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01. Nov. 2021

Wirksame 
Erinnerung

Warum die Einführung einer Gedenksirene in Deutschland helfen könnte, das Gedächtnis an den Holocaust wachzuhalten – und die Demokratie zu schützen: ein paar Vorschläge.

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Bild: Zeichnung eines Masten mit Sirenen
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Für die Erinnerung an den Holocaust lässt sich die Bedeutung der Zeit, in der wir leben, kaum überschätzen. Immerhin sterben die letzten Überlebenden gerade vor unseren Augen: Meine Großmutter, Yehudit Meisels (geborene Berger), 94 Jahre alt, eine Auschwitz-Überlebende, verstarb dieses Jahr als letzte ihres Jahrgangs in ihrer Heimatregion in den Karpaten.



Gleichzeitig erreicht der Antisemitismus in Europa und anderswo derzeit einen neuen Höchststand. Und die Desinformation in den sozialen Medien, eine weltweite Pandemie und das immer neue Schüren von Hass, sobald der israelisch-­palästinensische Konflikt wieder aufflammt, bilden eine Art heilige Dreifaltigkeit dieser herausfordernden Zeit.



Die Idee zu diesem Essay entstand nach einem antisemitischen Vorfall, den ich am 2. Oktober 2020 in Berlin erlebte. Da ich jahrelang für einen israelischen Sender in der deutschen Hauptstadt gearbeitet hatte, berichtete ich oft über antisemitische Vorfälle, die andere betrafen. An diesem Morgen wurde mir jedoch aus erster Hand, am helllichten Tag und aus heiterem Himmel klar, wie ernst die Situation geworden war.



Ich hielt mich damals in dem Gartenhaus eines israelischen Freundes in Heinersdorf auf, das nahe der Straßenbahnlinie M2 zum Alexanderplatz liegt. Als ich mit meinem Morgenkaffee vor die Tür trat, „überfiel“ mich ein Nachbar, der sich offenbar genau wie ich in der Anlage aufhielt, um die letzten Tage des schönen Wetters zu genießen. Warum ich mich so lange in der Küche aufgehalten habe, fragte er. Das allein war schon seltsam genug und ging ihn offensichtlich nichts an – immerhin hatte ich den Mann noch nie getroffen. Doch dann schlug er kurzerhand vor, ich solle doch nochmal nach dem Gas sehen – und da fiel der Groschen. Als ich sagte, ich könne nicht ganz folgen, meinte er: „Ihr hattet doch früher auch Probleme mit dem Gas“ und kicherte.



Die Bemerkung ließ mich kalt. Doch mein Gefühl der Sicherheit an dem Ort, an dem ich die nächsten paar Nächte verbringen sollte, war plötzlich erschüttert. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich gegangen. Der Fall wurde nicht gemeldet und tauchte auch nicht in der Liste der 1004 antisemitischen Vorfälle auf, die 2020 in Berlin registriert wurden, was übrigens einen beunruhigenden Anstieg um 118 Fälle gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Der „Gas-Gag“, den abgesehen von einigen Freunden und Nachbarn kaum jemand mitbekommen hat, ist mittlerweile so gut wie verpufft. Und doch steht er sinnbildlich für die dunklen Wolken, die sich über den Juden in Deutschland zusammenbrauen: antisemitische Kommentare bestenfalls, körperliche Angriffe schlimmstenfalls.



Moral und Praxis

Seit ihren Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg bewegt sich die Erinnerungskultur in Deutschland zwischen zwei verschiedenen und durchaus gegensätzlichen Welten: der Moral und der Praxis. In einer Pendelbewegung schwankt sie zwischen einem Diskurs über Verantwortung und Schuld einerseits und einer Debatte über ihre pragmatischen Auswirkungen auf Sicherheit, Wirtschaft und Diplomatie andererseits.



