Wissen, was man glauben soll
Religion, Geschichte, Tradition: Mit seiner Bildungsreform setzt Recep Tayyip Erdoğan ein Zeichen im türkischen Kulturkampf um westliche versus islamische Identität. Welche Folgen hat das – auch für die Lernerfolge der Jugend?
Glaubt man dem türkischen Präsidenten, dann hat am 29. Oktober 2023 das Jahrhundert der Türkei begonnen: Am 100. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk ist das Land Recep Tayyip Erdoğan zufolge in eine neue Ära eingetreten. Unabhängig von anderen Mächten und selbstbewusst in der eigenen türkisch-islamischen Zivilisation verankert, so die Vision, behauptet sich die Türkei als Machtzentrum in einer multipolaren Welt und findet so zu ihrer historischen Bedeutung zurück.
Allen konjunkturellen Kursänderungen zum Trotz, die der pragmatische Machtpolitiker Erdoğan in seiner langen Karriere vollzogen hat, zieht sich dieses strategische Ziel als rote Linie durch seine Politik. Es ist von elementarer Bedeutung für deren Verständnis. Dazu gehören an vorderster Stelle der Kulturkampf um westliche versus islamische Identität des Landes und, in Abhängigkeit davon, die Aushöhlung der säkularen Prinzipien von Staatsgründer Atatürk. Doch auch kuriose Details wie der Beschluss vor knapp drei Jahren, in allen Sprachen nur noch den türkischen Landesnamen „Türkiye“ zu verwenden und dies auch von Dritten einzufordern, gehen letztlich auf diesen Anspruch zurück. Die Türkei sei kein Land, das von außen definiert werde, sondern eines, das selber Definitionen präge, hieß es damals in der Begründung für den neuen Sprachgebrauch.
Ewiges Streitthema
Als das Bildungsministerium im Frühjahr mit dem „Bildungsmodell für das Jahrhundert der Türkei“ eine umfassende Reform des Lehrplans an den staatlichen Schulen vorstellte, schwang all das mit. Nun wird das Vorhaben etappenweise umgesetzt. Als erstes wurden nach den Sommerferien die Neuerungen in den Klassen 1, 5 und 9 eingeführt. Andere Jahrgangsstufen sollen später folgen.
Offiziell begründet wird die Reform mit der Notwendigkeit, gewisse Lerninhalte zu vereinfachen, etwa die traditionell hohen Anforderungen in Mathematik, die viele Schüler und Schülerinnen abgehängt zurücklassen. Regierungsgegner argwöhnen allerdings, dass es um viel mehr gehe.
Schon der Name des Reformvorhabens gilt als Hinweis darauf. Anstelle des im Türkischen gebräuchlichen – und wertneutralen – Wortes für Bildung „egitim“ wird hier der religiös angehauchte, aus dem Arabischen stammende Begriff „maarif“ verwendet. Auch sonst wimmelt es von Ausdrücken und Konzepten, die bisher eher aus islamisch-philosophischen Texten oder der Religionspädagogik bekannt waren und unter denen man sich besonders in säkularen Kreisen wenig vorstellen kann.
Republikgründer Atatürk hatte jegliche religiöse Erziehung aus den staatlichen Schulen verbannt
Der neue Lehrplan legt den Fokus auf eine ganzheitliche, wertebasierte Bildung, wobei in allen Fächern Bezüge auf die türkisch-islamische Geschichte, Kultur und Tradition des Landes großen Raum einnehmen. Ebenso wird immer wieder die Eigenständigkeit gegenüber dem Westen hervorgehoben. Der Soziologe Kenan Cayir schreibt deshalb von einer „zivilisatorischen Perspektive“ der Autoren der Bildungsreform.
Als eines der Lernziele für den Geschichtsunterricht in Klasse 9 wird etwa die „Vermittlung nationaler und spiritueller Werte als grundlegende Bezugspunkte der türkisch-islamischen Zivilisation“ genannt. In einem Lehrmittel zur Wissenschaftsgeschichte wird gezielt die Rolle islamischer Gelehrter hervorgehoben.
