Kommentar

29. Aug. 2022

Wir müssen China die Grenzen aufzeigen

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Ist die derzeitige Eskalation um Taiwan  vergleichbar mit der Vorkriegssituation in der Ukraine? Und wächst die Gefahr, dass der Westen, der bereits erhebliche Ressourcen für die Unterstützung der Ukraine aufwendet, an einer zweiten Front eingreifen muss: in Asien gegen China?

Mit der aggressiven Reaktion auf den Besuch Nancy Pelosis in Taiwan hat Peking Menschen rund um den Globus n ein Wechselbad aus Kriegsängsten und Hoffnungen gestürzt. Am ersten Mittwoch­abend im August war die Erleichterung noch groß. Die Sprecherin des US-Parlaments hatte ihren zweitägigen Besuch in Taiwan beendet. Staatsnahe chinesische Medien hatten gedroht, ihr Flugzeug abzufangen oder gar abzuschießen.

Die militärische Konfrontation blieb aus. Die Gefahr schien gebannt. Zum glimpflichen Ausgang hatte ein Telefonat der Präsidenten Joe Biden und Xi Jinping am Donnerstag zuvor beigetragen. Taiwan, so der erste Eindruck, ist ein anderer Fall als die Ukraine. Xi agiert anders als Wladimir Putin. Die Gesprächskanäle zwischen Washington und Peking funktionieren.



Dieses Kalkül erwies sich in den Folgetagen als voreilig. Peking ließ seine militärischen Muskeln nach Pelosis Abreise umso martialischer spielen: Kriegsschiffe blockierten die Seewege rund um Taiwan, Kampfflugzeuge drangen in den Luftraum ein, Chinas Militär schoss mit Raketen auf Gewässer unter japanischer Hoheit. Das Großmanöver mit mehr als 50 Schiffen und über 200 Kampfjets dauerte weitaus länger als die angekündigten vier Tage. Das Ziel beschrieb ein chinesischer Militärstratege im Staatsfernsehen so: Man werde „die sogenannte Median-Linie“ (die inoffizielle Demarkationslinie in den Gewässern zwischen China und Taiwan) „komplett auslöschen“. Und „Chinas Fähigkeit demonstrieren, jede Intervention des Auslands zu verhindern“.



Signifikante Unterschiede

Steht der Westen also doch vor einem weiteren Krieg? Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatten Phasen scheinbarer Deeskalation gewechselt mit solchen, in denen Putin die militärische Drohkulisse verschärfte. Auch dort hatten viele im Westen abgewiegelt: Man dürfe auf die Rationalität und den Realitätssinn Moskaus vertrauen. Laufen Deutschland und Europa jetzt Gefahr, zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate einer fatalen Fehleinschätzung zu unterliegen? Und in der Folge die Auswirkungen eines Krieges meistern zu müssen, den sie nicht haben kommen sehen? Das lässt sich zwar nicht ganz ausschließen, ist aber wenig wahrscheinlich. Peking wird in den nächsten Monaten keinen Angriff auf Taiwan beginnen. Die Unterschiede zur Ukraine sind signifikant. China ist risikoscheuer als Putins Russland; es setzt eher auf strategische Geduld als auf Überrumpelung.



In einigen Jahren mag das freilich anders aussehen. Pekings Umgangston gegenüber Taiwan und anderen Nachbarn hat sich kontinuierlich verschärft. Deshalb müssen Deutschland und Europa die Entwicklungen viel ernster nehmen als bisher, das Vorgehen genauer analysieren und ihre Politik mit den USA und den Demokratien in Asien wie Japan, Südkorea oder Australien koordinieren.



Zunächst ist festzuhalten: Vieles im Vergleich Taiwan-­Ukraine spricht für die These, dass die Auseinandersetzung in Asien glimpflich enden wird. Aber nicht alles. In den ökonomischen Beziehungen des Westens zu China steht viel mehr auf dem Spiel als im Verhältnis zu Russland. Die Abhängigkeiten gerade der deutschen Wirtschaft von China sind ungleich größer als die von Russland.



Was würde geschehen, wenn Peking Moskaus Strategie übernimmt, die empfindlichsten Schwachstellen der deutschen Wirtschaft auszunutzen, um die Bundesregierung vom Eingreifen in einen möglichen Taiwan-Konflikt abzubringen? Was würde aus der Automobilindustrie und gerade der E-Mobility, wenn China, das den globalen Batteriemarkt dominiert, ein Embargo verhängt? Die großen deutschen Marken verkaufen 40 Prozent ihrer Neuwagen dort. Volkswagen sei ohne das China-Geschäft nicht mehr vorstellbar, sagen Experten. Auch viele Grundstoffe für Arzneimittel kommen aus China.