Überall wird in diesen Kontexten die deutsche Pflicht zitiert, einen Beitrag zur nationalen Sicherheit eines fremden Staates zu leisten: Israel. Doch was ist eigentlich mit Deutschland selbst? Dort bleibt die Erinnerung auf den Bereich der Ethik und der Geschichte beschränkt und wird gern mit einem Versprechen verbunden, das sich längst in ein feierliches Ritual verwandelt hat: „Nie wieder“. Der konkrete Beitrag, den die deutsche Erinnerungskultur heute für die nationale Sicherheit Deutschlands leistet, wird weitgehend ausgeblendet. Dabei hat sie in der Nachkriegszeit (West)Deutschlands Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft überhaupt erst ermöglicht.



In diesem Aufsatz stelle ich deshalb die folgende These auf: Die deutsche Erinnerungskultur, die aus einem moralischen Pflichtgefühl heraus entstanden ist, befindet sich – in diesem Augenblick und vor unser aller Augen – in einem tiefgreifenden Wandel. In einer Zeit, in der die Demokratie unter populistischen Angriffen immer brüchiger wird und die letzten Überlebenden sterben, die die Schrecken des Holocaust hautnah miterlebt haben, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir über die Zukunft der Erinnerungskultur und ihre veränderte Bedeutung für die deutsche Öffentlichkeit selbst diskutieren und sie neu denken.



Dass junge Deutsche auf die richtige Art und Weise über Deutschlands Vergangenheit lernen, wird für Deutschland mehr und mehr zu einer sicherheitspolitischen Notwendigkeit – und derzeit lernt man hierzulande weder das Entscheidende, noch lernt man es in ausreichendem Maße.



In einer von den sozialen Netzwerken geprägten Zeit, in der Halbwahrheiten und regelrechte Lügen im Namen einer Subkultur von Bewertungen und Clickbait immer stärker verbreitet werden, ist es leichter denn je, fremdenfeindliche, antidemokratische und antisemitische Inhalte in Umlauf zu bringen. Während die Erinnerungskultur in den internationalen Beziehungen bisher (wie der Zusatz „Kultur“ selbst schon andeutet) mit Soft Power – also mit Begriffen wie Ethik, Geschichte und Identität – in Verbindung gebracht wurde, erleben wir gegenwärtig, wie diese Kultur mitunter in den Bereich der „harten Macht“ übergeht, der durch rohe Gewalt und ein Interesse an nationaler Sicherheit gekennzeichnet ist.



Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist die Aufklärung über den Holocaust, seine Wurzeln und seine Folgen eine nationale Priorität ersten Ranges und für den Schutz aller lebens- und freiheitsliebenden Menschen in Deutschland unerlässlich. Wird diese Notwendigkeit nicht anerkannt, gerät die Zukunft Deutschlands als liberale, demokratische Republik in Gefahr.



Pandemie und Antisemitismus

Im August 2020 sahen wir bei einer sogenannten Corona-Demonstration Hunderte von rechtsextremen Demonstranten vor dem Reichstagsgebäude, von denen einige die Reichskriegsflagge schwenkten und versuchten, in das Parlament einzudringen. Es war entscheidend, diesen Vorfall in seinem historischen Kontext zu betrachten. Für jeden, der die deutsche Vergangenheit kennt, bedeutete diese Aktion eine weitaus größere Sicherheitsbedrohung als andere Proteste gegen den Lockdown.



Für Kinder im Schulalter und insbesondere für Lehrer, also für Menschen, die die jüngste Einwanderungswelle nach Deutschland miterlebt haben, ist es zwingend erforderlich, dass sie beim Unterrichten der deutschen Vergangenheit die ausgetretenen Pfade verlassen. Nicht nur, damit die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät, sondern auch, um potenziell den Sicherheitsbehörden die Arbeit zu erleichtern und den demokratischen Charakter der Bundesrepublik für die Zukunft zu sichern.



