Interview

01. Juli 2020

„Wir sind in einem großen Krieg“

Ein Gespräch mit Peter Pomerantsev

Die Pandemie verschärft Kämpfe, die schon vor Corona tobten: Es geht um Wahrheit und Fakten, Vertrauen und Institutionen – und um die letzte Bastion der Aufklärung.

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Bild_ Porträt Peter Pomerantsev
Peter Pomerantsev ist Visiting Senior Fellow am Institute of Global Affairs der London School of Economics. Er forscht über die Manipulation von Informationen und die Entwicklung von Medien. Sein aktuelles Buch heißt „Das ist keine Propaganda“ (DVA). Der Brite, 1977 in Kiew geboren, schreibt u.a. für The Atlantic und die Financial Times. Das Gespräch fand in einer virtuellen Konferenz statt.
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IP: In Ihrem jüngsten Buch sprechen Sie von einem „Krieg gegen die Realität“. Befeuert die Corona-Pandemie diesen Krieg?

Peter Pomerantsev: Kriegsmetaphern können helfen, die Sinne zu schärfen, aber sie sind auch sehr gefährlich, nehmen wir nur den Begriff „Informationskrieg“. Er untergräbt die Möglichkeit, eine kritische und ausgewogene Debatte zu führen. Wenn wir alles als Informationskrieg bezeichnen, dann fungiert Sprache als Manipulationswerkzeug und es gibt keinen Platz mehr für Diskussionen. Nicht zuletzt deshalb spricht die russische Regierung gerne zynisch von einer „Welt im Informationskrieg“. Worüber wir aber eigentlich sprechen sollten, ist der Angriff auf die ungeschriebene Verfassung der aufgeklärten Welt. Die Demokratien des 21. Jahrhunderts basieren auf der Idee, dass eine kritische Debatte wichtig ist; dass man diese Debatte auf der Grundlage von Beweisen gewinnen kann; und dass die Gegenseite in diesem Fall einlenken würde – oder zumindest lügen müsste, wenn sie es nicht täte.



Gleichzeitig gab es in der Vergangenheit eine Realität, die von den allermeisten anerkannt und geteilt wurde.

Ja – diese wurde zweifelsohne von den Medien, von Universitäten und anderen Institutionen gehütet, ein Zustand, der ebenfalls kritisch gesehen werden muss und kritisch gesehen wurde. Dadurch entstand eine Art Gleichgewicht zwischen Diversität und Kohärenz, ein Balanceakt, mit dem sich alle Gesellschaften schwertun. Für eine Zeit funktionierte das gut, doch dann zersplitterte der Prozess. Einige der Gründe dafür sind offensichtlich: Etwa die Tatsache, dass wir heute mehr Medien haben als damals. Andere sind subtiler, unter anderem historische Entwicklungen und der Verlust einer gemeinsamen Zukunftsvision. Und dann wäre da noch die philosophische Dimension, die Bastardisierung der postmodernen Denke, die dazu geführt hat, dass das Vertrauen der Menschen in einen beweisbasierten Diskurs gelitten hat. All diese Prozesse sind bis zu einem gewissen Grad natürlich, aber sie werden von Propagandisten zusätzlich befeuert und instrumentalisiert.



Und nun verschärft die Corona-Pandemie die Situation noch weiter?

Das Corona-Virus ist in diesem Kontext wirklich faszinierend. Es treibt das Drama auf die Spitze. Wie Sie wissen, braucht man in der Dramaturgie den dritten Akt, in dem die Erzählfäden zusammenkommen und alles in einer großen Konfrontation kulminiert. Die Corona-Pandemie wirkt genauso: Alles, was vorher war – die Desinformation, der Vertrauensverlust in politische Institutionen, das Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Fakten – wird durch sie noch weiter verschärft. All diese Dinge sind jetzt nicht mehr nur politische Risiken, sondern auch Risiken für die öffentliche Gesundheit.

 

Das klingt nach einer Auseinandersetzung, die immer gefährlicher wird.

Ja, wobei das Corona-Drama neben all diesen Prozessen natürlich auch andere Entwicklungen angestoßen hat, etwa dass Menschen zusammenkommen und sich dabei – so wie meistens in Krisen – an Autoritäten wenden. Wir haben beispielsweise gesehen, wie Angela Merkels Umfragewerte in die Höhe schnellten, wie die italienische Regierung, die zuvor gänzlich unbeliebt war, plötzlich Zuspruch erhielt und wie zwischenzeitlich 70 Prozent der britischen Bevölkerung angaben, ihrer Regierung zu vertrauen. Das gab es vorher noch nie. Das ist natürlich sehr interessant. Es gibt eben keine Realität, die realer ist als der Tod. Der Tod ist die ultimative Wahrheit. Wenn man nur Relativist genug ist, dann lässt sich normalerweise alles um uns herum dekonstruieren. Doch der Tod bleibt eine objektive Realität. Deshalb hat die Corona-Krise  auch dazu beigetragen, dass sich Menschen wieder um eine gemeinsame Faktenbasis und Realität versammeln.    



