Wuchern der Verknüpfungen
Die Globalisierung baut auf die Errungenschaften des Nationalstaats
Privat verabredete Rahmenbedingungen für weltweit agierende Unternehmen, ein Internationaler Strafgerichtshof, Menschen mit verschiedenen Staatsbürgerschaften: Das Territorium, die Autorität und die Rechte zerfallen und neue Verknüpfungen entstehen, die mit der herkömmlichen Formel „national unterliegt global“ nicht zu erklären sind.
Ein entscheidendes, doch gerne übersehenes Kennzeichen der heutigen Zeit ist die wachsende Zahl einer ganzen Reihe von unvollständigen, oftmals hochspezialisierten globalen Verknüpfungen aus Bruchstücken des Territoriums, der Autorität und der Rechte, die sich allmählich dem Zugriff der institutionellen Rahmenwerke des Nationalstaats entziehen.1 Diese Verknüpfungen verlaufen quer zu der binären Unterscheidung von „Nationalem“ und „Globalem“. Sie sind weiterhin in den institutionellen und territorialen Rahmenwerken des Nationalen verortet. Doch sie sind kein Teil des Nationalen mehr, so wie es sich geschichtlich herausgebildet hatte. Sie entziehen sich ihm durch einen Prozess der Entnationalisierung, der zu der Entstehung globaler Strukturen führen kann, aber nicht muss. Akteure können aus der nationalen Institutionalisierung des Territoriums ausbrechen und gleichzeitig weiterhin innerhalb des nationalen Territoriums agieren. Dabei gehen sie weit über schon bestehende extraterritoriale Strukturen hinaus.
Diese globalen Verknüpfungen sind von unterschiedlicher Art: Auf der einen Seite finden wir private, häufig sehr spezielle Rahmenwerke wie die lex constructionis, ein privates „Rechtssystem“, das von den großen Bauunternehmen der Welt als ein gemeinsamer Ansatz entwickelt wurde, um die sich verschärfenden Umweltschutzstandards in einer wachsenden Zahl der Länder, in denen sie arbeiten, besser „bewältigen“ zu können. Am anderen Ende dieses Spektrums stehen weit komplexere (und noch im Experimentierstadium befindliche) Gebilde wie der erste offizielle globale Gerichtshof der Geschichte, der Internationale Strafgerichtshof. Er ist kein Teil des bestehenden supranationalen Systems, doch er verfügt gegenüber den Unterzeichnerstaaten über universelle Zuständigkeit. Über die Vielfalt dieser Verknüpfungen hinaus stellt ihre große Anzahl ein immer gewichtigeres Faktum dar – nach der jüngsten Zählung gibt es mehr als 125 solcher Instanzen. Ihre wachsende Zahl bedeutet nicht das Ende der Nationalstaaten. Vielmehr wird das Nationale allmählich in seine Einzelteile zerlegt.
Verschiedene neue Ordnungen
Meine These ist es daher, dass diese Entwicklungen auf das Entstehen neuartiger Anordnungen hinweisen, die neben älteren Strukturen wie dem Nationalstaat und dem zwischenstaatlichen System bestehen können. Diese Dynamik lässt sich folgendermaßen veranschaulichen: Wir erleben heute den Übergang von einer zentrierten nationalstaatlichen Struktur zu einer wachsenden Anzahl spezialisierter, zentrifugaler Verknüpfungen. Das zeigt, welche grundlegende Bedeutung die bündelnde Kraft des Nationalstaats besaß, wie begrenzt sie auch immer gewesen sein mag.
