Interview

03. Jan. 2022

„Wir brauchen eine Konferenz der Sandwich-Staaten“

China und die USA leiden unter „Paranoia“, sagt Südkoreas früherer Präsidentenberater. Die Bundesregierung müsse zur Entspannung beitragen.

IP: Wie wird in Südkorea und Ostasien im Allgemeinen auf Deutschland geschaut? Was für ein Image hat das Land?

Moon Chung-in: Deutschland genießt in Südkorea hohes Ansehen, wegen seines erreichten wirtschaftlichen Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung und wegen seiner gefestigten Demokratie. Insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bei den Südkoreanern und den Menschen Nordostasiens einen tiefen Eindruck hinterlassen, weil sie im Umgang mit den Vereinigten Staaten und China eine gute Balance gefunden hat. Sie hat ganz klar gemacht, dass Deutschland an einer irgendwie gearteten Konfrontation zwischen den USA und China keinerlei Interesse hat – und dieser Ansatz wird hier außerordentlich begrüßt.



Sieht Südkorea Deutschland als einen Verbündeten bei dem Versuch, diese Konfrontation zwischen den USA und China zu verhindern?

Ja, Deutschland und Südkorea stehen vor den gleichen Herausforderungen im Umgang mit China und den USA. Beide wollen es vermeiden, im Hegemoniekonflikt zwischen den beiden Mächten zwischen die Fronten zu geraten. Die USA sind unser Verbündeter, aber auch China ist ein wichtiger strategischer Partner für Südkorea. Darum hat unsere Regierung stets versucht, zwischen beiden eine Balance herzustellen. Natürlich steht Washington an erster Stelle, schließlich ist es unser militärischer Verbündeter. Wir können aber China nicht vernachlässigen – nicht bloß aus ökonomischen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Stellen Sie sich doch einmal vor, China wäre uns feindlich gesonnen! Wir können uns keine direkte militärische Bedrohung durch China leisten, also brauchen wir natürlich die Allianz mit den USA, aber auch gute Beziehungen zur Volksrepublik. Deutschland muss es hier ganz ähnlich gehen.

Ein Unterschied besteht natürlich da­rin, dass Deutschland – und ebenso Japan – kein Nordkorea neben sich hat, zumindest nicht in der gleichen Art und Weise. Sollten sich unsere Beziehungen zu Peking verschlechtern, werden die Chinesen beginnen, Nordkorea stärker militärisch zu unterstützen – etwa durch Waffenlieferungen und andere Hilfsleistungen. Dann hätten wir es mit einer militärischen Bedrohung durch China und Nordkorea zu tun, sowohl nuklear als auch konventionell. Also verfolgen wir eine Politik der Balance zwischen den USA und China. Das ist nicht immer einfach, aber es ist wohl unser geopolitisches wie auch ökonomisches Schicksal. Deutschland und Südkorea befinden sich in einem ähnlichen Dilemma und müssen zusammenarbeiten, um den Ausbruch eines neuen Kalten Krieges zwischen China und den Vereinigten Staaten zu verhindern.

 

Stand Seoul, gerade während der Trump-Jahre, vor ähnlichen Entscheidungen wie Deutschland und Europa, bei Huawei und 5G beispielsweise?

Ja, die USA haben lange direkt und indirekt Druck auf Südkorea ausgeübt, als es um die Huawei-Entscheidung ging. Allerdings befinden wir uns in einer komfortablen Position, da unsere Abhängigkeit von Huawei eher gering ist. Samsung zum Beispiel benutzt keinerlei Huawei-Technologie, LH-U+ nutzt Teile der Huawei-Ausrüstung, aber alles in allem beläuft sich unsere Abhängigkeit auf unter 30 Prozent. Zwischen Washington und Seoul ist das kein großes Thema.

 

Ist das eine Lektion für europäische Staaten: Wer technologisch gut aufgestellt ist, gerät nicht in solche Dilemmata?

Natürlich ist es immer ratsam, Abhängigkeiten von ausländischer Technologie abzubauen. Jedes Land hat das Recht, eigene Technologien zu entwickeln, das ist unglaublich wichtig. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass wir globale Lieferketten unterlaufen sollten. Wir sehen derzeit einen Konflikt zwischen Technoglobalismus und Technonationalismus. Als die USA noch der dominante Anbieter auf dem Technologiemarkt waren, hat das dem Land eine Menge Vorteile verschafft. Aber mittlerweile holen andere Länder auf – China, Südkorea, Japan, europäische Länder. Die USA haben auf diese Veränderungen sehr sensibel reagiert, weil sie fürchten, ihre technologische Dominanz einzubüßen.