Die Realität kehrt also sozusagen in der Form des Todes wieder?

Es gibt da ein Spannungsfeld, eine Art letzte Schlacht um die Realität. Auf der einen Seite stehen all jene, die sich für wissenschaftliche Beweise und einen faktenbasierten Diskurs einsetzen, auf der anderen Seite versammeln sich die Anhänger von Halluzinationen und Verschwörungstheorien im Namen der Anti-Realität. Wir befinden uns inmitten eines großen Krieges, von dem ich nicht weiß, ob er zu einem Ergebnis führen wird. Vielleicht wird er in ein paar Monaten vorübergehen, genau wie eine Halluzination.

 

Warum sind liberale Gesellschaften so anfällig für Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen?

Systeme, in denen volle Informationsfreiheit herrscht, sind immer riskant – und sie sollten auch riskant bleiben. Wenn Leute mich fragen, wie wir den Informationskrieg gegen Russland gewinnen, dann sage ich ihnen meist, dass wir in echten Schwierigkeiten stecken würden, wenn wir siegreich wären. Statt den Informationskrieg sollten wir nämlich eine ganze Reihe von anderen Kriegen gewinnen … Demokratien sind offene Systeme und nicht dazu da, Falschinformationen zu regulieren. Es ist den Menschen gestattet, Mist zu erzählen, das ist Teil der Demokratie, Freiheit ist Teil der Demokratie. Nicht zuletzt deshalb wird immer gern die Metapher des „free marketplace of ideas“ bemüht, in dem die besten Ideen sich durchsetzen. Zu diesem Zeitpunkt ist aber natürlich nicht klar, ob dieses System sich bewähren wird. Das macht die gegenwärtige Situation so gefährlich.

 

Welche Rolle spielen Verschwörungstheorien im politischen Diskurs?

Eine große. Das gilt aber nicht nur für Demokratien. Verschwörungstheorien findet man überall: in Diktaturen, in Failed States, im Nahen Osten. Meiner Meinung nach basieren sie auf zwei Faktoren. Erstens helfen sie Menschen, die sich machtlos fühlen, und zweitens dienen sie als rhetorische Konstrukte, um politische Identität herzustellen. Nach dem Motto: „Da sind die anderen und hier sind wir.“ Es gibt Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben und Menschen, die es nicht tun. Es geht also weniger um den Inhalt der Theorien als um eine Art Abgrenzung.

 

Das beobachten wir allerdings schon seit geraumer Zeit …

In einer Welt, in der die alte Parteienlandschaft zusammenbricht, in der alte soziale Rollen von extremen Umwälzungen in den Medien und in der globalisierten Wirtschaft durchbrochen werden und in der ganze Industriezweige verschwinden, ist Identitätsbildung das Kerngeschäft aller politischen Bewegungen. Das gilt sowohl für Islamisten als auch für Rechte als auch – leider – für die neue Linke. Wer auch immer sich gerade als Gruppe formiert, kann Verschwörungstheorien zu seinem Vorteil nutzen. Diese Entwicklung gab es tatsächlich schon länger, aber jetzt betrifft sie auch den Westen. Er wird langsam ähnlich chaotisch und ideologisch bespielbar wie der Rest der Welt. In Russland konnte man dieses epistemische Chaos und den Aufstieg der verschwörungstheoretischen Politik schon in den 1990er Jahren beobachten. Jetzt sieht man das Chaos überall.



Vor einigen Jahren haben Sie eine radikale Neuausrichtung der Medien gefordert, um die Öffentlichkeit gegen alle Arten von Gerüchten und Falschnachrichten zu schützen. Ist das geschehen?

Um ehrlich zu sein, hat es zuerst einmal ein Erwachen gegeben. Wir haben eingesehen, dass die politische Polarisierung ein Problem ist. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit hieß es noch, dass die Polarisierung zur Politik gehöre und kein Problem sei. Doch jetzt haben wir verstanden, dass das nicht der Fall ist; dass es hier nicht um eine themenbasierte Polarisierung geht, sondern um den Umstand, dass immer mehr Menschen in ihren eigenen Realitäten leben, in höchst emotionalen und aggressiven Filterblasen, in denen der Dialog unmöglich wird. Mittlerweile haben wir auch verstanden, dass manche Medien spezifische Filterblasen erreichen können und dass das nicht unwichtig ist.

