunft sein? Auf diese Frage gibt es noch keine sichere Antwort. Falls graduelle zivile Krisenprävention eigene Vorbildwirkung entfaltet, die das Verhalten anderer Staaten und Gesellschaften sowie internationaler Organisationen beeinflusst, so bleibt sie doch abhängig vom Willen, den zivilen Umgang mit Konflikten vor die Androhung und Anwendung von Gewalt zu stellen.
Das Ideal dieses Umgangs ist bereits in der Charta der Vereinten Nationen verankert. Ihre Verabschiedung war nur möglich, weil ihre Grundsätze seinerzeit von den weltweit stärksten militärischen Mächten für das gemeinsame Ziel anerkannt wurden, einen neuerlichen Weltkrieg zu verhindern. Die Zusammensetzung der Weltordnung hat sich seither dramatisch verändert, ohne dass jedoch die Grundsätze der Charta und des darauf gestützten Völkerrechts ihren Wert verloren hätten. Eine Reform der Organisation ist überfällig. Sie würde helfen, die durch die Entwicklungen in den zurückliegenden Jahren stark erschütterte Weltordnung zum Nutzen kollektiver, ziviler Krisenprävention zu erneuern.
Internationale Politik, Online exklusiv, 04. Oktober 2023
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