Gegen den Strich

01. Mai 2022

Zeitenwende

Es war der 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag eine Reihe von Ankündigungen machte, die so manchen sprachlos zurückließ. Waffen- lieferungen an die Ukraine, Wirtschaftssanktionen gegen Russland, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und Verteidigungsausgaben von mindestens 2 Prozent des BIP: Nichts davon wäre noch eine Woche zuvor denkbar gewesen. Bloße Kurs­korrektur oder sicherheitspolitische Revolution? Vier Thesen auf dem Prüfstand.

„Die Bundesregierung hat eine Zeitenwende der deutschen Sicherheitspolitik eingeläutet, die mit allen Traditionen der vergangenen zwei Jahrzehnte bricht“


Es klingt so. In seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag Ende Februar, wenige Tage nach dem neuerlichen russischen Überfall auf die Ukraine, verwendete Bundeskanzler Olaf Scholz den BBegriff Zeitenwende“ jedenfalls gleich fünf Mal. Er hatte ja auch einiges anzukündigen, was mit der bisherigen Linie der Bundesregierung brach: Deutschland liefert der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung. Russische Kreditinstitute werden aus dem internationalen Bankennetzwerk SWIFT ausgeschlossen, viele weitere Sanktionen kommen hinzu. Die Bundeswehr erhält deutlich mehr Geld: ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, wodurch bis zum Ende der Legislaturperiode jährlich mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung veranschlagt werden können. Damit werden unter anderem bewaffnete Drohnen gekauft und amerikanische F-35-Flugzeuge, die Deutschlands Beitrag an der nuklearen Teilhabe der NATO gewährleisten. Und auch wenn der Bundeskanzler Nord Stream 2 in dieser Rede nicht erwähnt, hatte er doch zuvor auch diesen Kurswechsel verkündet und die Inbetriebnahme der Pipe­line ­ausgesetzt.

 

Nichts davon war auch nur eine Woche zuvor in der Regierungskoalition mehrheitsfähig. Im Gegenteil: Insbesondere beim Thema Waffenlieferungen, beim Verteidigungshaushalt und bei Nord Stream 2 gehörten Vertreter der Regierung – einschließlich des Kanzlers selbst – zu den lautesten Verfechtern der nun überholten Positionen. Eine Wende, in der Tat.

Die neue Linie hat große Teile der parlamentarischen Opposition und, wie Umfragen zeigen, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Die Union ätzt allenfalls, dass die SPD plötzlich die Vorschläge der Verteidigungs­ministerinnen von der Leyen und Kramp-Karrenbauer möglich macht, die sie in der Großen Koalition noch blockiert hatte – und vergisst dabei geflissentlich ihre verteidigungspolitisch unmotivierte Kanzlerin.

Und die Bevölkerung ist schockiert und aufgebracht von den schrecklichen Berichten aus der Ukraine, aufgerüttelt aus einem   chloroformierten Zustand, an dem die abwiegelnd-einlullende Sprache der deutschen Spitzenpolitik der vergangenen Jahre großen Anteil hat.

Wie gut tut dagegen die neue, klare Diktion des Kanzlers: Wladimir Putin wolle „die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt“. Wir müssten uns daher die Frage stellen: „Welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in Zukunft?“ Daran zeigt sich aber auch: Eingeläutet hat diese Zeitenwende der russische Präsident; sein flächendeckender Eroberungskrieg ist der Bruch mit dem Bisherigen. Die Bundesregierung reagiert und vollzieht nach, was jetzt zu tun ist.

Wie genau die Ankündigungen umgesetzt werden sollen, ist noch nicht in allen Details klar. Vor allem aber bleibt die Frage nach der Dauerhaftigkeit. Was der Kanzler beschrieben hat, läuft auf mehr hinaus als ein paar starke Maßnahmen zur Sanktionierung Russlands und der Modernisierung der Bundeswehr. Die eigentliche Zeitenwende ist eine Veränderung der sicherheitspolitischen Kultur unseres Landes. Weg vom kalkulierenden Wegducken, hin zu einer fortschrittlichen, verlässlichen, gestaltenden Kraft im Verbund mit Alliierten und Partnern.

