Zeitenwende light
Warum es besser wäre, von Deutschland militärisch nicht zu viel zu erwarten.
Bundeskanzler Olaf Scholz war noch keine 100 Tage im Amt, als er am 27. Februar eine der bemerkenswertesten Reden in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands hielt. Vor dem Bundestag, der wegen Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine an einem Sonntag zusammengetreten war, kündigte Scholz außerordentliche Verteidigungsausgaben in einem Sondervermögen von fast 100 Milliarden Euro an. Deutschland werde in der Zukunft das NATO-Ziel von Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übertreffen, sagte Scholz weiter.
Der Bundeskanzler sprach von einer „Zeitenwende“, um einen Paradigmenwechsel in der deutschen Sicherheitspolitik zu beschreiben. Die weitreichendste konkrete Maßnahme seitdem war die Ankündigung, dass Deutschland umgehend Lockheed Martins F-35-Kampfflugzeuge anschaffen werde, um seine in die Jahre gekommene Tornado-Flotte zu ersetzen und weiterhin die „nukleare Teilhabe“ im NATO-Rahmen zu ermöglichen. Scholz kündigte außerdem die deutsche Unterstützung für harte Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine an, die Deutschland zuvor teilweise blockiert hatte.
Scholz‘ Zeitenwende-Rede rief ein großes Echo in der Welt hervor, vor allem bei den USA und anderen westlichen Verbündeten, denen die deutsche Außenpolitik seit Jahren als vorwiegend merkantilistisch und blind für geopolitische Gegebenheiten erschienen war. Entsprechend wurde sie als die lang ersehnte Richtungsänderung begrüßt. Es war keine Überraschung, dass Investoren sie auch wahrnahmen und am nächsten Tag in großem Stil Kapital in Verteidigungs- und Luftfahrtwerte steckten. Begeisterte Kommentatoren begriffen die Rede als „Deutschlands geopolitisches Erwachen“ und erklärten, Russland habe „einen schlafenden Riesen“ geweckt.
Allerdings haben die letzten Wochen gezeigt: Die Herausforderungen sind enorm. Das deutsche außenpolitische Konzept wurde mit Sorgfalt über Jahrzehnte entwickelt und wird sich kaum über Nacht grundlegend verändern lassen. Die Beharrungskräfte sowie die über Jahrzehnte entstandenen Strukturen lassen sich nicht durch eine bemerkenswerte Rede im Bundestag überwinden. Und selbst wenn, so wird es viele Jahre dauern, die Bundeswehr so auszustatten, dass sie eine solche Außenpolitik unterfüttern kann. Die US-Regierung und US-Rüstungsindustrie sollten nicht auf einen zu großen Profit hoffen. Schließlich hat das Pentagon gerade eben die Bedeutung „nichtmilitärischer Instrumente“ und Verbündeter in seinem Konzept der „Integrierten Abschreckung“ wiederentdeckt; „Deutschland Deutschland sein zu lassen“ bedeutet, dass Berlin sich sicher eher auf den nichtmilitärischen Teil der Abschreckung konzentriert. Das wäre ein realistischer und wahrscheinlich nützlicher Ansatz.
Keine Änderung über Nacht
Zunächst sollte man die Wirkung der geplanten Ausgaben nicht überschätzen. Deutschland wird weiterhin deutlich unter dem Niveau seiner europäischen gleichrangigen Partner, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, investieren. Zwischen 2005 und 2020 beliefen sich Deutschlands Verteidigungsausgaben für Ausrüstung und Entwicklung nur auf wenig mehr als ein Drittel der französischen und auf die Hälfte der britischen Aufwendungen.
Christian Mölling und Torben Schütz zeigen, dass das von Scholz lancierte Sondervermögen in fünf Jahren aufgebraucht wäre, würde es dazu benutzt werden, um Deutschlands reguläre Verteidigungsausgaben (zurzeit ca. 1,5 Prozent des BIP) auf das NATO-Ausgabeziel zu steigern. Dies ist eine zu kurze Zeitspanne für entscheidende Investitionen in Verteidigungsausrüstung, speziell in die Bereiche Forschung und Entwicklung, die langfristige Planung und Bindung für mindestens ein Jahrzehnt oder länger erfordern.
