Interview

01. Nov. 2020

„Wir kommen auch ohne europäisches Amazon zurecht“

Weniger jammern, mehr Innovation zulassen und konsequent seine Stärken ausspielen: Wie sich der Regulierungsweltmeister Europa als wichtiger Player im digitalen Wettbewerb etablieren kann.

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Bild: Porträt Hinrich Thölken
Dr. Hinrich Thölken ist Beauftragter für Klima- und Energieaußenpolitik und Digitale Transformation im Auswärtigen Amt. Zuvor war Thölken Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den UN-Organisationen in Rom.
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IP: Herr Thölken, Corona hat gezeigt, wie wichtig eine funktionierende digitale Infrastruktur ist. Hat die Pandemie Europas Ambitionen auf diesem Sektor einen Schub verpasst?

Hinrich Thölken: Vor der Krise war Europa eine Region, die Fortschritt und Innovation wollte, aber zu wenige konkrete Lösungen aufzuweisen hatte. Das ging für den Geschmack vieler zu langsam – ich nehme mich da gar nicht aus. Wir standen vor der Frage: Kann Europa Disruption? Zu unserer eigenen Überraschung hat uns die Krise gelehrt, dass Europa so eine Situation durchaus gut meistern kann. Im Auswärtigen Amt etwa hätten wir vor der Krise den Gedanken für absurd gehalten, dass ein erklecklicher Prozentsatz der Mitarbeiter im Homeoffice arbeitet. Das wäre ein Sakrileg gewesen. Jetzt bin ich im Auswärtigen Amt zu Hochzeiten der Krise durch komplett leere Korridore gelaufen. Nur noch 10 bis 20 Prozent der Belegschaft waren vor Ort, und es hat funktioniert. Das hat uns ermutigt, auf diesem Weg weiterzugehen. Inzwischen schaffen wir es in einem weit höheren Tempo, Infrastruktur aufzubauen, Geräte anzuschaffen und die nötigen Regularien zu kreieren. Das gilt für den öffentlichen Sektor, aber auch für die Wirtschaft. Viele Arbeitgeber sind mittlerweile von den Vorteilen des Homeoffice überzeugt. 

 

Die Fragen, wem die Technologien der Zukunft gehören, wo sie produziert werden, wer die Standards setzt und ihre Nutzung regelt, werden für den geopolitischen Wettbewerb immer wichtiger. Viele befürchten, dass Europa zwischen den USA und China zerrieben wird. Wie soll es sich zwischen diesen beiden Polen positionieren?

Deutschland wurde dieses Jahr zur innovativsten Volkswirtschaft der Welt gekürt und Europa ist ein fantastischer Standort für Bildung, Forschung und Innovation. Trotzdem blicken wir sorgenvoll in die Welt, vergleichen uns mit anderen und lamentieren darüber, dass wir keine Plattformökonomien und zu wenige global erfolgreiche Start-ups haben. Dabei sind wir kein Opfer zwischen rivalisierenden Blöcken, sondern ein eigenständiger Akteur mit großem Potenzial. Wir haben die Kraft, die Ressourcen und genug kluge Köpfe. Wir müssen uns dieser Herausforderung einfach mutig stellen. Exemplarisch dafür steht Gaia-X …

 

... das vom Bundeswirtschaftsministerium mitinitiierte Projekt einer Datencloud, die unter anderem die Ressourcen europäischer Firmen bündelt.

Ein Vorhaben, das nichts weniger als die Schaffung einer europäischen Dateninfrastruktur vorsieht. Ich wünsche mir viel mehr solcher Projekte. Durch Europa muss ein digitaler Ruck gehen, denn es gibt so viel mehr Chancen als Risiken. Nicht nur für Unternehmen und den öffentlichen Sektor, auch für jeden einzelnen Bürger. Das wäre ein deutlich besserer Zeitvertreib, als sich ständig zu fragen, was die anderen gerade machen. Außerdem sind wir Regulierungsweltmeister. Niemand ist in Regulierungsfragen hartnäckiger als die EU. Ich sehe unsere Chancen da gar nicht so schlecht.

 

Stellt sich dann überhaupt die Frage, ob wir uns stärker an den USA oder an China orientieren sollen?