Diese steigende Zahl partieller Verknüpfungen zu betonen, steht im Widerspruch zu einem großen Teil der Globalisierungsliteratur. Diese Literatur tendiert dazu, einen schroffen Dualismus von Globalem versus Nationalem vorauszusetzen und konzentriert sich daher auf die mächtigen globalen Institutionen, die bei der Durchsetzung einer globalen Unternehmensökonomie eine entscheidende Rolle gespielt und die Macht „des Staates“ verringert haben. Ich betone dagegen, dass das Globale auch innerhalb des Nationalen – in der „globalen Stadt“ – aufgebaut werden kann. Bestimmte Komponenten des Staates haben sogar an Macht gewonnen, da sie dafür sorgen müssen, dass die für die globalen Unternehmen notwendigen politischen Maßnahmen in die Wege geleitet werden. Daher weitet die Ausrichtung meiner großen Untersuchung (vgl. Anm. 1) und auch dieses Aufsatzes die Analyse dessen, was als „Globalisierung“ beschrieben wird, auf ein weit umfangreicheres Spektrum von Akteuren aus. Sie stellt die mächtigen globalen Regulierungsinstanzen wie den – neu definierten – Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Welthandelsorganisation (WTO) als die Wegbereiter einer epochalen Transformation dar, und nicht als diese Transformation selbst. Die Dynamiken, die sich gegenwärtig herausbilden, greifen weit tiefer und sind viel radikaler als Gebilde wie die WTO oder der IWF. Diese Institutionen sollten vielmehr als mächtige Fertigkeiten für die Entstehung einer neuen Ordnung begriffen werden – sie sind Instrumente dieser neuen Ordnung, nicht diese selbst. Die Vervielfachung partieller Verknüpfungen, die in diesem Aufsatz untersucht wird, weist auf eine neue Anordnung hin, die jene älteren Rahmenwerke allmählich erschüttert, durch die komplexe Interdependenzen zwischen Rechten und Pflichten, Macht und Gesetz, Reichtum und Armut, Loyalität und Unabhängigkeit aufrechterhalten wurden – auch wenn dieses System niemals perfekt war.
Diese steigende Zahl verschiedener Ordnungen ist, so behaupte ich, auch innerhalb des Staatsapparats zu erkennen. Ich werde mich hier auf den Prozess beziehen, den ich als die Privatisierung der exekutiven Funktionen des Staates beschreibe, um eine Reihe von Eigenschaften zu veranschaulichen, die sich aus diesen Transformationen ergeben. Insbesondere werde ich die These aufstellen, dass wir nicht mehr von „dem“ Staat sprechen können, und daher auch nicht von „dem“ Nationalstaat gegenüber „der“ globalen Ordnung. Wir erkennen eine neuartige Segmentierung innerhalb des Staatsapparats: Einerseits ist da ein wachsender und zunehmend privatisierter exekutiver Bereich, der auf spezielle globale Projekte ausgerichtet ist – wie nationalistisch seine Reden auch klingen mögen. Andererseits beobachten wir eine Aushöhlung der Legislative, die – wenn überhaupt – nur noch für innenpolitische Fragen zuständig ist. Und je mehr die Macht der Exekutive privatisiert wird, desto mehr erodieren die Persönlichkeitsrechte der Bürger. Dies ist eine historisch einschneidende Verschiebung der Trennlinie zwischen Öffentlichem und Privatem im Herzen des liberalen Staates – selbst wenn diese Trennung nie vollkommen durchgeführt worden war.
Institutionen und Prozesse auf globalem Niveau sind derzeit relativ schwach und nur wenig entwickelt, wenn wir sie mit den privaten und öffentlichen Bereichen eines beliebigen, halbwegs funktionsfähigen souveränen Staates vergleichen. Das Nationale bleibt weiterhin der Bereich, in dem sowohl die Komplexität als auch die Formalisierung und die Institutionalisierung ihre jeweils höchste Entwicklungsstufe erreicht haben. Das Territorium, das Recht, die Ökonomie, die Sicherheit, die Autorität und die Formen politischer Zugehörigkeit sind in weiten Teilen der Welt im Wesentlichen als nationale Größen konstruiert worden, auch wenn sie nur selten jenen Grad der Autonomie erreicht haben, der im nationalen Recht und in den internationalen Verträgen postuliert wird. Um das Transformationsvermögen an den Tag zu legen, das sie heute erkennen lässt, muss die derzeitige Globalisierungsdynamik sich weit stärker mit dem Nationalen – mit den Regierungen, den Unternehmen, den Rechtssystemen oder den Bürgern – verzahnen, als es uns die vorherrschenden Analysen zu erkennen geben. Daraus ergibt sich auch die These, dass bestimmte nationale Errungenschaften aus ihrer institutionellen Einkleidung herausgelöst und zu grundlegenden Elementen für die Globalisierung werden. Dadurch werden sie aber keineswegs zerstört oder an den Rand gedrängt. Kurz gesagt: Die epochale Transformation, die wir Globalisierung nennen, spielt sich im Innern des Nationalen ab, und sie beruht in weit größerem Maße, als gemeinhin angenommen wird, auf der Neuausrichtung nationaler Elemente.