Hinzu kommt, dass ein „Booster“ von fünf Jahren kaum die 30 Jahre Unterfinanzierung, die beispielsweise das Heer der Bundeswehr „blank“ dastehen lässt, wie der Inspekteur des Heeres in einem viel beachteten Post auf LinkedIn vom 24. Februar herausstellte, kompensieren kann. So müsste Deutschland allein 20 Milliarden Euro ausgeben, um die NATO-Anforderungen an Munition zu erfüllen.
Die kurzfristige Zufuhr von Geld zur Unterstützung von langfristigen militärischen Projekten wird außerdem von einer Bürokratie behindert, die schlecht dafür ausgerüstet ist, mit ihren aktuell vorhandenen Ressourcen umzugehen. Georg Löfflmann, Professor für War Studies an der University of Warwick, hat das viel gescholtene Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr ( BAAINBw), kurz: das Beschaffungsamt, beschrieben als „eine bürokratische Monstrosität, die für einen dysfunktionalen Prozess verantwortlich (ist), der wesentliche Waffensysteme bei Kostenüberschreitungen und Fähigkeitslücken um Jahre zu spät ausgeliefert hat“. Die ungewisse Aussicht auf eine vermutlich langwierige bürokratische Reform hat zu Forderungen nach einer anders strukturierten, ausschließlich für das Sondervermögen zuständigen Beschaffungsbehörde geführt. Ob eine solche parallel strukturierte Behörde die Probleme lösen könnte, ist eine offene Frage, aber sie wäre wahrscheinlich nicht fähig, aus dem Stand für schnelle Entscheidungen zu sorgen.
Die Beständigkeit deutscher Außenpolitik
Zudem werden äußere Faktoren es unwahrscheinlich machen, ein hohes Niveau deutscher Verteidigungsausgaben mittel- bis langfristig aufrechtzuerhalten. Viele Beobachter erwarten, dass Russlands Streitkräfte in der Ukraine zu einem Abnutzungskrieg mit hohen Verlusten an Menschen und Material übergehen werden. Russlands Fähigkeit, seine konventionellen Streitkräfte wieder aufzubauen, wird von einer taumelnden Wirtschaft behindert werden. Multilaterale Sanktionen werden dafür sorgen, dass der russischen Verteidigungsindustrie für eine Generation viele unerlässliche Komponenten fehlen werden. Kurz gesagt: Die russische konventionelle Bedrohung für NATO-Länder, zumindest nach den derzeit zugänglichen Informationen zu urteilen, ist geringer als vor dem 24. Februar.
In der Zukunft wird die primäre russische militärische Bedrohung für West- und Mitteleuropa das große und vielfältige nukleare Arsenal sein, das infolge der Verluste im konventionellen Bereich wahrscheinlich eine noch zentralere Rolle in der russischen Sicherheitspolitik spielen wird. Der Kauf der F-35 war ein deutliches nukleares Signal von Deutschland an Russland (und an seine NATO-Partner). Deutschlands Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe in der NATO ist bedeutsam, wenn man das bisherige Widerstreben der Sozialdemokraten und Grünen und die Passagen des Ampel-Koalitionsvertrags zum Atomwaffenverbotsvertrag einbezieht.
Andere Bedrohungen bestehen weiterhin. Deutschlands fortgesetzte Energie-Abhängigkeit von Russland bleibt seine Achillesferse. Berlin hat bereits erste Schritte unternommen, von der Absage an die Nord Stream 2-Pipeline bis zur Finanzierung neuer Flüssiggas-Terminals. Sich unabhängig zu machen, wird eine weitere, enorm teure Aufgabe sein; sie ist jedoch grundlegend für die Gewährleistung deutscher Sicherheit und die der NATO.