 

Wo können sich die Medien verbessern, wenn es um die Berichterstattung zu komplexen Themen geht?

Wenn es darum geht, die Qualität von politischen Debatten zu fördern, dann kann man beispielsweise die Qualität der Sprache analysieren. Nutzt man toxische Vokabeln oder einen zivilen Umgangston? Man kann sich auch fragen, welche Art von Artikeln zu einer faktenbasierten und respektvollen Debatte beitragen. Da gibt es kein Patentrezept, aber in jedem Fall gibt es Mittel und Wege. Wer etwa konstruktive Nachrichten mit viel Kontext liefert, der fördert einen demokratischen Diskurs. Das Gegenargument ist natürlich, dass solche Nachrichten keine Aufmerksamkeit generieren; dass Klicks und Shares vor allem von Sensationsmeldungen abhängen, von Menschen, die sich gegenseitig anschreien. All das geht zu einem großen Teil auf die Internet Economy zurück …



… die auf Likes und Shares basiert …

Ja, und die davon lebt, dass Menschen ihre Standpunkte verbreiten. Wut und Hass sind in einer Wirtschaft, die auf sozialen Interaktionen basiert, Erfolgsrezepte. Wenn sich in den Medien alles nur noch um Werbung und Klicks dreht und wir in einem politischen Ökosystem leben, das Polarisierung fördert, dann fällt es den Medien natürlich schwer, ihr Geschäftsmodell zu ändern. Sie wissen, wie man mehr Vertrauen schaffen könnte, aber das System macht einen solchen Schwenk hin zu anderen Inhalten nicht wirklich lukrativ. Man braucht also entweder Medien ohne Existenzängste oder man muss die sozialen Medien umbauen. Ein kleiner Schritt wäre es beispielsweise, den Like-Button in einen Respect-Button umzuwandeln.

 

Müsste im Grunde also das Internet komplett neu justiert werden?

Es gibt nicht viele Medien, die so ein Risiko tragen können. Viele versuchen einfach nur zu überleben. Ich träume von einem Tag, an dem die Verantwortlichen von CNN und MSNBC aufwachen und ihren Beschäftigten sagen: „Euer Job ist heute nicht, eure Filterblase gegen Trump aufzuwiegeln, sondern euer Job heute ist, ein paar Zuschauer von Fox News abzuwerben, indem ihr versucht, ihre Standpunkte zu verstehen und interessante Inhalte für beide Seiten des politischen Spektrums zu produzieren.“ Wenn man nach Großbritannien und in die USA schaut, dann merkt man, dass die Menschen in ihren politischen Ansichten – trotz der angeblichen Polarisierung – gar nicht so weit auseinanderliegen. Beim Thema der Waffenkontrolle, zum Beispiel, oder bei Immigrationsfragen. Die Gruppen sind nicht durch ihre Meinungen voneinander getrennt, sondern durch Identitätsfragen, die alles dominieren und einen faktenbasierten Diskurs unmöglich machen.

 

Halten Sie eine Regulierung von Unternehmen wie Facebook und Twitter vor diesem Hintergrund für unumgänglich?

Das ist sowohl unumgänglich als auch notwendig. Die Frage ist aber, von welcher Art der Regulierung wir sprechen. Was wollen wir erreichen? Ich spreche mich für einen Regulierungsansatz aus, der Transparenz in den Vordergrund stellt und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Dazu gehört auch das Recht zu verstehen, wie die Informationslandschaft aufgebaut ist. Es gab natürlich schon immer unterschiedliche Informationsquellen, das ist nicht neu. Doch früher wusste man, wem welche Zeitschrift gehörte. Man konnte sich kritisch mit den Medien auseinandersetzen und Grundsatzdebatten führen. Im Internet ist das unmöglich. Ich habe als Nutzer keine Ahnung, warum mir Facebook oder Google bestimmte Inhalte zeigen und andere nicht. Ich habe keine Ahnung, wer die Regler an meiner Suchmaschine „optimiert“ – oder besser gesagt: manipuliert. Ich habe keine Ahnung, wofür meine persönlichen Daten benutzt werden.

 

Wir leben sozusagen im Dunkeln?