Diese nationalen Errungenschaften wirkten in der unmittelbaren Vergangenheit – gerade weil sie hoch entwickelt waren – in einer Weise, die den Nationalstaat letztlich sogar stärkte. Sie sind kollektive Produktionen, deren Entwicklung Zeit, konstruktive Arbeit und Konflikte erfordert. Für die globalen Verknüpfungen sind sie grundlegend, selbst wenn diese ihrerseits Organisationslogiken hervorbringen, die die Errungenschaften neu ausrichten. So ist etwa die „Rechtsstaatlichkeit“ ein Potenzial, das für den Ausbau nationalstaatlicher Autorität entscheidend war, um eine nationale, protektionistische Politik abzusichern. Doch sie ist heute auch für die globale Ökonomie von großer Bedeutung. Sie ist hinreichend entwickelt, um in einem Kontext nationaler Ökonomien zu funktionieren. Aber auch, um einen entscheidenden Baustein für den Erfolg neoliberaler Deregulierungs- und Privatisierungspolitik abzugeben – für Strukturen also, die in gewisser Weise das genaue Gegenteil protektionistischer Politik darstellen.
International ist nicht gleich global
Die Bretton-Woods-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg eignet sich als Anschauungsmaterial für einige dieser Probleme. Für viele Forscher gehörte dieses System zu einem langen Zeitabschnitt, in dem das heutige internationale Wirtschaftssystem aufgebaut wurde. Tatsächlich können wir in diesem Zeitraum die Entwicklung, den Aufbau und die Formalisierung von Errungenschaften erkennen, die es – wenigstens einigen – Staaten erlauben, zu einem weit größeren Bereich formalisierter internationaler Transaktionen überzugehen und, in einigen Fällen, internationale Steuerungskapazitäten zu übernehmen. Ich meine aber trotzdem, dass das System von Bretton Woods anfänglich darauf angelegt war, die nationalen Ökonomien gegen externe Kräfte abzuschirmen, und sie nicht etwa zu öffnen. Auf diese Weise unterschied es sich radikal von dem gegenwärtigen globalen Zeitalter. Aufgrund einer Kombination verschiedener Dynamiken wurde in den achtziger Jahren ein Wendepunkt erreicht. Die Errungenschaften wurden aus ihrem Zusammenhang gerissen und gliederten sich in eine gerade entstehende Organisationslogik ein, die zu einer neuartigen Verknüpfung entscheidender Komponenten führte.
Es gibt also zwei entscheidende Fragestellungen, die ich analytisch aus dieser dichten und komplexen Geschichte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg herausarbeite. Die eine betrifft das Wesen des Internationalismus dieses Zeitalters, die andere betrifft das Wesen der Veränderungen innerhalb des Nationalstaats.2 Hier mache ich wiederum die Geschichte nutzbar, doch ich maße mir nicht an, zur Geschichtsschreibung beizutragen. Und ich ziehe einen einzelnen Staat als Beispiel heran, in diesem Falle die Vereinigten Staaten – den Staat, der das Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg beherrscht und diese Zeit versinnbildlicht.
Eine der beiden zentralen Thesen dieser Analyse der Bretton-Woods-Ära besagt, dass die Elemente für den Übergang in ein globales Zeitalter bereits nach dem Zweiten Weltkrieg und in den siebziger Jahren vorhanden waren. Da dieser Weltmaßstab sich zum Ziel gesetzt hatte, das internationale System so zu steuern, dass die nationalen Ökonomien vor externen Kräften abgeschirmt würden, hatte er tatsächlich in manchen seiner wesentlichen systemischen Eigenschaften mehr Gemeinsamkeiten mit dem Weltmaßstab der Vorkriegszeit als mit dem des heutigen – auch wenn seine Errungenschaften sehr modern oder sogar zeitgenössisch erscheinen mögen.
