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01. Nov. 2019

Xis Traum von Großchina

Mit Militanz und Misstrauen bewirkt der Staatspräsident das Gegenteil dessen, was er erreichen möchte. Hongkong und Taiwan sind für Peking so gut wie verloren.

Wer verstehen möchte, wie es zu den Spannungen im Verhältnis von Festlandchina zu Hongkong und Taiwan gekommen ist, kann sich auf eine tagespolitische Analyse beschränken. Er kann sich aber auch – und dieser Ansatz ist der vielversprechendere – mit der Biografie des chinesischen Staatschefs beschäftigen. Als Sohn des revolutionären Parteikaders Xi Zhongxun entkam Xi Jinping den Wirren der Kulturrevolution auf dem Lande. Dort besuchte er zu Maos Zeiten eine Schule für ausgewählte Kinder von Vorzeigearbeitern, Bauern und Soldaten. Viel gelernt hat Xi dort nicht, wenn man einem hohen Parteifunktionär glauben darf; wichtiger und prägender seien seine Versuche gewesen, Dominanz über die Mitschüler auszuüben.

Xi Jinping ist überzeugter Stalinist. Dem Journalisten und Chinaexperten John Gar­naut zufolge teilt Xi die Einsicht Stalins, dass in einer sich vertiefenden Revolution der Klassenkampf schärfer wird. Wie Stalin ist er überzeugt, dass die Partei durch ständige Säuberungsaktionen stärker werden kann. Xi führt die KPCh folgerichtig mit eiserner Hand. Mit maoistischen Mitteln will er Staat und Gesellschaft nach seiner Idee formen. In seiner jüngsten Rede an der Parteihochschule benutzte er den Begriff „Kampf“ nicht weniger als 58 Mal. In der Tradition der Einheitsfront geht es Xi um Unterwerfung eines Feindes, ob real oder imaginär. Dieses Freund-Feind-Denken ist Teil seines Politikverständnisses.



Überwachung und Verfolgung

Die direkten Konsequenzen einer solchen offen zur Schau getragenen Militanz zeichnen sich immer deutlicher ab. Anfang März 2018 zündete sich der Tibeter Tsekho Tugchak an und starb – die 163. Selbstverbrennung als Protest gegen die religiöse Unterdrückung durch die Kommunistische Partei (KPCh). In Xinjiang werden über eineinhalb Millionen Uiguren und Kasachen in Internierungslagern festgehalten. Das erklärte Ziel ist die Auslöschung ihrer kulturellen und religiösen Identität durch Zwangsassimilierung. Und so lautete die Antwort einer einflussreichen Parteifunktionärin auf die Frage, wann die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Zentralregierung in Peking und der chinesischen Peripherie begonnen habe, bezeichnenderweise: „Mit der Gründung der VR China“.

Unter Xis Führung wird die gesamte Bevölkerung in die Pflicht genommen, die Partei aktiv zu unterstützen. Wer als Feind gilt, wird verfolgt: Christen, Feministinnen, Marxisten. Gerade die politisch aktive, regierungskritische Jugend Chinas wird schikaniert oder verschwindet in Geheimgefängnissen. Im Handelsstreit mit den USA hat Xi Jinping zu einem Volkskrieg aufgerufen. In Kritik- und Selbstkritikveranstaltungen werden chinesische Kader, Unternehmer, Banker und Bürger ideologisch indoktriniert. Und das Sozialkreditsystem soll dazu beitragen, kritisches Denken und Handeln von vornherein durch Selbstzensur zu unterbinden.

Die aus Sicht der KPCh unwillkommene Konsequenz einer rücksichtslosen Zentralisierung politischer Macht: Xi Jinping bekommt aller Wahrscheinlichkeit nach keine akkuraten Informationen von seinen Untergebenen. Während Maos „Großem Sprung nach vorn“ Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre starben zwischen 30 und 40 Millionen Chinesen. Provinz- und Lokalkader wagten es nicht, Mao über den vollen Umfang der von ihm verursachten Hungersnot zu berichten.

