„Wir brauchen Gerechtigkeit für Syrien“
Die syrische Juristin Joumana Seif ruft Deutschland dazu auf, die syrische Justiz bei der Verfolgung von Assads Schergen zu unterstützen: Es habe Erfahrung mit der Aufarbeitung von Verbrechen und zudem fast eine Million Syrer aufgenommen, deren Wissen nun dazu beitragen könne, Wahrheit herauszufinden und Versöhnung zu ermöglichen.
Ein Interview von Bettina Vestring.
IP: Frau Seif, Syriens Interimspräsident Ahmed al-Scharaa hat vor Kurzem eine vorläufige Verfassung für Syrien unterzeichnet. Wie ist Ihre Einschätzung als Juristin?
Joumana Seif: Die Übergangsverfassung enthält viele gute Elemente. Sie benennt die von Syrien ratifizierten Menschenrechtskonventionen als Quelle für das Rechtssystem. Sie enthält auch andere positive Bestimmungen zu Themen wie der Staatsbürgerschaft oder den Rechten der Frauen. Gleichzeitig gibt es aber auch Bestimmungen, die sich zum Beispiel auf die öffentliche Moral beziehen, die sehr breit gefasst und schwer zu definieren sind. Das hat zur Folge, dass sehr unterschiedliche Auslegungen möglich sind.
In der Verfassung steht auch, dass die islamische Rechtsprechung die wichtigste Quelle der Gesetzgebung ist. Halten Sie das islamische Recht für vereinbar mit Demokratie und Menschenrechten?
Ich habe mir alle früheren Verfassungen Syriens, angefangen in den 1920er Jahren, angesehen. Jede von ihnen enthielt genau dieselbe Bestimmung über die islamische Rechtsprechung, auch die letzte Verfassung aus dem Jahr 2012. Ein Mitglied des Verfassungsausschusses erklärte, sie hätten diesen Aspekt nicht ändern wollen, und deswegen sei es bei dieser Bestimmung geblieben. Ich habe das überprüft, und ja, es stimmt. Es ist also keine neue Bestimmung, aber wir müssen abwarten, wie sie umgesetzt wird.
Sie sehen also keinen Widerspruch zwischen diesem Verweis auf die islamische Rechtsprechung und dem Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie?
Die Bestimmungen der Verfassung sind widersprüchlich, und zwar nicht nur in diesem Punkt. Es kann in beide Richtungen gehen.
Jemand wird entscheiden müssen, welcher Weg eingeschlagen werden soll.
Genau.
Dieser Jemand ist vermutlich Präsident al-Scharaa.
Er hat das Charisma, er hat den Einfluss, und er hat die Macht. Was wir wollen, ist, dass er Syrien in eine bessere Zukunft führt. Wenn das die Richtung ist, werden wir ihn auf jeden Fall unterstützen.
Kennen Sie ihn persönlich?
Ich habe ihn einmal getroffen, im Rahmen einer großen Delegation syrischer Wirtschaftsakteure. Al-Scharaa hat zweieinhalb Stunden mit uns verbracht, um Ideen und Projekte für Syrien zu besprechen. Er machte sich Notizen, stellte Fragen und behandelte jeden mit vollem Respekt.
Glauben Sie, dass Präsident al-Scharaa sich für die Menschenrechte einsetzen wird?
Das hat er in seinen Reden versprochen, und dazu hat er sich verpflichtet. Das ist auch der Grund, warum die Syrer ihn als Präsidenten akzeptiert haben: um Syrien zu schützen, um die Syrer zu respektieren und um die Menschenrechte zu achten.
Anfang März haben Pro-Assad-Milizen die Sicherheitskräfte der Regierung in den Küstenregionen angegriffen. Es kam zu einer massiven Gegenreaktion, bei der Hunderte von Zivilisten getötet wurden. Darunter waren viele Alawiten, also Angehörige der ethnischen Minderheit, zu der auch Assad gehört. Tut der Präsident genug, um Racheakte zu verhindern?
Al-Scharaa hat volle Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit versprochen. Als die Menschenrechtsaktivistin und Journalistin Hanadi Zahlut, die unter Assad sehr gelitten hat, auf Facebook schrieb, dass ihre drei Brüder bei den Unruhen ermordet wurden, rief al-Scharaa sie an. Er versprach ihr, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden – ganz gleich, wer sie seien. Er sagte, sie würden bestraft werden, auch wenn es seine engsten Vertrauten seien. Wir werten das als ein gutes Signal und werden darauf bauen, solange wir keine Beweise für das Gegenteil haben.