Bundespräsident Joachim Gauck hat 2014 schon einmal ein Deutschland gefordert, das sich „früher, entschiedener und substanzieller“ ins internationale Konfliktmanagement einbringt. Weil die damaligen Außen- und Verteidigungsminister ihn darin unterstützten, sprach man irrtümlich vom „Münchner Konsens“ für „mehr Verantwortung“.

Überhaupt lässt einen das Gefühl nicht los, die heutige Rhetorik schon mal erlebt zu haben: Viele Fachleute hofften bereits 2014 auf eine Zeitenwende, als im Zuge der russischen Annexion der Krim auch hierzulande viele richtige Schlüsse gezogen wurden – etwa mit Blick auf die Trendumkehr bei den Verteidigungsausgaben und die deutsche militärische Präsenz in Litauen. Aber insgesamt änderte sich, wie so oft in der deutschen Sicherheitspolitik, zu wenig zu spät.

Wird es diesmal anders sein? Sind das Bewusstsein für die Gefährlichkeit der internationalen Lage und die Bereitschaft, für die liberale Friedensordnung auch unter Inkaufnahme von Kosten einzustehen, jetzt tiefer verankert? Darüber wird die Qualität politischer Führung entscheiden, aber auch die Qualität und Breite der gesellschaftlichen Begleitung dieser Fragen.

Noch ist diese Zeitenwende nicht in ausreichendem Maße vollzogen; schon jetzt fragen viele, ob das ganze Rüstungsgeld nicht anderswo besser investiert sei. Und sobald sich die Lage in der Ukraine beruhigt, unter welch schlimmen Vorzeichen auch immer, werden die ersten wieder danach rufen, „Dialog auf Augenhöhe“ zu führen. Sie werden gedankenvoll erklären, dass „ohne Russland kein dauerhafter Frieden“ in Europa möglich sei und „Wandel durch Handel“ empfehlen. Oder war es „Gewinn“? Nein, „Annäherung“. Hoffentlich erinnert sich der Kanzler auch dann noch an seine Lehre: „Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens Willen.“



„Die Wende ist vollzogen, jetzt müssen wir nur noch unsere Hausaufgaben machen: Sanktionierung Russlands, Stärkung der Partner, Aufwuchs eigener Fähigkeiten“



Das reicht bei weitem nicht. Die Umsetzung der Ankündigungen ist die Pflicht; zu einer echten Zeitenwende gehört aber ebenso die Kür. Es klingt hart, aber ge­naugenommen geschieht jetzt in der deutschen Sicherheitspolitik nur das, was spätestens seit 2014 angezeigt war. Die Annexion der Krim und die fortgesetzte Gewalt in der Ostukraine waren nicht der erste Ausdruck eines aggressiven russischen Revisionismus und der Feindseligkeit Putins gegenüber der Freiheit, wie seine Opfer in Georgien, Syrien und nicht zuletzt in Russland selbst bezeugen könnten.

Aber 2014 war der Moment, wo die NATO umzustellen begann und der Bündnisverteidigung gegenüber den Stabilisierungsmissionen wieder mehr Ernsthaftigkeit zumaß. Was nun passiert, insbesondere die 2 Prozent für die Modernisierung der Bundeswehr und das Umdenken in der deutsch-russischen Energiepolitik, haben schon damals viele in Deutschland im Gleichklang mit unseren Bündnispartnern gefordert.