Die Tatsache, dass der Begriff Erinnerungskultur eher mit einer alten moralisch-historischen Pflicht verbunden wird als mit der Moderne, führt dazu, dass viele Deutsche und insbesondere viele junge Menschen sich zwei Jahrzehnte nach Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mit ihm identifizieren können – und dieses Konzept, das unzertrennlich mit dem Holocaust verwoben ist, schlimmstenfalls sogar als befremdlich, einschüchternd oder furchteinflößend empfinden.



Infolgedessen hegen viele junge Deutsche auch oft ein Gefühl der Entfremdung und Angst, wenn es um jene Juden geht, denen viele von ihnen nie begegnet sind. Während meiner Zeit als parlamentarischer Assistent im Bundestag 2015 habe ich die große Kluft zwischen den hochtrabenden offiziellen Plattitüden über den kompromisslosen Kampf gegen den Antisemitismus, dem erinnerungskulturellen Pflichtbewusstsein und der tatsächlichen Stimmung auf den deutschen Straßen tagtäglich beobachtet. Dort heißt es nämlich: „Warum sollen wir uns über die Verbrechen der Nazis vor drei bis vier Generationen aufregen?“ und „In jedem Krieg werden doch Verbrechen begangen“ und „Das war doch auch für uns kein Zuckerschlecken“.



Deshalb will ich drei mögliche Wege aufzeigen, um die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland sowohl lebendig als auch relevant zu halten. Dabei konzentriere ich mich insbesondere auf Kinder im Schulalter, da ich der Überzeugung bin, dass gesellschaftlicher und politischer Wandel gerade mit Investitionen in die Jugend erleichtert werden kann. Lassen Sie uns die Gelegenheit also nutzen, um uns Bundeskanzler Konrad Adenauers Worte aus einer Rede von 1951 in Erinnerung zu rufen – und sie entsprechend anzuwenden: „Die Bundesregierung hält es für dringend erforderlich, dass die Kirchen und die Erziehungsverwaltungen der Länder in ihrem Bereich alles daran setzen, damit der Geist menschlicher und religiöser Toleranz im ganzen deutschen Volk, besonders aber unter der deutschen Jugend, nicht nur formale Anerkennung findet, sondern in der seelischen Haltung und praktischen Tat Wirklichkeit wird. Hier liegt eine wesenhafte Aufgabe der zur Erziehung berufenen Instanzen vor, die aber freilich der Ergänzung durch das Beispiel der Erwachsenen bedarf.“



Eine Holocaust-Gedenksirene

Mein erster Vorschlag: die Einführung der Gedenksirene in Deutschland. Die Bedeutung der sogenannten Gedenksirene, die in Israel zum Holocaust-Gedenktag ertönt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die zwei Minuten, in denen die Sirenen vernommen werden können, sind wohl die wichtigsten und prägendsten Minuten des gesamten Gedenktags. Tatsächlich erzielt die einfache Übung, die an jedem Holocaust-Gedenktag um 10 Uhr beginnt, nämlich eine Wirkung, die andere – mitunter aufwändigere und kostspieligere – Maßnahmen und Rituale nur selten erzielen, und auch die besten Lehrpläne nicht.



Israel ist 2021 ein zerrissener Staat, der in verschiedene Stämme gespalten ist, um den ehemaligen Präsidenten Reuven Rivlin zu zitieren. Und die zwei Minuten, in denen die Sirene ertönt, sind die letzte heilige Kuh des israelischen Einheitsgefüges. Alles kommt zum Stillstand: Autos auf der Autobahn, Fernsehsendungen, die Industrie, militärische Übungen und auch Zeremonien und der Unterricht in der Schule. Von den Kindergärten bis zu den Altersheimen: Für zwei Minuten im Jahr halten alle Menschen inne, um der sechs Millionen zu gedenken.