Unter dem Assad-Regime verbrachte Ihr Vater viele Jahre im Gefängnis, Ihr Bruder verschwand und Sie wurden ins Exil gezwungen. Assad wurde im Dezember gestürzt, konnte aber nach Moskau fliehen. Wird er sich jemals vor Gericht für seine Verbrechen verantworten müssen?
Ja.
Und wie?
Es wird geschehen. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht nicht bald, aber es wird geschehen. Ganz sicher.
Wird es ein syrisches Gericht sein?
Ja. Wir brauchen Gerechtigkeit für Syrien, und das bedeutet, dass der Prozess gegen Assad in Damaskus stattfinden muss. Natürlich müssen wir die Voraussetzungen für einen fairen Prozess schaffen.
Und was ist mit Assads Helfern? Südafrika richtete nach der Apartheid eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ein, um die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen aufzudecken und zur Versöhnung zu finden. Sollte Syrien diesem Beispiel folgen?
Ich denke, wir brauchen eine Mischung. Ich glaube, dass hochrangige Täter vor Gericht gestellt werden müssen, weil das für die Versöhnung notwendig ist. Aber wir sollten auch an anderen Mechanismen arbeiten, um die Wahrheit herauszufinden und Versöhnung möglich zu machen: Amnestien, Schlichtung, gemeinnützige Arbeit, Entschädigung und andere Elemente.
Wenn die schlimmsten Täter vor Gericht gestellt werden sollen – wie viele sind das?
Niemand kann die genaue Zahl nennen. Wir brauchen einen Dialog zwischen den Syrern, um den Umfang und auch die Dauer der Übergangsjustiz zu definieren. Die Menschen müssen entscheiden, wie sie mit der großen Zahl der vergangenen Verbrechen umgehen wollen. Sie brauchen Genugtuung, denn ohne Genugtuung können wir nicht vorankommen.
Aber Sie können eine Meinung dazu haben, ob der Schwerpunkt auf der Strafverfolgung oder der Versöhnung liegen sollte.
Ich bewege mich dazwischen. Was wir tun, hängt auch von unseren Ressourcen und unserem Justizsystem ab. Die Zahl der Verbrechen ist enorm. Hunderttausende Menschen wurden gefoltert und hingerichtet, andere durch Fassbomben oder chemische Waffen getötet. Alle Täter zur Rechenschaft zu ziehen – ich denke, das wäre unmöglich, selbst wenn wir es wollten. Wir müssen darüber sprechen, ob wir diese Zahl begrenzen können, zum Beispiel auf 500 oder 5000. Wir sollten einen Dialog mit den Überlebenden und den Opferverbänden sowie der gesamten Zivilgesellschaft führen.
Kann die internationale Gemeinschaft helfen, wenn das syrische Justizsystem so eingeschränkt ist? Kann Deutschland helfen?
Ja. Dies ist ein Aufruf zur Unterstützung.
Wofür konkret?
Für alles. Zunächst einmal brauchen wir technische und finanzielle Unterstützung, um das Justizsystem, die Gerichte, ja sogar die Gebäude zu erhalten. Und dann brauchen wir Schulungen für Richter, Anwälte, Ermittler und die Polizei. Um diesen Justizprozess in Gang zu bringen, benötigen wir in großem Umfang Ausbildung. Wir haben so gut wie nichts, kaum Erfahrungen oder Kenntnisse über internationales Recht und Standards oder über faire Verfahren im Allgemeinen. Wir brauchen viel Unterstützung. Und denken Sie daran, dass Deutschland in seiner Geschichte eine ähnliche Erfahrung durchgemacht hat, von der wir heute profitieren könnten.
Immerhin hat auch die Europäische Union einige Erfahrung mit Ausbildungsmissionen im Bereich der Justiz.
Mein Aufruf richtet sich sowohl an die EU als auch an Deutschland. Warum Deutschland? Ihr Land hat fast eine Million Syrer aufgenommen. Etwa ein Viertel von ihnen sind Deutsche geworden – syrische Deutsche. Unter ihnen gibt es viele Jurastudenten, viele Menschen mit Fachwissen. In den vergangenen Jahren waren sie eine Bereicherung für Deutschland, und jetzt können sie einen großen Beitrag zum Wiederaufbau Syriens leisten, insbesondere im Bereich der Justiz. Sie sind die beste Ressource und die beste Brücke.
Die Fragen stellte Bettina Vestring.
Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 28. April 2025