Das soll den Befund nicht schmälern, dass das, was notwendig ist, nun endlich deutsche Regierungspolitik ist. Aber man sollte sich davor hüten, die beschlossenen Maßnahmen für vorausschauende, gar fortschrittliche Politik zu halten. Eine echte Zeitenwende der deutschen Sicherheitspolitik würde über das Nacharbeiten versäumter Hausaufgaben hinausgehen und aus der Erfahrung dieser Tage ­Ideen für die Zukunft entwickeln. ­Ideen, die kreativer sind als ein Noch-mehr-Desselben – und sei es auch noch mehr Geld für die Bundeswehr.

Der Kern der westlichen Erfahrung dieses Februars ist, dass der Konflikt zwischen Freiheit und Autoritarismus nicht nur ein theoretischer ist, etwas für Feuille­tonisten und Kalte Krieger. Wladimir Putin zeigt uns, dass es autoritäre Herrscher gibt, die ihre Interessen mit Gewalt zu erreichen bereit sind, auch mit militärischer Gewalt gegen andere Staaten. Und dass die Sphäre der Freiheit schrumpfen wird, wenn sie sich nicht als wehrhaft erweist. Für Deutschland und ­Europa bedeutet es, dass wir diese Sphäre viel wirksamer schützen müssen als bislang. Deswegen brauchen wir mehr militärische Kompetenz, deswegen brauchen wir eine Energiewende, die uns von autoritären Staaten unabhängig macht.

Aber für die Sphäre der Freiheit bedeutet es auch, dass wir uns viel stärker um die Gesellschaften kümmern müssen, die nicht eindeutig in die westlichen Vertragswerke eingebunden sind, aber auch nicht unter fremder Kuratel stehen. Wenn der Westen sie nicht im Sinne der liberalen Selbstbestimmung befähigt, werden andere diese Räume gestalten und uns langfristig die Luft zum Atmen nehmen.

In der Ukraine hat Deutschland das versucht. Mit über 1,8 Milliarden Euro seit 2014 war Berlin zeitweise der größte bilaterale Geber, noch vor den Vereinigten Staaten. Hinzu kommen die Hilfen über die Europäische Union und, langfristig noch wichtiger, die stabilen Handelsbeziehungen. Deutschland hat vor dem Krieg Produkte für rund drei Milliarden Euro im Jahr aus der Ukraine importiert.

Und doch müssen wir uns fragen, ob der Rahmen der Zusammenarbeit nicht zu eng gedacht war. EU- und NATO-Mitgliedschaft sind das eine, das andere sind die vielen Zwischenschritte auf dem Weg dorthin: Fördermittel, Unterstützung bei der Entwicklung des Rechtsstaats und der Medien, die Zusammenarbeit von Parteien, Kulturprogramme, Universitätsstipendien, Visaflexibilisierung und faire Handelsbedingungen mit Blick auf die EU-Subventionspolitik.

Eine Zeitenwende erfordert, dass Deutschland und seine Verbündeten ihr Instrumentarium zur Stabilisierung der gesamten Nachbarschaft im Norden, Osten und Süden besser durchdenken und besser aufeinander abstimmen. Dazu gehört, nicht immer nur auf mögliche Nachteile und Risiken zu schauen, sondern großzügiger zu sein und mutiger – die Sphäre der Freiheit wächst nicht, indem man die Schultern hochzieht.

Klimakrise, Corona-Krise, Russland-Krise: Biedermeier und Nabelschau sind dieser Zeit nicht angemessen. Die Menschen sehnen sich nach Visionen, nach einer ambitionierten Politik, die etwas ändern will, nicht nur Krisen managt und auf Sicht fährt. Wo soll das möglich sein, wenn nicht in Deutschland, dem reichsten und bevölkerungsstärksten Land in der Mitte des europäischen Kontinents?

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag den Auftrag gegeben, dieses Jahr eine Nationale Sicherheitsstrategie zu erarbeiten. Es wäre die erste ihrer Art in Deutschland, und das federführende Auswärtige Amt hat bereits den Startschuss gegeben. Diese Sicherheitsstrategie wird sich daran messen lassen müssen, wie viel Zeitenwende in ihr steckt.