Daher mache ich einen grundlegenden Unterschied zwischen dem internationalen System der frühen Nachkriegsjahre und dem heutigen globalen System geltend. Einer der Indikatoren hierfür ist in der internen Transformation des Nationalstaats seit den späten siebziger Jahren und vor allem seit den achtziger Jahren zu finden; diese Transformation setzte zum Teil ein neuartiges Globalisierungsprojekt in Gang. Sie war gekennzeichnet durch eine signifikante Verschiebung staatlicher Macht in Richtung Exekutive, durch einen Verlust der gesetzgeberischen Kompetenzen und der öffentlichen Kontrollfunktionen des US-Kongresses (d.h. der Legislative) und – zum Teil in Folge davon – durch eine neue, entscheidende Rolle, die die Judikative als eine öffentliche Kontrollinstanz und zugleich auch als eine gesetzgebende Instanz übernahm. Die vermittelnden Variablen dieser Transformation, die ihr Ergebnis bestimmen, sind die Privatisierung, Deregulierung und Vermarktlichung öffentlicher Aufgaben ebenso wie die damit einhergehende Vermehrung und der Machtzuwachs spezialisierter Regulierungsbehörden im Innern der öffentlichen Verwaltung, die das übernahmen, was zuvor die Kontrollfunktionen der Legislative waren. Außerdem führt die ökonomische Globalisierung einer wachsenden Zahl ökonomischer Akteure und Prozesse zugleich zu einem zunehmenden Machtungleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen des Staatsapparats, wodurch schon lange bestehende Störungen dieses Gleichgewichts noch weiter verschärft werden. So sind die Treasury (das US-Finanzministerium) und die Federal Reserve (die US-Notenbank) zwei Instanzen, die im Zuge der Globalisierung beträchtliche Macht hinzugewannen. Auch wenn sich die jeweiligen Auswirkungen stark unterscheiden, ist diese interne Neuverteilung der Macht – von der Legislative hin zur Exekutive – in Staaten in aller Welt zu beobachten. Diese Verschiebungen verwickeln den Staat in einen Prozess, der weit stärker differenziert und vor allem auch viel stärker transformativ ist, als es die Vorstellung von einem allgemein rückläufigen Stellenwert des Staates vermuten ließe.
Der Staat passt sich nicht an, er verändert sich
Meine zweite zentrale These über die Ära von Bretton Woods: Die Möglichkeiten staatlichen Handelns im Rahmen internationaler Transaktionen waren schon aus früheren Jahrzehnten bekannt und wurden während dieses Zeitraums weiterentwickelt. Dasselbe gilt auch für die Tendenz, viele der staatlichen Errungenschaften zu formalisieren. Sie wurden durch die Arbeit der Regierung und der technischen Experten für die multinationale Regulierung des Finanzwesens und des Handels und durch die sich aus dieser Arbeit ergebenden transgouvernementalen Netzwerke weiterentwickelt. Andererseits lernten die Funktionäre des Staates, die sich aus der internationalen Steuerung ergebende Standardisierung zu bewältigen. So konnten sie die enormen Unterschiede zwischen den beteiligten Regierungen und den politischen Ökonomien der einzelnen Länder überbrücken.
Auch wenn sie nicht unbedingt für die Staatlichkeit dieser Zeit repräsentativ sein mögen, geben die Vereinigten Staaten ein extremes Beispiel für die interne Transformation des Staates ab. Unter den entwickelten Staaten machen der britische und der italienische Staat sowie ganz verschiedene Staaten des globalen Südens wie Argentinien oder Malaysia einige dieser Veränderungen durch, wenn auch in weniger extremer Form. In den Vereinigten Staaten geht es dabei um zwei wichtige Verschiebungen im Machtgefüge: Die eine ist die neue Verteilung der Macht zwischen den drei Schlüsselgewalten, insbesondere die immer deutlicher werdende Dominanz der Exekutive seit den achtziger Jahren, und der Machtverlust des US-Kongresses nach einer Phase der Innovation und der Selbstbehauptung in den sechziger und siebziger Jahren. Ich erkenne die Gründe dieser Verschiebung zum Teil in der Tatsache, dass politische Maßnahmen wie die Privatisierung und die Deregulierung die gesetzgeberischen und die Kontrollfunktionen des Kongresses untergraben.