Aber im Zeitalter des grenzenlosen Wettbewerbs kann kein Land auf die Dauer einen solchen Vorsprung beibehalten. Die USA, China, Deutschland, Japan, Südkorea und andere sollten zusammenarbeiten und sich auf neue Normen, Prinzipien und Prozesse einigen, die einen fairen Wettbewerb ermöglichen und dem Technonationalismus vorbeugen, der am Ende niemandem hilft.

 

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland militärische Macht nur äußerst vorsichtig eingesetzt. Als andere europäische Nationen, insbesondere Frankreich und das Vereinigte Königreich, begannen, deutlich mehr militärische Präsenz im Indo-Pazifik zu zeigen, schickte Deutschland eine Fregatte. Noch ist unklar, wie sich die neue deutsche Regierung hier positionieren wird. Was würden Sie ihr raten?

Für Deutschland war es klug, nur eine Fregatte zu entsenden. Ich sehe nicht, warum Deutschland seine militärischen Fähigkeiten im Indo-Pazifik einsetzen sollte. Welches Interesse hätte es daran, seine Macht in diese Weltregion zu projizieren? Aus meiner Sicht ergibt das keinen Sinn. Als britische Flugzeugträger und französische Landungsboote in der Region aufkreuzten, fühlten sich viele in Asien an die „Kanonenbootpolitik“ des 19. Jahrhunderts erinnert. Eine solche militärische Machtdemonstration durch die Europäer im Indo-Pazifik ist nur schwer zu rechtfertigen. Außerdem vermittelt sie den Eindruck, die USA und ihre europäischen Verbündeten versuchten, die NATO in ­diesen Teil der Welt auszudehnen, was ganz sicher nicht wünschenswert wäre. Das deutsche Verhalten in dieser Frage trifft hier also auf deutlich mehr Verständnis als das britische oder französische. Natürlich haben diese beiden Staaten ihre ehemaligen Kolonien in der Region und können daraus eine Begründung ableiten. Ich sehe aber nicht, warum Deutschland in einer ähnlichen Weise handeln sollte.

 

Ein Grund dafür dürfte doch sein, dass China seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping deutlich aggressiver auftritt. Es hat stark aufgerüstet und besteht mit immer größerem Nachdruck auf seinen außergewöhnlichen territorialen Ansprüchen im Südchinesischen Meer. Teilt man in Südkorea diese Sorgen nicht?

Zu einem gewissen Grad schon. Natürlich sind wir besorgt wegen Chinas forschem Auftreten, seiner „Wolfskrieger“-Diplomatie und seiner Gebietsansprüche, sei es auf die Paracel-Inseln, die Spratly-Inseln oder das Scarbarough-Riff. Ebenso machen wir uns über die Errichtung von Militärbasen auf künstlich geschaffenen Inseln Sorgen. Aber wissen Sie, China ist ein großes Land. Die militärische Aufrüstung des Landes scheint nur natürlich, weil, historisch gesehen, wirtschaftliche und militärische Stärke immer Hand in Hand gingen. Vernünftigerweise müssen wir uns also auf ein weiteres Erstarken des chinesischen Militärs einstellen.



Das Problem ist, dass weder die USA noch China derzeit willens sind, den Rüstungswettlauf zu stoppen. In der US-­Politik scheint eine übertriebene Angst vor dem Aufstieg Chinas zu herrschen. Mit dieser wird militärische Aufrüstung gerechtfertigt, um China in die Schranken zu weisen und einzudämmen. Die chinesische Führung reagiert auf ähnliche Weise und übertreibt die amerikanische Bedrohung, erinnert die Bevölkerung absichtlich immer wieder an das „Jahrhundert der Demütigung“ durch ausländische Mächte und beschwört den Nationalismus im Kampf gegen die Vereinigten Staaten. Damit steuern beide immer stärker einen Kollisionskurs. Dieses Aufeinanderprallen strategischer Paranoia hält beide Länder in Atem, aber eben auch die ganze Welt.





Wie würde, denken Sie, die chinesische Reaktion ausfallen, sollte Deutschland in seiner Außenpolitik zukünftig viel offener kritisch mit China umgehen? Bundeskanzlerin Merkel wurde oft dafür kritisiert, die chinesische Politik gegenüber Hongkong, den Uiguren in Xinjiang oder Taiwan nicht deutlich genug verurteilt zu haben.

