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01. Nov. 2021

Wie in Nordafrika Digitalisierung gelingt

Von Erfolgsgeschichten wie der Transforma­tion Tunesiens nimmt in Europa kaum jemand Notiz. Dabei kann und sollte die EU dieses Thema auch geopolitisch nutzen – sie ist der nächste Nachbar.

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Bild: Junge Frauen mit ihren Mobiltelefonen in einem Straßencafè in Tunis
Die tunesische Bevölkerung ist äußerst technikaffin, wie fast 18 Millionen Mobilfunkverträge bei einer 
Einwohnerzahl von rund elf Millionen beweisen: im Straßencafé in der Hauptstadt Tunis.
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Digitalisierung wird im außenpolitischen Diskurs zumeist mit Sicherheitsfragen wie Internetkriminalität, Cyberkriegsführung, Hackerangriffen verbunden. Dabei wird oft übersehen, dass die Digitalisierung einen immensen Gestaltungsspielraum in der Außenpolitik schafft.

Digitale Transformation als Motor und Beschleuniger von Entwicklungsprozessen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Eben: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bedient sich dieser Strategie der Digitalisierung mit. Auch die UN, insbesondere UNDP unter dem Deutschen Achim Steiner, haben dies vorangetrieben. Aber auch die EU muss sich der geopolitischen Thematik annehmen. Wir brauchen einen erweiterten europäischen Digitalraum.



Digitale Erfolgsgeschichten sind uns besonders aus dem asiatischen Raum geläufig. Kaum jemand nimmt jedoch Notiz von den Erfolgsgeschichten in den Ländern unseres Nachbarkontinents Afrika. Besonders spannend ist die Situation in Nordafrika, wo etwa in Tunesien nach der Revolution 2011 ein dynamisches IT-Ökosystem entstanden ist. Auch wenn es bereits vor der Revolution vereinzelt Start-ups gab, waren es erst die im Zuge der Revolution entstandenen politischen und rechtlichen Freiräume, die zu einer rapiden Entwicklung geführt haben.



Die Start-up-Szene besteht aus jungen Absolventinnen und Absolventen tunesischer Unis sowie aus Rückkehrenden aus der westlichen Welt. Das digitale Ökosystem umfasst heute etwa 2000 Unternehmen und trägt bereits über 11 Prozent zum BIP bei. Dabei handelt es sich neben einfachen Digitalanbietern im Backoffice-Bereich auch um anspruchsvolle Deep-Tech-­Unternehmen. So wie InstaDeep, ein Unternehmen für KI-gestützte B2B-Produkte zur Entscheidungsfindung, das jüngst eine strategische Partnerschaft mit dem deutschen Pharmakonzern BioNTech zur Entwicklung neuer Immuntherapien in einem Innnovationslabor abgeschlossen hat. Auch die Deutsche Bahn setzt bei der digitalen Transformation ihres ­Schienennetzes auf InstaDeep.



Generell zeichnen sich tunesische IT-Anbieter durch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aus, auch weil die Branche noch nicht voll auf dem IT-Weltmarkt integriert ist, was sich unter anderem in Problemen beim Zugang zu internationaler Entwicklersoftware ausdrückt. Gleichzeitig befördern Herausforderungen dieser Art einen besonderen Überlebensgeist, der für die Arbeitsweise im Sektor charakteristisch und erfolgsbringend ist.



Die wohl wichtigste Grundbedingung für die Digitalisierung ist die Bereitstellung der benötigten Infrastruktur. Die Ballungsräume Tunis, Sfax und Sousse verfügen über ausgewiesene Gebiete mit sehr guter Glasfaseranbindung, in denen sich auch die IT-Zentren, Innovationslabore und Industrieparks angesiedelt haben. Darüber hinaus gibt es eine umfassende 4G-Abdeckung bis in die entferntesten Winkel des Landes und eine große Technikaffinität der Bevölkerung, wie 17,8 Millionen Mobilfunkverträge bei rund elf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zeigen. Die Anwendung digitaler Technologien ist fester Teil des Alltags. So sind die Wahlregistrierung und die Schulanmeldung schon seit einigen Jahren per Handy möglich. Das ist in vielen Ländern Europas noch nicht der Fall.



Die kompetitive Kostenstruktur der Branche ist besonders interessant für ausländische Investoren. Die Anfangsgehälter für Schulabgänger liegen zwischen 400 und 500 Euro monatlich. Allerdings bleiben diese selten länger als ein Jahr in einem Unternehmen und ziehen wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten oft nach Europa. Daher gehen immer mehr Unternehmen dazu über, auch in Tunesien höhere Gehälter zu zahlen. Deutsche Unternehmen berichten, dass sie mit überdurchschnittlichen Anfangsgehältern tunesische Softwareingenieure auch längerfristig an sich binden können.