Die deutsche Wiederaufbauhilfe für die Ukraine im Anschluss an den Krieg wird sowohl unentbehrlich als auch teuer sein. Der wirtschaftliche Schaden, den dieser Konflikt in Osteuropa und in der ganzen Welt verursacht hat, ist schon jetzt immens. Am 10. März schätzte die ukrainische Regierung, dass die russischen Streitkräfte bereits Infrastruktur im Wert von 100 Milliarden Dollar zerstört hätten, und Russlands unterschiedsloses Bombardieren und Raketenbeschuss haben diese Zahl seitdem erhöht. Laut UNHCR haben über sechs Millionen ukrainische Flüchtlinge das Land verlassen, über 600.000 von ihnen halten sich in Deutschland auf. Als Europas größte Wirtschaftsmacht wird Deutschland bei der Bewältigung der Situation im eigenen Land und in den Nachbarländern seinen Teil leisten – auch dadurch, dass es beim Wiederaufbau der Ukraine eine führende Rolle einnimmt.
All das zu finanzieren, wird nicht einfach werden. Steigende Energiepreise werden die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie dämpfen, eine Stagflation droht. Aufgrund Europas integrierter Wirtschaft erfahren Deutschland und andere europäische Länder die Auswirkungen des Krieges nicht nur durch steigende Energiepreise, sondern auch durch Lieferkettenprobleme. So ist Deutschlands Transportsektor in hohem Maße von ukrainischen Lastwagenfahrern abhängig. Volkswagen musste die Produktion zeitweise wegen kriegsbedingter Versorgungsengpässe unterbrechen.
Falls die deutsche Wirtschaft in eine Rezession abrutscht, scheint es unwahrscheinlich, dass die Bundesregierung eine Art von militärischem Keynesianismus betriebe, um einer Nachfrageschwäche zu begegnen. Neuere deutsche Anreizpakete sind vorwiegend auf den privaten Konsum ausgerichtet, manche Investitionen gehen aber auch in die Infrastruktur. Das Instandhalten deutscher Straßen- und Eisenbahnnetze, wenn auch nicht spezifisch für die Verteidigung, würde wenigstens die europäische Sicherheit erhöhen, denn so würden auch militärische Mobilität und somit eine verbesserte Verlegefähigkeit durch Deutschland gewährleistet.
Das europäische Verteidigungsdilemma der USA wird nicht verschwinden
Auch wenn Deutschland das Sondervermögen im Haushalt verankert, effizient ausgibt und damit selbstständiger wird: Für einige entscheidende hochentwickelte Verteidigungsressourcen – wie zum Beispiel Langstrecken-Flugabwehrsysteme und schwere Transporthubschrauber – braucht Deutschland die USA als Partner. Allerdings sollte man die F-35-Entscheidung nicht als Richtungsentscheidung begreifen. So plant Deutschland, Eurofighter für die elektronische Kriegsführung anzuschaffen und nicht Boeings EA-180 Growlers.
Seit Gründung der NATO haben die USA versucht, sowohl höhere europäische Verteidigungsausgaben als auch eine gesteigerte europäische Abhängigkeit von amerikanischen Waffen im Zeichen der Interoperabilität (und amerikanischer Rüstungsexporte) zu forcieren. Die Biden-Regierung und ihre Nachfolger werden einen gut abgestimmten Kurs zwischen der Ermutigung transatlantischer Kooperation in der Rüstungsindustrie und gleichzeitigem Zulassen von Konkurrenz zwischen den europäischen und amerikanischen Rüstungsindustrien fahren.