Präsident Xi Jinping hat der Bundeskanzlerin großen Respekt entgegengebracht, sie hat mit den Vereinigten Staaten und China ein sehr cleveres Spiel gespielt. Ich weiß nicht, ob die neue Regierung unter einem Bundeskanzler Olaf Scholz das so aufrechterhalten können wird. Die Grünen, die der neuen Koalition angehören werden, kritisieren die chinesischen Menschenrechtsverletzungen harsch. Dennoch, so denke ich, sollte Deutschland eine ausbalancierende Politik verfolgen.



Die chinesische Führung betrachtet Hongkong, Taiwan und Xinjiang als nationale Kerninteressen. Ausländische Kritik wird als direkte Einmischung in die chinesische Innenpolitik aufgefasst, die die Souveränität der Volksrepublik und den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei untergraben soll. Zudem sieht die chinesische Führung in solchen Einmischungsversuchen eine Abkehr von der Ein-China-Politik, die zu beachten sich Deutschland nach der Normalisierung der Beziehungen verpflichtet hat. Druck aus dem Ausland wird Peking kaum zu Zugeständnissen bewegen. Deutschlands neue Regierung kann dennoch einen klugen und umsichtigen Weg finden, wie solche Fragen angesprochen werden können, ohne die kooperativen Beziehungen zur Volksrepublik zu untergraben.

 

Wie ernst könnte die Lage noch werden? Ist eine direkte militärische Konfronta­tion nicht eher unwahrscheinlich?

Keineswegs! China ist voll und ganz willens, einen Krieg zu riskieren, um seine Souveränität und sein Staatsgebiet zu sichern. Und jede Art von kriegerischer Auseinandersetzung in dieser Weltregion wäre kein Nullsummenspiel, alle beteiligten Parteien würden verlieren. Die Straße von Taiwan und das Südchinesische Meer könnten zu Krisenherden werden. Und die Koreanische Halbinsel würde von solch geopolitischer Gefahr sicher nicht verschont bleiben. Die Thukydides-Falle, vor der der Politikwissenschaftler Graham Allison gewarnt hat – die Annahme nämlich, dass es zwischen einer etablierten und einer aufstrebenden Macht wie einst Athen und Sparta zwangsläufig zum Krieg kommt –, scheint tatsächlich zu existieren, und sie könnte schon sehr bald zuschnappen. Wir müssen jetzt alles tun, um genau das zu verhindern.

 

Was wäre für die neue deutsche Regierung der beste Ansatz für die Region?

Deutschland könnte versuchen, China und die USA davon zu überzeugen, dass eine Konfrontation weder für sie noch für den Rest der Welt vorteilhaft ist. Als Erstes sollte also eine solche Botschaft an Wa­shington und Peking gesendet werden. Im Anschluss könnte die Bundesregierung Kontakt zu amerikanischen Alliierten suchen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, wie etwa Frankreich, Japan, Australien, Südkorea und andere asiatische Staaten. Die Bundesregierung könnte eine Konferenz aller Länder einberufen, die sich in einer „Sandwich-Position“ wiederfinden, um zu diskutieren, wie eine Eskalation zwischen den USA und China verhindert werden kann.

 

Einige nennen diese Konfrontation einen „neuen Kalten Krieg“. Sie sind der Architekt der „Sonnenschein-Politik“ gegenüber Nordkorea. Haben das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung diejenigen inspiriert, die sich dafür einsetzen, Korea wieder zu vereinen?

Ja, die deutsche Wiedervereinigung war eine große Inspiration – und Willy Brandts Ostpolitik eine nützliche Orientierungshilfe. Tatsächlich war die „Sonnenschein-­Politik“ eine Reflektion der Ostpolitik, die den Abbau von Spannungen, den Aufbau von Vertrauen und die Förderung von Austausch und Kooperation in den Vordergrund stellte. Nord- und Südkorea haben 1992 einen Grundlagenvertrag über eine Nichtangriffsvereinbarung, Wiedergutmachung, Austausch und Zusammenarbeit geschlossen, der aber weit hinter das deutsche Beispiel zurückfiel.



Obwohl wir mittlerweile fünf inter­koreanische Gipfeltreffen hatten – das erste im Jahr 2000, das zweite 2007, dann gleich drei 2018 – ließen sich Austausch und Kooperation nicht im notwendigen Umfang durchsetzen. Sie laufen heute auf einer Art „Stop-and-Go“-Basis. Das nordkoreanische Nuklearprogramm und die weiterhin feindlichen Beziehungen zwischen Pjöngjang und Seoul (und Washington) verschlimmerten die Situation umso mehr.