Diese Informationsblockade hat auch mit einer wachsenden Opposition gegen Xi innerhalb des Einparteienstaats zu tun. Der renommierte Chinawissenschaftler Minxin Pei hat anschaulich gezeigt, wie Parteifunktionäre sich in wachsendem Maße weigern, die Vorgaben der Zentralregierung umzusetzen. Sie sind wütend über die ausufernde Antikorruptionskampagne, die aufgrund der Bestechlichkeit auf höchster Parteiebene als pharisäerhaft gilt.

War in den vergangenen Jahren viel von der Konsolidierung der Macht Xi Jinpings die Rede, so lassen sich mittlerweile Symptome eines fortschreitenden Regimezerfalls erkennen. Noch wird die politische Instabilität Festlandchinas durch die martialische Rhetorik Xis übertüncht. Wie sehr sich der Parteichef aber in Wahrheit in die Enge getrieben fühlt, zeigen die immer aggressiver werdenden chinesischen Sicherheitsgesetze deutlich.



Nicht bereit zum Dialog

Unter Xis Führung wurden vier weitreichende Sicherheitsgesetze verabschiedet: ein nationales Sicherheitsgesetz, ein Cyber-Sicherheitsgesetz, ein Informationsgesetz und das INGO-Gesetz zum Management internationaler Nichtregierungsorganisationen vom Januar 2017. Der gemeinsame Nenner dieser Initiativen besteht darin, das Machtmonopol der KPCh mit allen Mitteln zu verteidigen. Dazu wird der Geltungsbereich der Parteivorschriften weit über die Landesgrenzen ausgedehnt. Das Informationsgesetz beispielsweise hält chinesische Bürger im In- und Ausland an, geheimdienstliche Aktivitäten der KPCh aktiv zu unterstützen.

Das damit einhergehende Misstrauen gegenüber Ausländern kommt besonders in dem ebenfalls verabschiedeten Antispionage­gesetz zum Ausdruck. Das Gesetz kriminalisiert ausländische Berichterstattung, die angeblich „Fakten verdreht oder die nationale Sicherheit Chinas gefährdet“. Wo die Grenzen genau liegen, bleibt offen. Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Gesetz ausländische, KPCh-­kritische ­Journalisten und Wissenschaftler eingeschüchtert werden sollen.

Selbst Europäer, die sich nachweislich jahre- beziehungsweise jahrzehntelang in China kon­struktiv engagiert haben, stehen mittlerweile unter Generalverdacht. In den vergangenen drei Jahren hat ein Team aus deutschen und britischen Wissenschaftlern die Auswirkungen des INGO-Gesetzes auf europäische zivilgesellschaftliche Organisationen untersucht. Ein zentrales Anliegen der Feldforschung in fünf europäischen Ländern war es zu zeigen, inwiefern das Gesetz das jahrzehntelang gewachsene Vertrauen zwischen europäischen und chinesischen Partnern beeinträchtigt hat.

Das Ergebnis war eindeutig: Die transnationalen Vertrauensnetzwerke wurden regelrecht zerstört und durch ein Regiment von drakonischen Vorschriften und Einschränkungen des chinesischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit ersetzt. Noch sind die wenigen verbleibenden europäischen Organisationen bereit, ein letztes Mal zu versuchen, die Kooperation aufrechtzuerhalten. Doch viele der Verantwortlichen erklären ihre prinzipielle Offenheit dafür, China schon bald den Rücken zu kehren.



Versprochen, gebrochen

Die mangelnde Bereitschaft, sich auf einen konstruktiven interkulturellen Dialog einzulassen, wird auch am Beispiel Hongkongs deutlich. Nach der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China im Jahr 1997 hat der chinesische Einparteienstaat systematisch deren Autonomie unterwandert. Die Regenschirm-­Bewegung im Jahr 2014 war eine Reaktion auf das gebrochene Versprechen Pekings, freie und faire Wahlen des Verwaltungschefs zuzulassen. Junge Demokraten in Hongkong zogen ihre eigenen Schlüsse aus dem Scheitern ihrer politischen Bewegung. Wenn „Ein Land, zwei Systeme“ schon nicht funktioniere, dann müsse eben „Ein Land“ infrage gestellt werden. Der erstarkende Hongkonger Nationalismus geht in erster Linie auf Pekings Konto.