Nur scheinbar. Denn in Amerika – und manchmal auch in China hinter verschlossenen Türen – heißt es oft, dass Europa eine ganz entscheidende Rolle bei Themen wie Künstlicher Intelligenz, Arbeit der Zukunft und Datenschutz zu spielen hat. Das aktuelle, amerikanisch geprägte Modell braucht Impulse aus Europa, damit es nicht in eine völlig ungezügelte Datenwirtschaft abdriftet. Die europäische Datenschutz-Grundverordnung ist zwar sperrig, hat aber eine globale Wirkung entfaltet. Viele US-Bundesstaaten sind dankbar dafür; man hofft, dass sich die europäische Stimme auch zu Themen wie Regulierung und KI erhebt.

 

Sie haben die europäische DatenschutzGrundverordnung von 2016 erwähnt. Lässt sich die Künstliche Intelligenz in ähnlicher Weise regulieren? Und wie kann man sicherstellen, dass die Regulierung die Idee und das Wesen des Internets nicht beschädigt?

Das ist noch ergebnisoffen. Zwei Faktoren sind hier entscheidend: Einerseits die Frage, ob wir es schaffen, einen adäquaten Regulierungsvorschlag auf den Weg zu bringen. Andererseits muss Europa auch einen substanziellen Marktanteil bei der Künstlichen Intelligenz haben und in Sachen Innovation vorne dabei sein. Hier konnten wir zuletzt einige Fortschritte verzeichnen. Viele Mitgliedstaaten haben KI-Strategien verabschiedet und die nötigen Ressourcen mobilisiert. Aber es bleibt ein offenes Rennen. Denn wenn sich eine bestimmte Anwendungsform von KI in der Wirtschaft verbreitet, kann es zu einer Standardsetzung durch Marktakzeptanz kommen. In der Internetgovernance bemerken wir in wachsendem Maße Einfluss- und Abschottungsversuche von großen staatlichen Akteuren. Das steht im Gegensatz zur – und diesen Begriff benutze ich bewusst – westlichen Position, da wir das Internet in seiner freien, demokratischen Form erhalten wollen. Sicherheit vor kriminellen Aktivitäten muss es geben, aber nicht auf Kosten der Meinungsfreiheit und der Kommunikationskanäle.

 

Sollte die EU die Entwicklung Künstlicher Intelligenz gemeinsam vorantreiben oder befürworten Sie einen Wettbewerb zwischen den Mitgliedern?

Wir probieren zurzeit ein Mischmodell aus. Es gibt natürlich Staaten, die wissenschaftlich stärker sind und auch national relevante Beiträge leisten können; Deutschland gehört mit Sicherheit dazu. Andere Modelle sehen eine zwischenstaatliche Kooperation vor, etwa nach Vorbild der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit in der KI. Und selbstverständlich gibt es europaweite Programme. Alles zu vereinheitlichen, wäre genauso falsch wie ein reiner Wettbewerb gegeneinander. Das bedeutet: Unabhängigkeit und Individualität zulassen, aber bei relevanten Themen schon früh eine Kooperation eingehen.

 

In den USA wächst die Angst, dass Apps wie TikTok Daten von US-Benutzern an Chinas Sicherheitsbehörden weitergeben könnten. Die Regierung Trump ergreift gezielte Maßnahmen, um Huawei einzuhegen. Europa wirft man bei diesem Thema eine gewisse Sorglosigkeit vor. Ist da etwas dran?

Wenn ich mir die öffentliche Debatte ansehe, kann ich nicht erkennen, dass wir uns sorglos verhalten. Der Schutz von essenzieller Infrastruktur ist ein fester Punkt auf der politischen Agenda. Aber ist es wirklich die beste Lösung, Huawei von vornherein auszuschließen, oder erzeugt das langfristig andere Probleme? Der amerikanische Weg birgt die Gefahr, dass China langfristig eigene Kapazitäten entwickelt, etwa bei der Herstellung von Computerchips, die sich unserer Kontrolle entziehen. Wir wollen keine Länder oder Firmen prinzipiell aussperren, sondern Bedingungen festlegen, zu denen sich  andere Akteure am Aufbau unserer digitalen Infrastruktur beteiligen können. Diese Bedingungen formulieren wir zurzeit. Nur weil wir in Europa einen anderen Weg wählen, heißt das nicht, dass wir sorglos sind.



Wenn Mitwerber aus dem Ausland in europäische Technologieunternehmen investieren, könnten sie Zugang zu Europas digitaler Infrastruktur erhalten. Müsste die EU ausländische Investitionen in Europa nicht strenger regulieren?