Es ist noch schlimmer. Wir sind wie Prospero auf Calibans Insel: umgeben von Lärm, aber nicht in der Lage, ihn zu verstehen. Es ist eine paradoxe Situation. Wir haben Zugriff auf mehr Informationen als jemals zuvor, aber wir verstehen kaum mehr, wie diese Informationen kreiert, verstärkt und verteilt werden. Das muss sich ändern! Wir müssen an das Recht der Bürger denken, sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen zu dürfen. Dann wird sich vieles von alleine regeln, denke ich. Wir müssen allerdings mehr Transparenz schaffen, um das zu ermöglichen. Ich muss nicht Googles Quellcode kennen, wirklich nicht. Was ich wissen will, ist, welche Werte Google vermittelt. Wie geht Google mit Informationen um, zum Beispiel mit Inhalten zu Syrien auf YouTube? Ich habe ein Recht, das zu erfahren. Es muss eine öffentliche Debatte darüber geben. Öffnet die Black Box! Öffnet diese Unternehmen für die öffentliche Kontrolle. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass wir jeden einzelnen Inhalt regulieren können, so wie es Deutschland nun versucht. Ich halte das für absurd und verrückt.

 

Hat die Corona-Pandemie die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen noch verstärkt?

Die Krise hat sie sicherlich beschleunigt, aber wir sehen durch sie auch einige vollkommen neue Facetten. China ist aus der Corona-Krise  zum Beispiel als neue Desinformations-Supermacht hervorgegangen. Zudem werden wir rund um die Welt Zeugen einer ganzen Flut von gesundheitspolitischen Falschinformationen. Diese gab es natürlich auch schon vor der Ausbreitung des Corona-Virus, man denke nur an den Verschwörungstheoretiker Alex Jones, der in seiner Show InfoWars „alternative Gesundheitskits“ bewirbt. Es kristallisiert sich jedoch langsam ein Trend heraus. Das Misstrauen bekommt System. Die Menschen trauen den Regierungen nicht mehr, sie trauen den wissenschaftlichen Autoritäten nicht mehr, sie trauen den Mainstreammedien nicht mehr. Was sich da zusammenbraut, ist höchst gefährlich.

 

Siehe den Vorschlag, sich Desinfektionsmittel zu spritzen oder Malariamedizin gegen das Corona-Virus zu nehmen …

… genau, und all diese wirren Thesen vermischen sich nun mit politischen Thesen und Standpunkten, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Dann spritzen sich Menschen plötzlich Bleichmittel, weil sie amtlichen ärztlichen Informationen nicht mehr trauen. Wir beobachten gerade die Politisierung der Gesundheitsdesinformation und die gesundheitspolitische Wende in der politischen Desinformation. Trotz all dem Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen gab es bis vor Kurzem noch eine Institution, die seit der Aufklärung als heilig galt: die Medizin. Der Arzt war derjenige, dem alle vertrauten. Demokraten, Republikaner, AfD-Wähler, alle. Wenn die Integrität der Ärzte und der Wissenschaft nun ähnlich angezweifelt wird wie beispielsweise die Integrität von Klimaforschern, dann bedeutet das den Fall der letzten aufklärerischen Bastion. Die faktenbasierte Demokratie wäre gefallen. Es wäre die letzte Schlacht.

 

Können wir den Ausgang noch beeinflussen?

Vielleicht gibt es tatsächlich einen Weg. Vielleicht ist das der Moment, in dem die Gegenbewegung Fahrt aufnimmt, wo die AfD und Salvini und Trump schlicht nicht mehr überleben können. Die Realität wiegt zu schwer, die Wahrheit ist zu wichtig, die Fakten liegen uns zu nah, als dass wir sie einfach ignorieren könnten. Vielleicht ist das der Anfang eines großen Comebacks. Oder aber es sind wirklich die letzten Schotten, die sich öffnen. Wenn erst einmal die Medizin politisiert ist, dann bleibt nicht mehr viel übrig.

 

Bleibt uns also nur Pessimismus oder finden wir vielleicht doch ein optimistischeres Ende?

Wenn Sie Propaganda und öffentlichen Einfluss untersuchen, dann wird stets zwischen „Haltung“ und „Verhalten“ unterschieden. Menschen können das eine glauben und das andere tun. So gibt es beispielsweise Menschen, die ideologisch hinter Trump und den Populisten stehen, sich aber trotzdem an die Ausgangssperre halten. Das menschliche Verhalten tendiert meist zur Vorsicht. Es macht keinen Unterschied, wie viele Menschen Trump mögen. Es zählt, wie viele ihn wählen. Inmitten der Corona-Pandemie könnte es einen Hoffnungsschimmer geben: dass die Menschen nicht für eine Politik stimmen werden, die sie umbringen könnte. Zum ersten Mal in vier Jahren habe ich Hoffnung. Zum ersten Mal gibt es Anzeichen dafür, dass dies nicht die Welt der Salvinis, der Bolsonaros und der Trumps ist.  



Die Fragen stellte Martin Bialecki; Übersetzung aus dem Englischen: Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2020, S. 44-49

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