Angesichts der wirtschaftlichen Relevanz und Bedenken innerhalb der Parteiführung ist Xi Jinping bislang davor zurückgeschreckt, die Volksbefreiungsarmee gegen die Bevölkerung in Hongkong einzusetzen. Ein neues Tiananmen ist damit in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. An die Stelle einer offenen militärischen Unterdrückung ist allerdings ein gnadenloser Positionskampf getreten.

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Hong Kong Police Force (HKPF) mittlerweile von Agenten der festlandchinesischen paramilitärischen People’s Armed Police (PAP) koordiniert wird. Seit Ende August herrscht de facto das Kriegsrecht in Hongkong. Zusammen mit den zahllosen Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen der HKPF- und PAP-Einheiten trägt das entscheidend dazu bei, dass die Menschen in Hongkong das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sehen, dass sie politisiert und radikalisiert werden. Überall mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich die Demokratiebewegung zu einer Zeitlupen-­Revolution entwickelt.

Wer verstehen will, warum Xi Jinpings Versuch, seinen hegemonialen Traum von einem Großchina zu verwirklichen, das genaue Gegenteil bewirkt, sollte sich außerdem mit der jüngsten Geschichte Taiwans beschäftigen. Im Jahr 2014 leitete der damalige taiwanische Präsident Ma Ying-jeou Verhandlungen über ein ­Handels- und Investitionsabkommen zwischen Taiwan und Festlandchina ein.

Die Geheimniskrämerei der taiwanischen Nationalistenpartei und der KPCh weckte allerdings das Misstrauen der taiwanischen Jugend. Junge Aktivisten reagierten mit einer Besetzung des taiwanischen Parlaments, die vom 18. März bis zum 10. April 2014 dauerte. Schon bald war das Gebäude mit Postern und Sonnenblumen dekoriert. Dieser folgerichtig Sonnenblumen-Bewegung genannte Abwehrkampf gegen eine immer stärkere wirtschaftliche Einflussnahme Pekings auf Taiwan kostete den prochinesischen Präsidenten Ma Ying-jeou die Wiederwahl. Seit 2016 regiert mit Tsai Ing-wen eine Repräsentantin der Demokratischen Fortschrittspartei. Sie verteidigt die faktische Unabhängigkeit Taiwans.

Eine stärkere Integration der Insel in die festlandchinesische Wirtschaft kam also bei den Taiwanern offenbar nicht gut an. Auch die Massen an festlandchinesischen Touristen in Taiwan führten die Menschen nicht zueinander, im Gegenteil. Im letzten Jahr der Präsidentschaft Mas stieg die Zustimmung zu einer exklusiven taiwanischen politischen Identität auf ihren Höchststand. In Peking übersah man, dass viele junge Taiwaner die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von Festlandchina durchaus zur Kenntnis nehmen, politisch allerdings ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Die Sonnenblumen-Bewegung hatte starke protaiwanische nationalistische Untertöne. Die gleiche Entwicklung ist mittlerweile in Hongkong zu beobachten. Mit jedem Tag und jeder Nachricht über Übergriffe der von der KPCh gesteuerten Polizei steigt die Wahrscheinlichkeit, dass junge Hongkonger und ihre Familienangehörigen zu Dissidenten werden. ­Jüngste Meinungsumfragen zeigen einen sehr deutlichen Trend hin zu einer exklusiven Hongkonger Identität.



Vom Traum zum Albtraum

Der Versuch der KPCh, den Nationalismus in China gegen die Hongkonger zu in­strumentalisieren, ist ein weiteres Paradebeispiel der verfehlten Politik Xis. Indem Übergriffe von Festlandchinesen gegen Hongkonger nicht geahndet, sondern geradezu befürwortet werden, werden Ansätze eines Ethno-Nationalismus populär gemacht. Solche Konfrontationen könnten das Verhältnis zwischen Hongkong und Peking auf Jahre belasten. Die KPCh ist schlecht beraten, diesen Weg zu beschreiten. Jeder innerethnische Konflikt birgt die Gefahr, die nationalistischen Strömungen auf beiden Seiten anzufachen.