Im Fall Taiwans ist die Abhängigkeit noch größer. Die Insel ist der globale Technologieführer bei Halbleitern. 80 Prozent der modernen Hochleistungschips werden in Taiwan produziert. Ein Ausfall der Lieferungen, etwa wegen einer Seeblockade der Insel, hätte schwere Folgen.

Das ist gewiss keine einseitige Abhängigkeit. Auch China würde einen offenen Wirtschaftskrieg nicht lange verkraften. Die Erfahrung mit Russland hat jedoch gezeigt, dass autoritäre Staaten zuweilen versucht sein können, darauf zu wetten, dass sie ein Embargo länger durchhalten als eine Demokratie, in der die Bürger gegen Einschränkungen protestieren.



Putin nutzte die hohe Abhängigkeit vom Gas. Unter Schmerzen konnte Deutschland seine Erpressbarkeit reduzieren. Wenn Deutschland und die EU aber umfassende China-Sanktionen überstehen wollen, sind weit größere Anpassungen nötig.



Russland hat lediglich einen Anteil von rund 3 Prozent an der Weltwirtschaft und spielt, abgesehen vom Energiesektor, keine große Rolle in internationalen Fertigungsketten. China hat einen Anteil von rund 19 Prozent an der Weltwirtschaft und ist stark mit ihr verflochten. Der CDU-­Außenpolitiker Norbert Röttgen warnt: Im Falle eines Wirtschaftskriegs mit China sei Deutschland nicht mehr handlungsfähig.



Imperialismus und Herrschaftssicherung

Früher einmal galt die Faustregel, dass China ein Wirtschaftswachstum von 6 bis 7 Prozent brauche. Die Führung ist im ständigen Wettlauf mit sich selbst. Sie muss eine Fülle von Problemen schneller lösen als die Probleme wachsen. Das gilt vom Umwelt- und Klimaschutz über den überhitzten Immobilienmarkt und den Stadt-Land-Gegensatz bis hin zu den Spätfolgen der Ein-Kind-Politik.



Hohe Wirtschaftswachstumsraten benötigt die Partei auch, um die Bürger bei Laune zu halten. Die sind schon lange nicht mehr sicher. Die Null-Covid-Strategie hat die Wirtschaft zusätzlich gelähmt, ohne die erhofften Ziele zu erreichen.



Das hat zweischneidige Folgen. Einerseits wächst die Vorsicht: bloß keine Risiken, die den wirtschaftlichen Erfolg gefährden, wie ein Krieg. Wenn die Partei andererseits die Loyalität der Bürger nicht mit wachsendem Lebensstandard sichern kann, wächst die Versuchung, sie anders zu binden, etwa durch ein Schüren des nationalen Geltungsdrangs. Unter dem Nationalisten Xi Jinping, Präsident seit 2013, ist die ökonomisch grundierte Risikoscheu immer noch erkennbar, ihr Gewicht verringert sich aber im Vergleich zum imperialen Auftreten als zusätzlicher Strategie der Herrschaftssicherung.



Militärisch ist Taiwan ein anderer Fall als die Ukraine, vor allem wegen Geografie und Wetter. China kann nicht wie Putin Panzerverbände über eine Landgrenze schicken. Die Eroberung einer bergigen Insel ist ein komplexes Unterfangen. Das Wetter in der Region ist dafür nur in einem begrenzten Zeitfenster im Sommer günstig. Taiwan übt zudem die Verteidigung gegen solche Angriffe regelmäßig.



Allerdings haben sich die Kräfteverhältnisse dramatisch verschoben. 1995 war Chinas Militärbudget doppelt so hoch wie das taiwanische; inzwischen ist das Verhältnis 20 zu 1. Chinas Armee hat seit 1979 keine Kampferfahrung gesammelt – ein gravierender Unterschied zu den russischen Streitkräften, die in Tschetschenien, Georgien und Syrien im Einsatz waren. Peking beobachtet zudem im Krieg Russlands gegen die Ukraine, dass der Erfolg von Truppen, die als weit überlegen gelten, im realen Krieg nicht garantiert ist.



In Simulationen kommen amerikanische Thinktanks wie CSIS zu dem Schluss: Noch würden die USA eine militärische Auseinandersetzung um Taiwan gewinnen. Auch Admiral Pierre Vandier, Oberbefehlshaber der französischen Kriegsmarine, sagt: Wenn der Westen gemeinsam kämpft, würde er Chinas Kriegsflotte besiegen. In gut acht Jahren könnte das freilich anders aussehen, weil Peking viel mehr in die Aufrüstung investiert.