Dazu kommt, dass das deutsche Wiedervereinigungsmodell von einigen als problematisch angesehen wurde, da es die Idee der Vereinigung durch Absorption propagierte. Gerade im Norden nährte das die Befürchtung, bei einer Wiedervereinigung würde der Süden den Norden einfach schlucken. Die Regierungen Südkoreas haben wiederholt klar gemacht, dass sie weder einen Regimewechsel in Nordkorea noch eine Wiedervereinigung durch Absorption anstreben. Aber Nordkoreas Reaktion war nicht positiv.

 

Eine Wiedervereinigung Koreas würde die Machtbalance in Asien beeinflussen. Denken Sie, es bestünde in den nächsten Jahrzehnten eine realistische Chance, oder ist das etwas für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts?

Das hängt davon ab, wie sie Wiedervereinigung definieren, ob das gleich „eine Nation, ein Staat, eine Regierung, ein System“ bedeutet. Eine andere Möglichkeit wäre eine Föderation, eine ­Konföderation oder eine Union des nordkoreanischen und des südkoreanischen Staates. Der Norden befürwortet die Konföderation, während der Süden eine Unionslösung präferiert. Ähnlich der Europäischen ­Union könnten ­diese auf den Prinzipien „eine Nation, zwei Staaten und zwei Regierungen“ aufgebaut sein, was Austausch und Kooperation, eine friedliche Koexistenz, Reisefreiheit und den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen ermöglichen würde.



Das würde auch eine institutionalisierte Form des Dialogs und der Kooperation beinhalten, wie etwa Gipfeltreffen, interkoreanische Ministertreffen und Parlamentsgespräche. In diesem Modell würden nachfolgende Generationen einmal die endgültige Form des Staatsaufbaus in einem Referendum entscheiden. Wenn Nordkorea dem zustimmt, könnte eine solche Wiedervereinigung durch eine Union von Nord- und Südkorea noch in meiner Lebenszeit erreicht werden. Eine umfassende Wiedervereinigung aber, durch einen einheitlichen Nationalstaat, eine Föderation oder Konföderation, wird es in meiner Lebenszeit nicht mehr geben. Es sei denn, es gibt einen Krieg.

 



… was wohl kaum wünschenswert wäre.

Natürlich nicht. Das wäre das Worst-­Case-Szenario, das wir unter allen Umständen verhindern sollten. Jeder Frieden ist besser als Krieg. Aber solange Nord- und Südkorea nicht die Furcht voreinander ablegen, die sich tief in beide Gesellschaften eingegraben hat, ist das eine ernstzunehmende Möglichkeit. Seoul und Pjöngjang müssen eine „strategische Empathie“ entwickeln, wie der amerikanische Ostasien-Experte Paul Heer schreibt. Empathie resultiert aus gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Verständnis. Und nur, wenn Empathie bereits vorhanden ist, lässt sich langsam auch Vertrauen aufbauen. Und erst mit diesem Vertrauen lassen sich alle Konflikte auf friedliche Art und Weise ­beilegen.





Wie wird Südkoreas Position im USA-­China-Konflikt letztendlich aussehen?

Darüber gibt es in Südkorea zurzeit viele Debatten. Proamerikanisch Eingestellte argumentieren, dass wir zusammen mit den USA ein Gegengewicht zu China bilden. Diejenigen, die eine Pro-China-Linie vertreten, raten uns zu einer „Mitläufer-Strategie“, bei der wir unseren Kurs nach dem chinesischen Leitstern ausrichten, um es mal so zu sagen. Einige Nationalisten vertreten die Position, dass wir einen Alleingang wagen sollten, und die extreme Rechte fordert sogar Atomwaffen für Südkorea, damit wir uns als nuklear bewaffnete Mittelmacht behaupten können. Wieder andere würden unser Land gern in die Schweiz Ostasiens verwandeln und dauerhaft neutral bleiben.



Die meisten aber sind für ein „Durchwursteln“ nach dem Motto: Lasst uns den Status quo bewahren, lasst uns weiterhin ein verlässlicher Partner für die Vereinigten Staaten sein, aber dennoch unsere strategische, kooperative Partnerschaft mit China aufrechterhalten. Mein Gefühl sagt mir aber, dass das nicht ausreichen wird. Wir brauchen große Ideen in der Diplomatie, die über die derzeitigen Streitigkeiten zwischen Peking und Wa­shington hinausragen. Hier liegt auch für Deutschlands nächste Bundesregierung eine große Aufgabe. Berlin und Seoul können in dieser Richtung gemeinsam viel erreichen.    



Die Fragen stellte Henning Hoff.

Aus dem Englischen von John-William Boer.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special, Ausgabe 02, Januar 2022, S. 31-37

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