2009 reiste ich, so wie viele junge Israelis, die gerade ihren Militärdienst beendet hatten, in den Fernen Osten. In jenem April kam ich in Pokhara, Nepal, an, einer Stadt mit einem legendären Ausblick und dem Ausgangspunkt schlechthin für Trekkingtouren in das Annapurna-Gebirge. Ich war also so weit weg vom Holocaust und entsprechenden Erinnerungen wie nur möglich. Dennoch ging ich am 21. April um 10 Uhr israelischer Zeit nach draußen und blieb zwei Minuten lang stehen: ein junger Mann, umringt von erstaunten nepalesischen Passanten. Ein Fingerzeig dafür, wie bedeutsam dieses Ritual im Leben der Israelis ist. Selbst Tausende Kilometer entfernt von dem Ort, an dem die Sirenen ertönten, stand ein 24-Jähriger zu Ehren der Opfer still.



Als ich die Idee, die Gedenksirene auch in Deutschland einzuführen, zum ersten Mal im Gespräch mit einem deutschen Journalistenkollegen – und einem echten Israel-Freund – erwähnte, reagierte dieser nervös: „Aber was ist, wenn die Sirene ertönt und die Menschen da draußen in Deutschland gleichgültig bleiben und weitermachen wie bisher? Das wäre eine katastrophale Botschaft, die furchtbar nach hinten losgehen könnte!“ Der Mann war nicht übermäßig pessimistisch: Die Einführung einer Gedenksirene in Deutschland sollte natürlich sorgfältig überlegt sein, Detailfragen nicht außer Acht lassen und auf dem Verständnis fußen, dass die deutsche und die israelische Realität offensichtlich nicht dieselbe ist. Zudem sollte die Einführung schrittweise erfolgen.



Deutschland unterscheidet sich natürlich stark von Israel: Die Republik ist ungleich größer und besteht aus 16 Bundesländern, von denen jedes einzelne seine eigenen Regeln, sein eigenes Bildungssystem und wahrscheinlich auch sein eigenes Sirenen-Betriebssystem hat. Die Gedenksirene ist dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern eine Art dramaturgisches Instrument – und ein äußerst ungewöhnliches noch dazu. Sie bringt einen verstörenden Klang in den öffentlichen Raum und damit in die private Sphäre eines jeden Bürgers. Nicht zuletzt deshalb muss sie auch gewissenhaft genutzt werden.



Am sinnvollsten wäre meiner Meinung nach ein „Schools First“-Ansatz. Gleichzeitig könnte die traditionelle Gedenkzeremonie, die bereits jedes Jahr am Morgen des 27. Januar im Bundestag abgehalten wird, mit dem zweiminütigen Ertönen der Gedenksirene verbunden werden. Dies könnte dazu beitragen, die Tradition auch in den Schulen der Republik zu verankern. Die Sirene könnte in Schulklassen Diskussionen auslösen und einen Anlass bieten, die Kenntnisse der tragischen Ereignisse, die bereits viele Jahrzehnte zurückliegen, besser zu bewahren. Darüber hinaus verdeutlicht der monotone, eindringliche Klang der Sirene auf erschreckende Weise den extremen, noch nie dagewesenen Charakter der Ereignisse, die im Unterricht thematisiert werden sollen und die mit nichts vergleichbar sind, was wir kennen oder in Zukunft kennenlernen wollen.