„Die Bundeswehr kann den unerwarteten Geldsegen gar nicht sinnvoll verarbeiten“



Und ob sie das kann. Mehr Geld, mehr Material, mehr Personal sind schon seit zwei Legislaturperioden die Devise für die Bundeswehr. So ist allein zwischen 2013 und 2019 der Verteidigungshaushalt um rund 40 Prozent gewachsen. Diese zusätzlichen Milliarden sind nicht verpufft, sondern wurden in dringend benötigte Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten, in Reparaturen und einige Neuanschaffungen investiert.

Das war schon in diesen Jahren keine schlechte Bilanz; sie wurde allerdings dadurch getrübt, dass die Truppe über 25 Jahre bis auf die Knochen abgeschabt worden war. Dies konnte nicht im Handumdrehen wiedergutgemacht werden, schon gar nicht unter der Bedingung fordernder Einsätze und angesichts der langen Zeiträume, die für Entwicklung und Beschaffung in der Rüstung zu veranschlagen sind. Zumal das Budget trotz der Trendwende weit hinter den Erfordernissen zurückblieb und nie auch nur an die von der Bundesregierung avisierten 1,5 Prozent der Wirtschaftskraft heranreichte. Die über Jahrzehnte eingeübte Verwaltung des Mangels setzte sich fort, wenn auch unter günstigeren Vorzeichen.

Jetzt besteht die Chance, das zu ändern. Zwar ist der ein oder andere enttäuscht, dass die 100 Milliarden Sondervermögen nicht zusätzlich zum jährlichen 2-Prozent-Etat gemeint waren. Aber klug aufgeteilt bedeuten sie doch, dass das 2-Prozent-Ziel auch bei einem eingefrorenen Verteidigungshaushalt von 50 Milliarden pro Jahr über die gesamte Legislaturperiode erreicht wird und somit erheblich mehr Geld zur Verfügung steht, als die Bundeswehrplaner erwarten durften.

Das ist sinnvoll investiertes Geld in die Wehrhaftigkeit unserer offenen Gesellschaft. Natürlich braucht verantwortungsvolle Sicherheitspolitik mehr als militärische Mittel, aber wie unverzichtbar eine funktionierende Streitkraft ist, führt uns die tapfere Abwehrschlacht der ukrainischen Armee vor Augen. Wer meint, Scholz’ Milliarden führten zu Rüstungsspiralen und Eskalation, hat weder den Zustand der Bundeswehr begriffen noch das kalte Kalkül eines Putin, der jede Schwäche seiner Gegner brutal zu nutzen gewillt ist – und vor glaubwürdiger Gegenmacht ­zurückschreckt.

Deswegen war es richtig, dass die Bundeswehrplaner auch in schwierigen Zeiten an der Idee einer Bundeswehr festgehalten haben, die alles leisten kann, was die nüchterne Analyse der sicherheitspolitischen Lage erfordert. Das heißt konkret, dass die Bundeswehr sich am Planungszyklus der NATO orientiert, der bis 2031 reicht. Im Bündnis ist ermittelt worden, welche militärischen Fähigkeiten bis dahin bereitgestellt werden müssen, um alle Mitglieder verlässlich zu schützen, und die Regierungen der Mitgliedstaaten haben dieser Planung zugestimmt – das steckt hinter dem 2-Prozent-Kalkül.

In Deutschland ist dies flan­kiert worden durch das Weißbuch der Bundesregierung von 2016, in dem Interessen, Bedrohungen und Mittel deutscher Sicherheitspolitik benannt sind. Das Verteidigungsministerium hat daraus 2016 die Konzeption der Bundeswehr und 2018 das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr abgeleitet. Diese immer noch gültigen Strategiedokumente zeichnen vor, was die Bundeswehr bis 2031 anschaffen muss, um ihren fairen Anteil an der gemeinsamen Verantwortung für die Sicherheit des Bündnisses zu schultern. Auch wenn der Krieg gegen die Ukraine eine neue Aufmerksamkeit auf Verteidigung richtet: Die Situation der NATO ändert sich dadurch im Grunde nicht, sie war immer auf potenzielle russische Aggression ausgerichtet.