Xi Jinpings politisches Dilemma ist daher weitgehend hausgemacht. Er träumt von einem nach innen und außen starken China. Aus diesem Traum entwickelt sich jedoch derzeit für alle Beteiligten ein Albtraum. Je nachdem, wie sich die Situation in Hongkong entwickelt, steht die Zukunft der KPCh auf dem Spiel. Sollte Xi der ­Versuchung ­erliegen, doch noch militärisch in Hongkong einzugreifen, wird das nicht nur zu großem Leid, sondern aller Voraussicht nach auch zu enormen Spannungen innerhalb der Partei führen. Viele der Gegenspieler Xis wickeln ihre Finanzen und Geschäfte über Hongkong ab. Die Zerstörung Hongkongs als wirtschaftlichem Transmissionsriemen zwischen Festlandchina und der Außenwelt würde ihre ökonomischen Interessen massiv bedrohen.



Höchste Zeit, verbal abzurüsten

Im Januar 2020 findet in Taiwan die nächste Präsidentschaftswahl statt. Bislang hat Präsidentin Tsai von den Unruhen in Hongkong politisch profitiert. Ihr Gegner, der populistische Bürgermeister der südlichen Hafenstadt Kaohsiung, Han Kuo-yu, hatte sich anfangs positiv zu „Ein Land, zwei Systeme“ geäußert. Mittlerweile besteht die Möglichkeit, dass ein dritter Kandidat das Rennen noch unübersichtlicher macht. Doch selbst wenn Präsidentin Tsai scheitern sollte, würde ein prochinesischer taiwanischer Präsident umgehend in die gleichen strukturellen Probleme geraten wie zuvor Ma Ying-jeou.

Eine überstürzte Annäherung an Xis China würde die nationalistische Jugend Taiwans auf die Straßen treiben. Gewinnt hingegen Tsai die Wiederwahl, so wird eine militärische Auseinandersetzung mehr als eine theoretische Möglichkeit. Anfang Januar 2019 drohte Xi Jinping zuletzt mit einer Annexion Taiwans. Sollte die KPCh aufgrund des verfehlten Krisenmanagements in Hongkong Gefahr laufen, ihre Macht zu verlieren, wäre ein Krieg gegen Taiwan als ultimatives Ablenkungsmanöver nicht mehr auszuschließen.

Bedeutet Xis militantes Vorgehen jedoch, dass der Konflikt zwischen der Zentralregierung und Hongkong unlösbar ist und dass es keine einvernehmliche Lösung mit Taiwan geben kann? Befürworter einer friedlichen Koexistenz der drei Regionen gibt es sowohl in Festlandchina als auch in Taiwan und Hongkong. Der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sprach sich im Rahmen der prodemokratischen Charta 08 für eine „Föderation demokratischer Gemeinschaften Chinas“ aus. Der prominente Hongkonger Demo­kratieaktivist Benny Tai kann sich hingegen Szenarien vorstellen, in denen Hongkong entweder unabhängig wird oder Teil eines föderalen Systems.

Alternativ könnte die Europäische Union als Modell einer regionalen Integra­tion dienen. Und in Taiwan formulierte der langjährige Parteivorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei Hsu Hsin-liang in den späten neunziger Jahren die Vision, dass die Taiwaner sich einem zivilen Nationalismus verschreiben könnten, der die formale Erklärung ihrer Unabhängigkeit nicht länger notwendig mache.

Diesen mäßigenden Plädoyers von Liu, Tai und Hsu stehen allerdings wachsende nationalistische Strömungen in allen drei Regionen gegenüber. Es ist daher an der Zeit, dass politische Führungskräfte in Festlandchina, Taiwan und Hongkong verbal abrüsten und den bevorstehenden Konflikt der konkurrierenden Nationalismen entschärfen. Xi Jinping sollte mit gutem Beispiel vorangehen.

Dr. Andreas Fulda ist Assistenzprofessor an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der University of Nottingham. Jüngste Veröffentlichung: „The Struggle for Democracy in Mainland China, Taiwan and Hong Kong“ (Routledge, 2019).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 74-78

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