Der Vorschlag findet durchaus Anklang. 2015, als ich selbst noch in Berlin lebte, schloss ich meine Kolumne für die Jüdische Allgemeine mit den Worten: „Um die Besonderheit der Shoah zu betonen, sollte Deutschland einen Gedenktag, an dem bundesweit Sirenen zu hören sind, einführen. In Israel geschieht das schon seit vielen Jahrzehnten.“ Während ich diesen Aufsatz schreibe, bereiten sich die politischen Parteien in Deutschland auf die Bundestagswahl 2021 vor, und der Spiegel hat einen Überblick über die verschiedenen Parteiprogramme veröffentlicht. Zwischen den Zeilen zur Klima- und Wirtschaftspolitik und zu Hartz-IV konnte man dabei die folgende erfreuliche Aussage entdecken: „Manchmal sind es aber auch kleine Ideen, die eine große Wirkung entfalten können. Seit Jahren diskutieren Pädagogen und Politiker, wie man die Erinnerung an den Holocaust weniger elitär gestalten kann. Das junge FDP-Mitglied Phil Hackemann hatte dazu eine schöne Idee, die es ins Wahlprogramm geschafft hat: ‚Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar soll aufgewertet werden, indem wir eine bundesweite Schweigeminute am Vorbild des israelischen Jom haScho’a einführen.‘ In Israel ruht am Jom haScho’a für eine Minute das gesellschaftliche Leben, dazu erklingen Sirenen. Egal, ob die FDP an der nächsten Regierung beteiligt ist oder nicht – diese Idee sollte man umsetzen.“



Die Einführung der Gedenksirene an Berliner Schulen, in denen die Kinder syrischer, israelischer und natürlich deutscher Eltern Schulter an Schulter in der Klasse stehen und so an die Taten erinnern können, die in derselben Stadt mit dem Ziel begangen wurden, sie von „Juden“ (und allen „nichtarischen Rassen“) zu säubern, wäre ein Schritt, der eine klare Botschaft vermittelt.



Natürlich müssen wir dabei aber auch der Realität ins Auge sehen: Einige dieser Schüler kommen aus Ländern, in denen Adolf Hitler immer noch als Held verehrt wird. Andere sind Kinder deutscher Eltern, die Björn Höcke von der AfD unterstützen, den Mann, der das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins als „Denkmal der Schande“ bezeichnete. Gleichzeitig könnten zwei Minuten der Gedenksirene an Schulen jedoch genau deshalb eine gemeinsame Basis schaffen für Schüler mit ganz unterschiedlichen und mitunter sogar gegensätzlichen Hintergründen. Buchstäblich und in moralischem Sinne könnten sie gemeinsam gegen die Schrecken aufstehen, die von dem Land ausgingen, in dem sie aufwachsen. Zudem würde die Sirene die Lehrer dazu veranlassen, für die folgenden Unterrichtsstunden einen entsprechenden Lehrplan zu entwerfen.



Israelisch-deutsche Jugendbegegnungen

In diesen Lehrplan könnten dann, mein zweiter Vorschlag, deutsch-israelische Jugendbegegnungen als fester Bestandteil aufgenommen werden.Vor zehn Jahren verbrachte ich einen Sommer in Bremen, um moderne deutsche Literatur mit Schwerpunkt auf Günter Grass’ Werk zu studieren. Im Rahmen eines DAAD-Stipendiums traf sich meine internationale Studierendengruppe dort mit einheimischen Studierenden, die in der Hansestadt geboren und aufgewachsen waren. Eines Abends gingen wir zusammen ein Bier trinken, und ich spendierte einem der Studenten eine Flasche bremisches Pils. Als er darauf bestand, mir das Geld zurückzuzahlen, sagte ich ihm (weil ich es in dem Moment eben so empfand), dass das Bier auf mich gehe. Verblüffung. Er hatte noch nie einen Juden getroffen, aber er „wusste“, dass Juden mit Geld sehr sparsam umgehen. Er brachte sein Erstaunen zum Ausdruck, da ihm der Gedanke nicht rassistisch schien, sondern offensichtlich. Die Juden, von denen er gehört hatte, waren geizig; auf keinen Fall würde ihm ein Jude also ein Bier spendieren. Für den Preis eines einzigen Euros hatte ich sein Vorurteil jedoch von jetzt auf gleich zerstört.



Die Moral von dieser Geschichte: Die Wirkung informeller Begegnungen unter jungen Menschen lässt sich nicht beziffern, und je früher sie stattfinden, desto größer ist ihr potenzieller Erfolg. Diese Erfahrung, die der Bremer Student damals im Universitätsalter machte, hätte er schon in der Sekundärstufe machen müssen, im Rahmen eines für das Abitur obligatorischen Austauschprogramms.



