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01. Dez. 2005

Woran man sich hält

Buchkritik

Dieses Buch wagt Anfänge. Wie oft wird vom Ende des Staates fabuliert. Zwischen Faktizität und Geltung, durch die Brille des anderen, aber aus eigener Perspektive wagt ein Sammelband den genauen Blick auf die Gesetzgebung der EU und kommt dabei zu überraschenden Befunden.

Jenseits der Grenzen des Staates wird die Rechtsbefolgung zur Überlebensfrage des Normativen. Doch was Völkerrechtlern Kopfzerbrechen macht, lässt krisengebeutelte Europäer aufatmen. Denn, so das Ergebnis der in diesem von dem Berliner Politikwissenschaftler Michael Zürn und dem in Florenz lehrenden Juristen Christian Joerges herausgegebenen Band versammelten Studien: Das Recht der EU wird gewissenhafter befolgt als nationale und internationale Gesetzgebung.

„Fast alle Staaten befolgen fast immer fast alle Grundsätze des internationalen Rechts und erfüllen fast alle ihre Verpflichtungen“, schrieb vor einem Vierteljahrhundert der Völkerrechtler Louis Henkin, und kaum ein Buch über „compliance“ kommt ohne diesen wahlweise hoffnungsvoll oder zynisch zu lesenden Satz aus. Weniger oft zitiert wird die daran anschließende, nur auf den ersten Blick triviale Feststellung, dass Rechts- und Politikwissenschaftler von unterschiedlichen Standpunkten aus dieselbe Welt betrachten, wenn sie beobachten, was aus dem Recht im Leben wird – und Henkins Klage über das Unglück, dass sie sich beim Kommentieren und Analysieren dieser Realität nicht einmal gegenseitig hören.

Die Autoren dieses wichtigen Bandes haben, man merkt es ihren Beiträgen an, nicht nur aufeinander gehört, sondern gelegentlich auch durch die Brille des andern geschaut, ohne dabei den eigenen Aussichtspunkt zu verlassen. Im mikroskopischen Blick auf die drei exemplarischen Politikfelder der Marktliberalisierung, der Marktregulierung und der „Durchbrechung“ des Marktes durch Umverteilung ermöglichen die mit Sorgfalt gewählten Fallstudien zu Beihilfenkontrolle, Lebensmittelsicherheit und zum Finanzausgleich zwischen territorial definierten politischen Einheiten einen Vergleich der Rechtsverwirklichung auf verschiedenen Governance-Ebenen.

Im Zusammenspiel von Faktizität und Geltung konturiert sich dabei die Frage nach der Herstellung und Bewahrung von Legitimität neu. Dass die Legitimation europäischer Rechtsakte im komplexen System des institutionellen Gleichgewichts noch lange nicht ausbalanciert ist, belegt die beharrliche Klage über das „Demokratiedefizit“ der EU. Inmitten einer Wirklichkeit, die der Politikwissenschaft den Perspektivenwechsel von der Steuerungs- zur Governancetheorie nahe legt und das Recht mitunter nur noch als transnationales Phänomen erkennen lässt, muss indes auf allen Ebenen des Regierens neu nach Legalität und Legitimität gefragt werden. Dieses Buch wagt Anfänge.

Michael Zürn und Christian Joerges (Hrsg.): Law and Governance in Postnational Europe. Compliance beyond the Nation-State. Cambridge University Press, Cambridge 2005. 297 Seiten, £ 45.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 133.

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