Was wird 2030?

Wenn ein Krieg um Taiwan derzeit wenig wahrscheinlich ist, aber in einigen Jahren droht, weil China daran arbeitet, seine Ausgangslage zu verbessern, dann stellen sich zwei Fragen: Welche Faktoren machen eine militärische ­Eskalation wahrscheinlicher? Und was können Deutschland, Europa, die USA und die Demokratien in Asien gemeinsam tun, um dem entgegenzuwirken und Krieg dauerhaft unwahrscheinlich zu machen?



Zum Teil geht es um politisches, ökonomisches, militärisches Handwerk. Wegen der hohen Abhängigkeit von Hightech- Chips sollten Europa und die USA Taiwan drängen, Produktionen in Europa aufzuziehen, und als Gegenleistung Taiwan verlässliche Beistandsgarantien geben. Aus der Analyse chinesischer Manöver und Rüstungsprogramme lässt sich ableiten, welche Waffen Taiwan braucht und welche Manöver zur Abwehr einer Invasion ratsam sind, um China abzuschrecken.



Ein Hauptrisikofaktor liegt in der politischen Kommunikation. Vordergründig hat das Krisenmanagement beim Pelosi-Besuch funktioniert. Für die Kommunikation zwischen China und dem Westen insgesamt gilt das nicht. Grundlage eines Dialogs ist, dass die Botschaft, die eine Seite sendet, bei der anderen auch so ankommt. Doch die kulturellen Missverständnisse zwischen westlichen Demokratien und Chinas autoritärem System häufen sich. Zwei Beispiele: Wenn die EU Sanktionen gegen Staatsbedienstete verhängt, die an der Unterdrückung der Uiguren beteiligt sind, reagiert China mit Sanktionen gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments (EP) – als seien frei gewählte Parlamentarier nichts anderes als Befehlsempfänger des Staates. Auf den chinesischen Volkskongress mag das zutreffen, nicht aber auf das EP oder den US-Kongress.



Der Westen vertraut zu sehr darauf, dass es genügt, den Status quo zu wahren, indem er sich an die etablierten Regeln hält. Er hat bisher kein Mittel dagegen gefunden, dass China die „roten Linien“ immer weiter verschiebt. Viele EU-Staaten unterhalten Beziehungen mit Taiwan über Vertretungsbüros, die keine Botschaften sind. Als Litauen solch ein Büro eröffnete, verhängte Peking Sanktionen. China tat so, als sei der Pelosi-Besuch in Taiwan eine neue Stufe der Provokation. Dabei hatte einer der Vorgänger Pelosis als Parlamentssprecher, Newt Gingrich, Taiwan 1997 besucht, ohne dass China mit Krieg drohte wie jetzt. Auch hier hat Peking die Pflöcke verschoben.



Die politischen und militärischen Dynamiken zeigen Dreierlei. Pelosis Besuch in Taiwan war gefährlich, aber er war auch nötig, um China Grenzen aufzuzeigen. Da westliche Regierungschefs Taiwan aus Rücksicht auf die Ein-­China-Politik meiden, sollten hochrangige Vertreter aus Parlamenten Pelosis Beispiel folgen, um deutlich zu machen: Die Demokratien in Europa, Nordamerika und Asien sprechen sich ab und halten zusammen. Sie sind sich einig, dass es gut für die Welt ist, wenn es ein demokratisches Taiwan als Gegenmodell zu Chinas autoritärem Regime gibt. Die Demokratien werden Taiwan verteidigen.



Sie sollten bei jeder Gelegenheit das Offensichtliche festhalten: Chinas Politik des maximalen Drucks auf Taiwan hat ähnlich kontraproduktive Effekte wie Putins Krieg gegen die Ukraine. Kaum ein Ukrainer möchte mehr mit Russland zu tun haben. In Taiwan wächst der Anteil derer rasant, die eine Vereinigung mit China ablehnen und die staatliche Unabhängigkeit anstreben, nachdem Peking die vertragliche Zusicherung „Ein Land, zwei Systeme“ in Hongkong gebrochen hat. Und sie sollten alle Staaten der Welt ermuntern, China zu sagen: Wer als Weltmacht anerkannt werden möchte, hat eine Verantwortung, den Frieden zu sichern. Säbelrasseln statt friedlicher Koexistenz schadet Chinas globalem Image.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 111-113

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Mehr von den Autoren

Christoph von Marschall ist Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion des Tagesspiegels und Autor des Buchs „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“, Herder Verlag.

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