Während die Würdigung von Persönlichkeiten wie dem persischen Universalgelehrten al-Biruni oder dem osmanischen Astronomen Ali Kuşçu völlig gerechtfertigt ist, werfen faktische Ungenauigkeiten Fragen auf. Der Historiker Yavuz Unat listet in einem Artikel für die Wissenschaftszeitschrift GazeteBilim eine ganze Reihe von Entdeckungen und Erkenntnissen auf, die zu Unrecht islamischen Wissenschaftlern zugeschrieben werden.
Die kulturelle Verortung des Landes jenseits der westlichen Welt, die mit solchen Akzentsetzungen einhergeht, ist hoch politisch. Die Ansichten darüber, in welchen Werten und Denkschulen das Land und seine Kultur verankert sind oder sein sollten, sind in der gesellschaftlich tief polarisierten Türkei schließlich ein ewiges Streitthema.
Rückkehr zur Religion
Die Bildung ist seit eh und je ein Element des türkischen Kulturkampfs. Atatürk unterstellte bereits im ersten Jahr nach der Staatsgründung alle Bildungseinrichtungen der Kontrolle der Regierung und verbannte jegliche religiöse Erziehung aus den staatlichen Schulen. Der bis dahin große Einfluss religiöser Einrichtungen auf das Schulwesen wurde damit gebrochen. Der Republikgründer sah in einem säkularen Bildungssystem ein zentrales Instrument für die Erschaffung eines modernen, westlich orientierten Landes.
Religiös-konservative Kreise haben das stets kritisiert und eine Rückkehr zu einem Schulsystem gefordert, das der islamischen Identität des Landes entspreche. Erdoğans politischer Ziehvater Necmettin Erbakan schrieb in seinen Memoiren, durch die blinde Übernahme eines westlichen Konzepts, das nicht auf die wahren Bedürfnisse der Türkei ausgerichtet sei, werde man nie Bildungserfolge erzielen.
Wie in anderen Politikfeldern hat die AKP in ihren mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht auch in der Bildung die säkularen Prinzipien von Atatürks Republik aufgeweicht. Dazu gehört etwa die Abschaffung des Kopftuchverbots an Universitäten. Wie viele Reformen der Anfangszeit stieß die Maßnahme auch in liberalen Kreisen auf Zuspruch, weil sie Frauen aus konservativen Milieus, die zuvor von ihren Familien nicht an die Universität gelassen worden waren, ein Studium ermöglichte.
Folgenreicher ist aber das starke Wachstum der sogenannten Imam-Hatip- Schulen. Ursprünglich waren diese staatlichen Bildungseinrichtungen auf die Ausbildung von Imamen ausgerichtet. Doch ihre Bedeutung geht längst darüber hinaus. Die Zahl der Absolventen übersteigt den Bedarf an Geistlichen bei Weitem, und es gibt auch religiöse Schulen für Mädchen, denen die Imam-Laufbahn grundsätzlich verschlossen ist. Die mehr als 5000 Einrichtungen dieser Art dienen deshalb einer wachsenden Zahl von Familien als religiös geprägte und nach Geschlechtern getrennte Alternative zum säkularen Schulsystem.
Reform von oben
Als Erfolgsgeschichte galt die AKP-Bildungspolitik dennoch selbst in religiös-konservativen Kreisen nicht. Zu schlecht schneidet die Türkei dafür bei internationalen Vergleichen ab. Kein Kabinettsposten wurde häufiger neu besetzt als der des Bildungsministers. Anders als auf anderen Sektoren gab es auch nie einen umfassenden Entwicklungsplan.
Doch unter Yusuf Tekin, dem neuen Minister, scheint sich das zu ändern. Laut der Erziehungswissenschaftlerin Fatma Gök, die kürzlich einen Sammelband zur Bildungspolitik seit der Republikgründung herausgegeben hat, ist der neue Lehrplan „der erste systematische Versuch der Regierung, das Bildungssystem nach der eigenen, mit den säkularen Grundlagen der Republik eigentlich nicht zu vereinbarenden Weltsicht auszurichten“.