Der Horizont 2031 hat allerdings zwei Nachteile. Erstens ist er der akuten Bedrohungslage nicht angemessen, wo schnell Verbesserungen unserer Wehrhaftigkeit sichtbar werden müssen. Zweitens setzt er voraus, dass das hohe Investitionsniveau in Verteidigung über die kommenden vier Jahre hinaus stabil bleibt – und die unzureichend alimentierten Jahre von 2018 bis 2021 aufgeholt werden. Man kann also mit einigem Recht sagen, dass die 100 Milliarden bei weitem noch nicht genügen.

Deswegen muss nun scharf priorisiert werden, und genau das hat Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht mit ihren militärischen Beratern getan. Natürlich kann man im Einzelfall debattieren, wie das richtige Verhältnis von soldatischer Unterwäsche zu Munition und zu großem Gerät im Investitionsplan sein soll. Und ob der schwere Transporthubschrauber wichtiger ist als das mit Norwegen zu bauende U-Boot oder die Digitalisierung der Gefechtsführung oder die Entwicklung eines eigenen Luftverteidigungssystems. Und ob sich die F-35 nicht nachteilig auf das mit Frankreich zu entwickelnde „Kampfflugzeug der Zukunft“ (FCAS) auswirkt und man daher besser bei der F-18 geblieben wäre. Diese Fragen gehen aber am wesentlichen Punkt vorbei: Die Bundeswehr hat einen gut durchdachten und sofort umsetzbaren Plan, wie sie das zusätzliche Geld sinnvoll verwenden kann.

Nun weiß man aber auch, dass Geld nicht alles ist. Komplizierte und träge Abstimmungswege in der Militärbürokratie sind mit dem Dickicht des öffentlichen Vergaberechts und mit industriepolitischen Winkelzügen eine unselige Allianz eingegangen, die es auf empörende Weise erschwert, das Material und Gerät, das die Bundeswehr braucht, in akzeptabler Zeit zu erhalten. Eine grundlegende Reform des Beschaffungswesens tut not, über Ausnahmeregeln während des Krieges in der Ukraine hinaus. Nur dann lässt sich das viele Geld auch effizient einsetzen.

Die Verteidigungsministerin hat daher diese Reform vom ersten Tag ihrer Amtszeit an zur Chefsache erklärt. Es kann nur helfen, dass sie als ehemalige Justizministerin dabei vielleicht auch Wege findet, die ihren Vorgängerinnen verschlossen blieben. Denn an der Reform der Beschaffung haben sich schon viele die Zähne ausgebissen; Ursula von der Leyen hat der Versuch einer radikal marktwirtschaftlichen Modernisierung eine Berateraffäre samt Untersuchungsausschuss eingetragen. Lambrecht sagt gerne: „Wenn’s einfach wäre, würden’s andere machen.“ Hier hat sie wirklich die Chance, sich zu beweisen – die Zeitenwende erhöht den Handlungsdruck, schafft aber auch neue Spielräume.



„Putins Russland ist nicht die größte Bedrohung für Europas Sicherheit“



Langfristig ist da was dran. Natürlich, angesichts der Verbrechen, die russische Krieger zurzeit in Europa begehen, ist dieser Satz nicht nur falsch, sondern geradezu obszön. Schon mit Blick auf die nächsten fünf bis zehn Jahre gewinnt er aber an Plausibilität.

Zwar ist klar, dass Putins Ziele über die Ukraine hinausgehen: Er versteht sich als Feind des Westens, dem er ein russisches Imperium entgegensetzen will. Putin wird den russischen Machtbereich konsolidieren und ausweiten, wo immer er kann. Ebenso wird er die Absichten der freien Welt konterkarieren, wo es ihm möglich ist, so wie in Syrien – mit schrecklichen Folgen und bitteren Konsequenzen für Europa. Dass er dabei vor offenem Krieg und sogar atomaren Drohungen nicht mehr zurückschreckt, macht ihn noch gefährlicher.