Der Fortschritt in der digitalen Transformation schafft eine Reihe neuer Arbeitsplätze, für Tunesien laut Außenhandelsbehörde 80 000. Viele werden durch ausländische Unternehmen geschaffen, die die lokalen Kostenvorteile nutzen und Fachkräfte in der gleichen Zeitzone und in zwei bis drei Flugstunden Entfernung quasi vor der Haustür finden. Traditionell waren aufgrund der Sprache französische Unternehmen stark präsent. Die jüngere Generation aber, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist, spricht gut bis sehr gut Englisch, sodass auch immer mehr deutsche Unternehmen die Chance nutzen, Fachkräfte vor Ort einzustellen.



Die tunesische Erfolgsgeschichte beim digitalen Wandel ist exemplarisch für die ganze Region. In Marokko gibt es bereits größere Unternehmen, die vor allem im Backoffice-Bereich Zehntausende Beschäftigte haben und in andere Staaten Westafrikas expandieren. Inzwischen wissen auch europäische Unternehmen das hohe Niveau afrikanischer Dienstleister zu schätzen. So legte kürzlich der Medienkonzern Bertelsmann seine Customer-Relationship-Management-Sparte (CRM) mit dem marokkanischen Unternehmen Saham zusammen. Das neu entstandene Unternehmen, Majorel, gehört zu den ­weltweit führenden CRM-Anbietern.



Neben Marokko, dessen IT-Industrie bereits 60 000 Jobs geschaffen hat, zählt auch Ägypten zu den dynamischen Ländern Afrikas mit einer wachsenden IT-­Industrie. Hier übersteigt die Wachstumsquote des IT-Sektors seit Jahren weit die der Gesamtwirtschaft; ein entscheidender Grund dafür, warum Ägypten auch 2020 als eines der wenigen Länder weltweit nicht in eine Rezession abrutschte. Die namenhaften internationalen IT-Firmen sind ebenfalls in der Region vertreten, so wie IBM, Microsoft oder Cisco. Auch in Nigeria, Ghana und Senegal nimmt die digitale Transformation Fahrt auf. Bezeichnend für diesen positiven Trend ist die stetig wachsende Menge an Risikokapital, die in afrikanische Tech-Start-ups investiert wird; 2019 überstieg diese Summe erstmals die Marke von zwei Milliarden US-Dollar.



Digitale Technologien spielen eine Schlüsselrolle bei der Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele. Die digitale Transformation besteht dabei nicht nur einfach aus dem Ersetzen analoger Techniken durch digitale; vielmehr befördern das hohe Maß an Vernetzbarkeit und die steigende Geschwindigkeit des Datenaustauschs neue und innovative Anwendungen und Lösungen.



Dadurch ergeben sich substanzielle Möglichkeiten, Armut zu bekämpfen und soziale Ungleichheiten zu verringern, etwa durch die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze, digital gestützte Klimaanpassungsmaßnahmen oder durch die Stärkung der Rolle von Frauen. Neue digitale Arbeitsplätze werden nicht nur durch ausländische Investoren geschaffen. Vielmehr kann man die Entstehung zahlreicher neuer Unternehmen für den einheimischen Markt beobachten. Dazu zählen lokale Lösungen für lokale Probleme, für die Softwarelösungen aus Europa und den USA häufig nicht geeignet sind, weil sie nicht auf die lokalen Märkte und Nutzerpräferenzen zugeschnitten sind.



Anpassung an den Klimawandel

Digitalisierung und Klimawandel verhalten sich äußerst ambivalent zueinander. Die Digitalisierung führt zu einem Anstieg klimaschädlicher Emissionen durch den gesteigerten Energiebedarf; gleichzeitig bieten digitale Technologien große Chancen bei der Anpassung an den Klimawandel. So können digital gestützte Frühwarn- und Notfallsysteme gerade in dichtbesiedelten Metropolen dabei helfen, im Katastrophenfall Menschenleben zu retten. Intelligente Stromnetze können die Effizienz und Effektivität der Energieversorgung drastisch erhöhen.



Besonderes Potenzial für digitale Lösungen hat die Landwirtschaft, die wegen der häufig kleinteiligen Äcker wenig Chancen auf ein gutes und gesichertes Auskommen bietet. Zu mühselig ist die Arbeit und zu gering der Ertrag; da versuchen viele Menschen ihr Glück lieber in der nächsten Großstadt. Die Digitalisierung ermöglicht immense Verbesserungen von Arbeitsabläufen und Produktionssteigerungen, etwa durch die Ferndiagnose von Tierkrankheiten per App oder die Optimierung des Düngemitteleinsatzes. Digitale Vertriebswege erlauben es Landwirten, Zwischenhändler zu umgehen, was zu Einkommenssteigerungen und der Reduzierung von Abfällen führt. Die digitale Transformation kann insbesondere ­Frauen und Mädchen dabei helfen, gesicherte und nachhaltige Arbeitsplätze zu erlangen. Bemerkenswerterweise entfallen 61 Prozent der IT-Ingenieursabschlüsse auf Frauen.