Die Voraussetzungen dafür, solche Begegnungen zu fördern, sind bereits gegeben: etwa durch die existierenden deutsch-israelischen Städtepartnerschaften, die tatsächlich auch der Grund dafür waren, dass ich im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal nach Deutschland kam und schlussendlich mehr über die gemeinsamen Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen erfahren wollte. Es war diese eine Woche in Mülheim an der Ruhr (der Partnerstadt meiner Heimatstadt Kfar Saba) im Jahr 2002, die mich dazu veranlasste, Deutsch zu lernen. Der intensive und faszinierende Aufenthalt bei einer Familie in einer Stadt, in die mich keine anderen Umstände hätten führen können, prägte meinen Blick auf das moderne Deutschland und beeinflusste den weiteren Verlauf meines Lebens.



Allerdings zählte meine Schüleraustauschdelegation gerade einmal 20 Mitglieder, von insgesamt über Hundert Jugendlichen, die in meinem Jahrgang am Gymnasium waren. Wenn die Initiative auf alle Schülerinnen und Schüler oder zumindest auf alle interessierten Schüler ausgeweitet und vom Staat bezuschusst würde, damit Familien mit geringerem Einkommen nicht außen vor blieben, dann könnte sich in Deutschland tatsächlich ein umfassender gesellschaftlicher Wandel in Bezug auf das Judentum (und die Wahrnehmung Deutschlands in Israel) vollziehen. Allein aus meiner persönlichen Erfahrung heraus bin ich mir dessen absolut sicher.



Jüdisches Leben in Deutschland feiern

Judentum ist mehr als Auschwitz, deshalb mein dritter Vorschlag: jüdisches Lebens in Deutschland durch die Feier jüdischer Feste in der Schule sichtbarer zu machen.



Stolpersteine auf Gehwegen zum Gedenken an jüdische Opfer, Sicherheitsvorkehrungen für Synagogen und jüdische Schulen rund um die Uhr; Gedenkreisen nach Auschwitz oder in andere ehemalige Vernichtungslager: Auf der einen Seite sind dies willkommene Initiativen, die die Erinnerung an den Holocaust und das Sicherheitsgefühl der in Deutschland lebenden Juden fördern sollen. Andererseits ist es durchaus ein Problem, wenn dies die einzigen Berührungspunkte mit dem Judentum sind, die ein junger Deutscher haben kann. Denn all dies sind Maßnahmen, die Juden und das Judentum in den Zusammenhang von Verfolgung und Bedrohtheit stellen, was wiederum den Anschein erwecken kann, dass die Bevölkerung einem ständigen Sicherheitsrisiko ausgesetzt sei. Fröhliche Feste? Glorreiche Traditionen? Die Aussicht auf Veränderung? All das wird in Deutschland so gut wie nie mit dem Wort „Jude“ in Verbindung gebracht.



Auch hier könnte und sollte die Lösung im Bildungssystem ansetzen. Stellen Sie sich vor, ein fröhliches Fest wie das Purimfest würde in den pädagogischen Kalender aufgenommen. Stellen Sie sich vor, deutsche Kinder würden sich für den Kindergarten und die Schule schick anziehen. Stellen Sie sich eine Menora vor, die während des Lichterfests Chanukka entzündet wird, das zur gleichen Zeit wie Weihnachten gefeiert wird. Solche symbolischen Bräuche könnten einen tatsächlichen sozialen Wandel bewirken. Und wenn Kinder mit Geschichten über die fröhliche und, Gott bewahre, lustige Seite jüdischer Traditionen nach Hause gehen, dann werden sie vielleicht auch die Wahrnehmung ihrer Eltern vom Judentum und von den Juden verändern.