Diese Frage stellt sich nur bei essenziellen Bereichen wie Mobilfunknetzen. Es gibt natürlich viele Risikobereiche, die dem durchschnittlichen Bürger nicht bekannt sind. Daher ist es Aufgabe der Politik, Verwundbarkeiten zu erkennen und Regeln dafür festzulegen. Exemplarisch hierfür stehen die Debatten um das IT-Sicherheitsgesetz in Deutschland und um 5G auf europäischer Ebene. Diese Frage betrifft auch die Außenwirtschaftsgesetzgebung. Es ist eine Sache, in eine Fabrik zum Bau von Elektroautos zu investieren, aber etwas ganz anderes, eine sicherheitspolitisch relevante Firma zu kaufen. Auch über die Außenwirtschaftsverordnung wird erneut diskutiert; der Schutz des geistigen Eigentums ist für uns essenziell wichtig.



Reicht die Regulierungsmacht der EU aus, um die Interessen Europas in Sachen Internet und digitale Technologien zu schützen, solange es Europa weiterhin an bedeutenden digitalen Unternehmen mit globalem Einfluss fehlt?

Ob wir unbedingt globale Player brauchen, kann ich nicht sagen, auch ohne ein europäisches Amazon kommen wir ja wirtschaftlich ganz gut zurecht. Oft heißt es, dass wir in Europa keine marktführenden Plattformen haben – also Unternehmen, die vor allem im Verbrauchergeschäft unterwegs sind. In der Tat liegt unsere Stärke eher im Geschäftskundengeschäft. Wir haben eine sehr starke industrielle Wertschöpfung und produzieren viele Daten. Unsere Unternehmen haben zwar nicht die Marktkapitalisierung und -dominanz von vergleichbaren Plattformen aus anderen Regionen, aber das bedeutet nicht, dass der Zug abgefahren ist. Wir müssen kluge Konzepte entwickeln, besonders im Geschäftskundengeschäft. Deutschland mit seiner industriellen Wertschöpfung von über 20 Prozent kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Zwar haben wir bei der wirtschaftlichen Nutzung von Daten anfangs den Anschluss verpasst, aber mittlerweile haben unsere Unternehmen gut aufgeholt. Wir müssen wachsam bleiben, investieren und Innovation bis hin zur Disruption zulassen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass das auch in Europa möglich ist.

Wenn Europa digitale Souveränität erreichen will, muss die EU ihren eigenen digitalen Graben überwinden. Was lässt sich gegen die digitale Ungleichheit zwischen europäischen Mitgliedstaaten unternehmen?

Für Europas „digitale Entwicklung“ – der Begriff gefällt mir besser – müssen wir in Bildung, in Wissenschaft, in Forschung investieren, wir müssen Unternehmen bei der digitalen Transformation unterstützen. Das trifft gerade auf Wirtschaftssektoren zu, die auf den ersten Blick gar keinen Nutzen von digitalen Geschäftsmodellen haben. Datengestützte Geschäftsmodelle kommen auch Bäckern oder Schuhverkäufern zugute, die sich so zusätzliche Einkommensquellen und Marktchancen erschließen können. Dazu gibt es in allen Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene Förderprogramme. Wir werden nicht in der Lage sein, alle Unterschiede auszugleichen. Dazu sind wir noch zu heterogen. Aber bestimmte, klar definierte Ziele wie einheitliche Regularien oder den europaweiten Ausbau von schnellen Breitbandnetzwerken sollten wir uns setzen.

 

Welche regulatorischen Maßnahmen sollte und darf die EU ergreifen, um gegen Fake News, Hassreden und die Diskreditierung demokratischer Institutionen vorzugehen?

Das Internet ist ja kein rechtsfreier Raum. Kriminelle, jugendgefährdende und verfassungswidrige Inhalte müssen hier genauso belangt werden wie außerhalb des Cyberspace. Das Thema Fake News ist da komplizierter. Es handelt sich ja nicht um rechtswidrige Inhalte, aber Falschmeldungen haben dennoch gesellschaftspolitische Sprengkraft. Zumal die Menschen heute in ihren Filterblasen leben. Nur das soziale Umfeld entscheidet, ob jemand problematische Ansichten entwickelt oder nicht. Daher müssen wir die Medienkompetenz der Nutzer fördern. Da wurde bislang zu wenig investiert. Dabei könnte die Auseinandersetzung mit digitalen Medien auch schulisch vermittelt werden. Insbesondere der kritische Umgang mit Quellen sollte Teil des Bildungsprogramms sein.



Die Fragen stellten Martin Bialecki und Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Special, Digitales Europa, November 2020, S. 32-35

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