Eine weitere wesentliche Verschiebung ergibt sich aus der Neudefinition der Trennlinie zwischen Öffentlichem und Privatem – einer Trennlinie, die für den liberalen Staat von grundlegender Bedeutung ist. Diese Trennlinie war, geschichtlich gesehen, für die Entstehung und die Vorherrschaft eines bestimmten, klar definierten Subjekts entscheidend – für die Bourgeoisie nämlich, die als politisch-ökonomisches Subjekt die Legitimität des Privateigentums an den Produktionsmitteln vertritt und verkörpert, und dies zu einer Zeit, in der der Staat über einen langen Zeitraum hinweg der wichtigste ökonomische Akteur gewesen war. Der heftige Machtverlust der Legislative, der sich in den Vereinigten Staaten seit den achtziger Jahren deutlich erkennen lässt, trug zu einem Demokratiedefizit bei, das im liberalen Staat selbst seine Wurzeln hatte und nicht auschließlich durch die Globalisierung ausgelöst wurde, wie oft behauptet wird. Die Legislative ist der am wenigsten abgeschottete Teil des Staatsapparats, da sie weitgehend auf öffentliche Debatten ausgerichtet ist. Sie hat während des 20. Jahrhunderts zu ganz verschiedenen Zeiten eine strategisch entscheidende Rolle gespielt, wenn es darum ging, das Machtgleichgewicht zwischen Arbeitern und Arbeitgebern und zwischen dem Staat und der Bürgerschaft wiederherzustellen. Die Deregulierung, Privatisierung und Vermarktlichung öffentlicher Aufgaben entreißen der Legislative die Zuständigkeit für die Kontrolle dieser Aufgaben. Während dies gemeinhin unter solch allgemeinen Kategorien wie dem Verlust staatlicher Macht zusammengefasst wird, zeige ich, dass diese Auffassung nicht zutrifft. Die Exekutive konnte einige jener Befugnisse an sich ziehen, die die Legislative verloren hatte, als immer mehr spezialisierte Behörden solche Funktionen übernahmen, die zuvor bei den Kontrollausschüssen des Kongresses angesiedelt waren.
Einer der bei dieser Verschiebung entscheidenden Mechanismen war der Gebrauch bereits bestehender Gesetze zur Durchsetzung grundlegender Veränderungen – anstelle der Verabschiedung neuer Gesetze. Dadurch wäre die Legislative einbezogen worden, und dies hätte eine öffentliche Debatte über die Themen von Privatisierung und Deregulierung ausgelöst. Doch indem man bereits bestehende Regulierungsbehörden dazu einsetzte, die verschiedenen Formen der Deregulierung und Privatisierung durchzuführen, hielt man diese Veränderungen aus der öffentlichen Diskussion – und der parlamentarischen Debatte über die Verabschiedung neuer Gesetze – heraus. Und obwohl die steigende Zahl spezieller Regierungsbehörden, die einige der früher bei der Legislative angesiedelten Regulierungs- und Kontrollfunktionen übernommen hatten, nicht unbedingt mit einem Machtzuwachs der Exekutive gleichbedeutend war, trat dieser in der Tat ein. Die Exekutive nahm den Standpunkt ein, dass sämtliche staatlichen Befugnisse hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung alleine bei ihr lägen. Dies bereitete auch den Boden für besondere Formen einer ausgedehnten Geheimhaltungspolitik, die von der Exekutive in Anspruch genommen wurden, ebenso wie für ihren Anspruch, dass die in formales Recht umgesetzte Erosion der Persönlichkeitsrechte der Bürger rechtmäßig sei. Der Patriot Act stellt nur das extremste Beispiel für diese Entwicklung dar. Insofern die Deregulierung, die Privatisierung und die Vermarktlichung öffentlicher Aufgaben für erweiterte und neuartige Formen der ökonomischen Globalisierung der großen Unternehmen entscheidend sind, können sie im Innern des Staates als ein Teil der epochalen Transformation der Gegenwart aufgefasst werden.