Außenpolitische Konsequenzen

Die deutsche Entwicklungspolitik hat die Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation bereits seit einigen Jahren erkannt und eine Reihe entsprechender Projekte aufgesetzt. Ein besonderes Projekt sind die Digitalzentren, die als physische und virtuelle Knotenpunkte dienen und digitale Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung fördern sollen. In Tunesien wurde das zweite dieser Zen­tren eröffnet. Insgesamt sollen derer 16 auf dem Kontinent entstehen. Um lokale Innovationen zu fördern, arbeitet das „Start-up Ecosystem Programme“ des Digitalzen­trums Tunesien an Themen wie Gründungsförderung, Zugang zu Finanzen und Märkten sowie Trainings- und Vernetzungsmöglichkeiten.



Die Entwicklungen in Afghanistan zeigen uns, dass wir Außenpolitik neu denken müssen. Demokratie mit der Waffe zu exportieren, war offensichtlich nicht erfolgreich. Dennoch werden demokratisch-liberale Werte wie Informationsfreiheit und die Achtung der Menschenrechte nach wie vor von vielen Menschen als erstrebenswert angesehen. Der Weg dahin wird aber schwieriger. Alternativmodelle wie die Entwicklung in China werden zur Konkurrenz. Die Schaffung von besseren Lebensverhältnissen durch IT-gestützte attraktive Arbeitsplätze kann hierbei einen wichtigen Beitrag leisten.



Dabei hat auch die digitale Transformation einen manifesten geopolitischen Hintergrund. Im technologischen Konflikt zwischen China und den USA geht es ebenfalls um die Position Europas: Es liegt nahe, dass Europa mit seinen Nachbarregionen eine enge technologische und wirtschaftliche Kooperation sucht. Aber genau wie europäische und amerikanische Unternehmen Talente aus dem asiatischen Raum anzulocken suchen, gilt das auch in umgekehrter Richtung. China hat beispielsweise in Tunesien ein Kulturinstitut mit intensiver Sprachausbildung und Stipendien eröffnet, die Talente für das Land interessieren soll. Ein ursprünglich geplanter 5G-Ausbau mit Huawei wurde erst einmal auf Eis gelegt. Natürlich sind Microsoft, Google, Cisco und andere US-Unternehmen bereits in Nordafrika präsent, um ihre Produkte anzubieten und Talente an sich zu binden.



Deutsche Digitalunternehmen sind noch eher zaghaft unterwegs. Immerhin SAP ist auf dem gesamten Kontinent präsent und das Münchner Softwarehaus MaibornWolff hat in Tunesien eine Niederlassung eröffnet. Wichtiger sind die zahlreichen deutschen Industrieunternehmen, wie die Automobilzulieferer oder Siemens, deren Prozesse digitalisiert werden und die dafür geeignetes Personal an ihren Standorten in Nordafrika benötigen. Dieser Beitrag der deutschen Wirtschaft ist wichtig, denn ohne Aussicht auf konkrete Arbeitsplätze verpuffen entwicklungspolitische Maßnahmen.

Die Digitalisierung ist allerdings nicht ohne Risiken: Sie kann zwar die Transparenz und Rechenschaftspflicht verbessern, Bleibeperspektiven schaffen und Minderheiten befähigen. Neue Technologien können autoritären Regimen aber auch neue Mittel an die Hand geben, um Bürgerinnen und Bürger zu überwachen oder gegen Andersdenkende vorzugehen. International ist diese Gefahr durch die Diskussion um die israelische Pegasus-Software bekannt geworden. Hierdurch wurde beispielsweise der marokkanische Geheimdienst verdächtigt, Mobiltelefone von Regimekritikern und ausländischen Regierungschefs wie des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausspioniert zu haben.



Die Digitalisierung ist auch kein Allheilmittel bei der Schaffung von neuen Jobs. Sie kann sowohl eine Vielzahl traditioneller Arbeitsplätze zerstören als auch andererseits neue schaffen. Dieses Kerndilemma der Transformation ist ein weltweites Phänomen, das es in der digitalen Kooperation mit diesen Ländern zu beachten gilt.



Erweiterter europäischer Digitalraum

Es braucht also einen verlässlichen wirtschaftlichen und politischen Rahmen, bei dem die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen. Hier sind vor allem die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten gefordert. Die bestehenden und geplanten Assoziierungsabkommen müssen neu gedacht werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass der digitalen und wirtschaftlichen Vernetzung zwischen Europa und Nordafrika ausreichend Rechnung getragen werden muss.



Die EU könnte einen erweiterten europäischen digitalen Raum schaffen, der auch die südlichen und östlichen Nachbarstaaten einbezieht. Gemeinsame Ausbildungsgänge, ein intensiverer Austausch von Fachkräften sowie enge Abstimmung der Lehrinhalte an Schulen und Universitäten müssen erwogen werden. Warum nicht auch ein Erasmus-Programm für qualifizierte Start-ups, das erleichterte Visumsmöglichkeiten schafft? Zudem muss eine Lösung bei der Anwendung der Europäischen Datenschutzverordnung gefunden werden. Die EU sollte ebenfalls beim Ausbau der digitalen Netze und der klimafreundlichen Energieversorgung helfen, um den wachsenden Energiebedarf durch die Digitalisierung klima­freundlich zu gestalten.     

 

Dr. Andreas Reinicke ist Botschafter a.D. und Berater beim BMZ für die digitale Kooperation mit Nordafrika.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 86-90

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