Die Reform steht vornehmlich wegen ihrer inhaltlichen Stoßrichtung in der Kritik von Bildungsexpertinnen wie Gök, aber nicht nur. Es geht auch darum, wie die Neuerungen erarbeitet und umgesetzt werden. Eine Anhörung unabhängiger Experten oder eine breite öffentliche Diskussion fanden nie statt. Das Bildungsministerium schaltete nach Veröffentlichung des Konzepts lediglich eine Webseite frei, über die während einiger Tage Anmerkungen gemacht werden konnten.
Für eine tiefgreifende Auseinandersetzung war das viel zu wenig, auch weil unklar bleibt, auf welche Grundlagen sich die namentlich nicht genannten Autoren des neuen Bildungsmodells beziehen. Und natürlich trägt das autoritäre Klima im Land kaum zu einer offenen Debatte bei. Die Skrupel, die Regierung offen zu kritisieren, sind bei Menschen groß, die wie Erziehungswissenschaftler und Lehrer von staatlichen Gehältern abhängig sind.
Mehrere Jahre Rückstand
Zwar hat das neue Bildungsmodell keine direkten Auswirkungen auf den Hochschulbetrieb. Doch Konflikte wie der an der Istanbuler Elite-Universität Bogazici tragen sehr zu solchen Sorgen bei. Präsident Erdoğan hat an der traditionell unbequemen Hochschule vor drei Jahren erstmals ohne Rücksicht auf Empfehlungen des Kollegiums einen Rektor ernannt. Bis heute finden auf dem Campus regelmäßig Protestaktionen statt. Die Regierung reagiert mit Härte. Die Lehrveranstaltungen der Wissenschaftlerin Gök etwa wurden wegen ihrer Haltung im Konflikt gestrichen. Loyalität zählt mehr als der fachliche Leistungsausweis, so die Botschaft.
Wie das mit dem Aufbau einer Wissensgesellschaft vereinbar ist, bleibt eine unbeantwortete Frage. Erdoğan verweist schließlich gerne auf Zukunftstechnologien „made in Türkiye“ wie die mittlerweile international bekannten Baykar-Drohnen oder das staatlich geförderte Elektroauto Togg. Sogar ein türkisches Weltraumprogramm gibt es seit einigen Jahren.
Es entbehrt vor diesem Hintergrund nicht einer gewissen Ironie, dass der frühere Verteidigungsminister Hulusi Akar, in dessen Amtszeit die Türkei mit rüstungspolitischen Neuentwicklungen für Aufsehen sorgte, kürzlich erklärte, das vornehmliche Ziel der Schulbildung sei nicht die Wissensvermittlung. Wer einem Kind in den ersten Schuljahren die Furcht vor Gott sowie die Liebe zu Vaterland und Flagge beibringe, müsse sich später um den Zögling keine Sorgen machen.
Welche Auswirkungen eine ideologisierte Bildungspolitik auf den Lernerfolg der Schüler hat, ist in der Türkei statistisch erfasst. Im innertürkischen Vergleich schneiden Schüler der religiösen Imam-Hatip-Schulen im Durchschnitt deutlich schlechter ab als ihre Altersgenossen auf säkularen Schulen. Mitunter beträgt der Rückstand beim Lernstoff mehrere Jahre.
Auch deshalb weckt die weltanschauliche Prägung des neuen Bildungsmodells in säkularen, bildungsbewussten Kreisen die Sorge vor einer Qualitätseinbuße. Bereits heute schicken viele Familien aus der Mittel- und Oberschicht ihre Kinder trotz Wirtschaftskrise und teilweise horrenden Schulgebühren auf private Institutionen. Dieser Trend dürfte sich im Jahrhundert der Türkei fortsetzen.
Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 30-33
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