Die konstitutive Grenzüberschreitung
Wie sollen wir diese Erosionsprozesse zweier wesentlicher Grundlagen des liberalen Staates theoretisch erfassen? Anstelle der Teilung und der wechselseitigen Kontrolle der Gewalten im Innern des Staates und anstelle der Trennung zwischen einem privaten Bereich mit starken Schutzvorkehrungen gegenüber staatlichen Eingriffen und einem öffentlichen, der kritischen Überprüfung durch die Öffentlichkeit ausgesetzten Bereich stehen wir heute einer Exekutive mit wachsenden Machtbefugnissen und sich verstärkender Geheimhaltungspolitik gegenüber. Diese Tendenzen weisen auf eine partielle, doch unverkennbare Privatisierung von entscheidenden Charakteristika der Exekutive hin, die zu Neuausrichtungen im Innern des Staates und – auf Seiten der Bürger – zu einer Erosion der Persönlichkeitsrechte führen. Diese partielle Privatisierung exekutiver Macht und die Erosion der Persönlichkeitsrechte der Bürger haben in der Amtszeit von George W. Bush ihre deutlichste Form angenommen.
Doch anstatt diese Verschiebungen als das Ergebnis eines Machtmissbrauchs der Bush-Regierung – und in diesem Sinne: als Anomalie – zu verstehen, stelle ich die Behauptung auf, dass sie weit tieferliegende und systemimmanente Ursachen haben. Diese Veränderungen nahmen in der Reagan-Ära erstmals Gestalt an, und in gewissem Maße werden sie von beiden großen US-Parteien befördert. So setzten sich diese Entwicklungen unter der Präsidentschaft des Demokraten Bill Clinton fort, wenn auch – aufgrund von Clintons stark auf die Öffentlichkeit ausgerichtetem Auftreten – in einer nicht ganz so geheimnistuerischen und gegenüber der Öffentlichkeit weniger abgeschotteten Form.
Der Charakter und die oftmals extreme Form dieser Transformation machen den US-amerikanischen Staat zu einem heuristisch wertvollen Ort, da sie es uns ermöglichen, herauszufinden, welchen Begrenzungen der liberale Staat unterliegt, wenn er sich den zentralen Eigenschaften des heutigen globalen Zeitalters anzupassen versucht: Dies sind die ökonomische Globalisierung und die neuartigen globalen Kriege, die die Vereinigten Staaten heute führen. Der amerikanische Staat ist außerdem ein heuristisch wertvoller Ort, wenn es um die Frage geht, ob sich diese Veränderungen aus dem Hegemonialstatus der Vereinigten Staaten ergeben, oder ob sie – wenn auch nicht für alle entwickelten Staaten repräsentativ – eine Art Sinnbild für das neue Zeitalter darstellen. Ich neige dazu, diese Frage gemäß der zweiten Interpretationslinie zu beantworten: Diese Veränderungen sind ein Sinnbild des neuen Zeitalters, und in diesem Sinne weisen sie darauf hin, dass dieses neue Zeitalter nicht komfortabel mit dem liberalen Staat, so wie er historisch entstanden ist, zusammengeht. Dies wird sich aber erst beantworten lassen, wenn die Geschichte – und die Forschung – weiter vorangeschritten sind; diese Frage bleibt weiter im Raum stehen. Jedoch weisen diese Veränderungen darauf hin, dass eine gewisse Linie überschritten wurde, dass ein Schritt über die Grenzen des liberalen Staates hinaus getan wurde. Im Sinne meiner Analyse gehört diese Grenzüberschreitung zu den konstitutiven Elementen des neuen globalen Zeitalters.