Auf der Grundlage der existierenden rüstungsindustriellen Kapazitäten Europas, des Strebens nach einer größeren Rolle in diesem Feld seitens der Europäischen Kommission und der französischen Ambitionen bezüglich einer europäischen strategischen Autonomie wird Europa fähig sein wollen, einiges an militärischer Ausrüstung selbst zu produzieren, auch wenn es auf dem Weltmarkt mit amerikanischen Produkten konkurriert. So haben Frankreich und Spanien kürzlich beschlossen, den Tiger-Kampfhubschrauber von Airbus zu modernisieren; angesichts Deutschlands Absicht, mehr für Verteidigung auszugeben, erwarten Paris und Madrid eine deutsche Beteiligung.
Kurzum: Europa wird seine Mehrausgaben für Verteidigung vor allem auch in europäische Rüstungsgüter stecken wollen statt in amerikanische, auch wenn letzteres aufgrund der massiven Skaleneffekte und der technologischen Führerschaft der USA effizienter ist. Die Akzeptanz dieses Umstands in Washington würde ein transatlantisches Verhältnis garantieren, das einerseits von geostrategischer Kooperation und andererseits von rüstungsindustrieller Konkurrenz gekennzeichnet wäre.
Deutschlands Rolle in der integrierten Abschreckung
Das Pentagon leitete kürzlich die geheime, jüngste Fassung der Nationalen Verteidigungsstrategie (National Defense Strategy) an den Kongress weiter. Im nichtgeheimen dazugehörigen Factsheet wird festgestellt, dass „Integrierte Abschreckung“ („Integrated Deterrence“) das primäre Mittel ist, mit dem das US-Verteidigungsministerium seine strategischen Ziele erreichen will. Das Konzept beinhaltet „den Einsatz jedes militärischen und nichtmilitärischen Werkzeugs in unserem Werkzeugkasten im Gleichschritt mit unseren Verbündeten und Partnern“ und die Garantie, dass konventionelle Streitkräfte „abgesichert durch eine sichere und effektive nukleare Abschreckung“ operieren.
Langjährige strukturelle, politische und kulturelle Triebkräfte bewirken, dass die USA und die NATO-Verbündeten wahrscheinlich enttäuscht vom Niveau des deutschen konventionellen Aufbaus sein werden. Das Strategiepapier legt jedoch dar, dass es viele „nichtmilitärische Werkzeuge im Werkzeugkasten“ gebe.
„Deutschland Deutschland sein lassen“ heißt, dass sich Berlin auf seine bisherigen Stärken und Aufgaben konzentriert. Die erneuerte Teilhabe an der nuklearen Abschreckung im NATO-Rahmen sowie eine geringfügig effektivere europäische rüstungsindustrielle Basis repräsentieren die militärische Seite. Ebenso wichtig ist jedoch die nichtmilitärische Seite, die vor allem in der reduzierten Abhängigkeit von russischen Energieimporten und Investitionen in Osteuropa zur Abmilderung der wirtschaftlichen Schäden besteht.
Statt Deutschland unter Druck zu setzen, mehr Haushaltsmittel für Verteidigung in einer möglichen Rezession einzusetzen, die wahrscheinlich ineffizient ausgegeben würden, wäre es eine bessere Politik, das Schwergewicht auf die schnelle Diversifizierung der Energieversorgung und auf die wirtschaftliche Stärkung Osteuropas und insbesondere der Ukraine zu verschieben. Dies wäre sowohl „Integrierte Abschreckung“ als auch ein „guter Deal“ für die Vereinigten Staaten. Und noch wichtiger: Es ist eine realistische Option.
Jonathan D. Caverley ist Professor für Strategie am US Naval War College, an dem er auch die Bernard Brodie Strategy Group leitet. Seine hier geäußerte Meinung gibt nicht die Sicht des US Naval War College, der US Navy oder der US-Regierung wieder.
Lucas F. Hellemeier ist Doktorand am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung befasst er sich mit der transatlantischen verteidigungsindustriellen Beziehung.
Der Beitrag erschien zunächst in englischer Sprache unter dem Titel „German Conventional Deterrence or Allied Integrated Deterrence: Pick One“ am 17.04.2022 im Lawfare Blog.
Internationale Politik, Online exklusiv, 19.05.2022