Globale Bedeutungen

Der 6. Januar 2021 war für Washington D.C. ein traumatischer Tag. Die Bilder des Mobs, der das US-Repräsentantenhaus stürmte, schockierten die Verfechter von Demokratie, Liberalismus und Freiheit in der ganzen Welt. Bei mir selbst prägte sich damals ein ganz bestimmtes Bild ein, das mit diesem Text zu tun hat: Es ist das Bild eines Randalierers, der ein T-Shirt mit Totenkopf­aufdruck und der Aufschrift „Camp Auschwitz“ trägt. Darunter steht, etwas nachlässig übersetzt: „Work Brings Freedom“. Ich möchte glauben, dass der später von den Behörden ausfindig gemachte und verhaftete Mann nicht genau wusste, was es mit dem Ort, den sein T-Shirt da feierte, auf sich hat. Einem Ort, an dem 1,5 Millionen Menschen oft kurz nach ihrer Ankunft ermordet wurden, darunter Kinder im Babyalter, die vergast wurden.



Weder der deutsche Nachbar, der sich nach meinen Gewohnheiten beim Kochen mit Gas erkundigte, noch der Auschwitz-T-Shirt-Krawallmacher Robert Keith Packer aus Washington D.C. haben meine in den Karpaten geborene Großmutter Yehudit kennengelernt. Oder Oma Mania aus Radom, Polen, die die Nummer A-24317 auf ihrer Hand trägt, oder ihren Mann Avraham, den Überlebenden des Ghettos von Lodz. Hätten sie jedoch aktiv etwas über die Vergangenheit gelernt, hätten sie als Kinder gerade stehen müssen und der Gedenksirene lauschen, hätten sie die schönen Seiten des Judentums kennengelernt, hätten sie als Teenager an einem Schüleraustausch mit Israelis teilgenommen oder die Geschichten der Überlebenden gehört, hätten sie die dritte und vierte Generation von Israelis kennengelernt, dann hätten sie – so will ich meinen – vielleicht tatsächlich anders gehandelt.

 

Kurz bevor er so tief sank, nach einer verfassungsgemäß verlaufenen demokratischen Präsidentschaftswahl in einem Nazi-Vernichtungslager-T-Shirt das Abgeordnetenhaus seines Landes zu stürmen, hätte Packer vielleicht innegehalten. Und auch sein deutsches Pendant, der Mann, der vor dem Reichstagsgebäude die Reichskriegsflagge schwenkte, hätte vielleicht anders gehandelt.



Klar ist für mich, dass die Erinnerungskultur neu gedacht werden muss. Das rituelle Rezitieren des Mantras „Nie wieder“, das Politikerinnen und Politiker auf schlechtbesuchten Veranstaltungen und Zeremonien praktizieren, muss abgelöst werden – durch wirksame Bildungsangebote und direkte Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur. Im Zeitalter der sozialen Medien ist dies der effizienteste und vielleicht sogar der einzige Weg, um Hass und Ex­tremismus einzudämmen und so schließlich auch eine der größten Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit abzuwenden.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

 

Dor Glick absolvierte nach seinem Bachelor an der Hebrew University of Jerusalem in International Relations & History sein Masterstudium in Theory and History of International Relations an der London School of Economics. Mit besonderer Auszeichnung für seine Dissertation „Not as Lamb to the slaughter: Non-traditional forms of resistance in the Lodz Ghetto“ schloss er 2014 sein Studium ab. Dor Glick verbindet viel mit den USA, Israel und Deutschland: Zuletzt war er Knight-­Bagehot Fellow für Wirtschaft und Wirtschaftsjournalismus an der Columbia University in den USA. In Israel hat er bei zahlreichen Medienhäusern, u.a. Haaretz und Channel 10, als Korrespondent, Journalist und Redakteur gearbeitet. In Deutschland war er Fellow bei der Welt und parlamentarischer Assistent des MdB Volker Beck, dem Vorsitzenden der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 7, November 2021, S. 6-13

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