Andererseits bleibt die Einschätzung richtig, dass Russlands Macht fragil ist. Nicht nur ist Putins Herrschaft vom guten Willen der Oligarchen abhängig, die nun sanktioniert werden. Sie ist auch auf ein Mindestmaß an Wohlwollen in der unterdrückten und propagandistisch beschallten Bevölkerung angewiesen – in der sich jedoch durch den Krieg zusätzlicher Widerstand regt.

Vor allem aber hat Putin die Modernisierung seines Landes versäumt. Die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und demografische Entwicklung ist fatal. Außer Nuklearwaffen, fossilen Brennstoffen und einer halbwegs passablen Streitkraft hat Putins Russland nichts zu bieten. Vielleicht noch den Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, wo es aber weitgehend isoliert ist. Barack Obamas Rede von der „Regionalmacht“ mag unklug und provozierend gewesen sein – falsch war sie nicht.

Nur: Auch ein relativ schwaches Russland kann sehr gefährlich sein, vielleicht sogar besonders gefährlich, wie wir jetzt erleben. Abgesehen davon, dass keiner weiß, ob ein Russland nach Putin nicht ein noch größeres Problem für seine Nachbarn ist – schlimmer als ein „Obervolta mit Atomraketen“ (Helmut Schmidt) ist ein zerfallendes Obervolta mit Atomraketen, in dem die Zentren der Organisierten Kriminalität um die Oberhand ringen. Insofern ist es richtig, dass wir Europäer besondere sicherheitspolitische Aufmerksamkeit auf dieses Land richten.

Die wahre Herausforderung unserer Sicherheit ist aber der stärkste der autoritären Staaten: China. Nicht nur, weil die nächste Ukraine Taiwan heißen könnte. Sondern weil die chinesische Diktatur schon jetzt ihren herausragenden wirtschaftlichen Erfolg in politischen Einfluss und militärische Stärke ummünzt. Weil sie schon jetzt mit mal verdecktem, mal offenem Druck Wohlverhalten anderer Staaten erzwingt – nicht nur in der eigenen Nachbarschaft, sondern bis hinein in die EU-Gremien. Der Herrschaftsanspruch Pekings ist nicht weniger ausgeprägt als der Moskaus. Die Mittel sind aber ungleich vielfältiger und besorgniserregender, auch weil Chinas Macht trotz aller Unwägbarkeiten ungleich größer und stabiler ist als Russlands.

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat im März im Spiegel diese Lehre aus der Fehleinschätzung der Absichten Russlands gezogen: „Ich will nicht, dass wir in zehn Jahren mit China vor einer ähnlichen Situation stehen. Wir müssen die Abhängigkeit von autoritären Staaten drastisch reduzieren.“ Wohl wahr, und zwar allein schon, weil gar nicht ausgemacht ist, dass der Westen China wirtschaftlich und militärisch so einhegen kann wie Russland. Schon jetzt ist zu beobachten, dass Peking für so einen Fall weniger verwundbar werden will, etwa durch die Etablierung eines alternativen Systems zu SWIFT.

Resilienter gegenüber chinesischem Druck zu werden, erfordert von Deutschland und seinen Verbündeten viel tiefgreifendere Schritte als die Verteidigung gegen Russland. Neben militärischer Handlungsfähigkeit und Energieunabhängigkeit braucht das eine Revolution unserer Technologieentwicklung und viel engere Zusammenarbeit der liberalen Demokratien. Voraussetzung wäre die Einsicht, dass strategische Erwägungen Vorrang haben vor kurzfristigen Gewinninteressen. Das wäre dann die wirkliche Zeitenwende.

 

Dr. Patrick Keller ist Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 106-111

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