Die derzeitigen Veränderungen im Innern des Staates selbst und in seiner Positionierung in größeren Machtzusammenhängen regen eine Untersuchung darüber an, wie dies Institutionen politischer Zugehörigkeit eine neue Ausrichtung geben kann, und sei es auf ganz bestimmten Feldern. Dies könnte teilweise dazu führen, dass die Institutionen politische Zugehörigkeit – Territorium, Autorität und Rechte – auf neue Weise organisieren. Diese Veränderungen lassen sich vielleicht am deutlichsten an speziellen formalen Transformationen verschiedener Merkmale der staatsbürgerlichen Institution ablesen: der Verlust sozialer Rechte, der mit der Streichung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen einhergeht, der Verlust von Persönlichkeitsrechten sowie die Option einer doppelten Staatsangehörigkeit, durch die die Vorstellungen einer exklusiven, auf nur einen Staat bezogenen Loyalität geschwächt werden. Ich interpretiere diese und weitere ähnliche Veränderungen als eine Tendenz zur Vergrößerung der Distanz zwischen dem Staat und den Bürgern und als einen Schritt, der uns von der markantesten Errungenschaft der Französischen und der Amerikanischen Revolution wegführt: der Vorstellung nämlich, dass das Volk der Staat, und der Staat das Volk ist. Die wachsende Distanz zwischen Staat und Bürgerschaft ermöglicht neuartige Formen der Intervention, so etwa jene, die eigene Regierung zu verklagen, und sie ermöglicht gewisse „Ausstiegs-Strategien“, wie etwa Gedankenspiele über transnationale Identitäten.
Diese Transformationen müssen nicht unbedingt in Form einer Deterritorialisierung oder einer Verortung dieser Institutionen außerhalb des Nationalstaats ablaufen, wie es für Konzeptionen postnationaler Staatsbürgerschaft ausschlaggebend ist. Sie finden im Innern des Nationalstaats statt, als eine partielle, oft hochgradig spezialisierte Entnationalisierung bestimmter Eigenschaften der Staatsbürgerschaft. Ich meine, dass diese Trends viel eher neue Bedeutungen für Fragen politischer Zugehörigkeit produzieren als die weit offensichtlichere Renationalisierung der Politik, die sich heute in den entwickelten Ländern im Blick auf die Immigration besonders deutlich abzeichnet. Es ist schwierig, die Bedeutung dieser auseinanderlaufenden Dynamiken zu ermitteln, da wir es hier zum Teil mit noch nicht abgeschlossenen historischen Prozessen zu tun haben. Ich neige dazu, die Renationalisierung der Politik als ein Resultat älterer Ausrichtungen des Nationalstaats zu interpretieren. Wenn diese erlahmen oder nur noch in begrenzten Bereichen wirksam sind, erstehen sie in einer sozusagen purifizierten – und das heißt: extremen – Form wieder auf. Dies kann leicht als ein Zeichen von Stärke verstanden werden.
Doch in Wirklichkeit ist die Rückbesinnung auf das Nationale ein geschwächter Faktor, systemisch sogar unhaltbar – sie liegt in ihren letzten Zügen.
Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm
Prof. Dr. SASKIA SASSEN, geb. 1949, lehrt Soziologie an der Columbia University und ist dort Mitglied des Committee on Global Thought.
- 1Dieser Aufsatz basiert auf einer groß angelegten Untersuchung, die 2008 unter dem Titel „Das Paradox des Nationalen: Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter“ erschienen ist (vgl. dazu die Buchkritik auf S. 167 ff.). Alle Verweise im vorliegenden Text beziehen sich auf dieses Buch. Dort sind auch die vollständigen bibliografischen Angaben zu finden.
- 2In meiner Gesamtdarstellung (Anm. 1, Kap. 2 und 3) zeige ich auch, in welcher Weise bestimmte mittelalterliche Potenziale für den Nationalstaat konstitutiv waren. Indem sie aus den mittelalterlichen Ordnungen herausgelöst und in die neu entstehende Ordnung des Nationalen versetzt wurden, nahmen sie neue Bedeutung an.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 154 - 162