Wie Goliath gewinnen kann
Westliche Demokratien und ihr Einsatz in Kleinen Kriegen
Es gibt wieder Krieg! Aber nicht so wie bisher. Das globale Verantwortungs- und Sicherheitsbedürfnis des Westens werden sein Eintreten in komplexe Kleine Kriege unumgänglich machen. Die Staaten sind dazu heute willens und fähig. In Deutschland braucht es allerdings eine Neuorientierung der Bundeswehr – und der Gesellschaft.
„Amerika! Es ist Zeit, dass wir uns auf den Aufbau unserer Nation konzentrieren.“1 Wie das Halali mag dieser Satz aus der Rede des amerikanischen Präsidenten zum künftigen Afghanistan-Engagement der USA in den Ohren all jener klingen, die in den vergangenen Jahren das Ende der Ära des Interventionismus weissagten oder befürchteten. Der Westen wäre derzeit kaum noch willens, sich auch militärisch zu engagieren, wenn, um es mit Goethe zu sagen, in fernen Ländern „Völker aufeinander schlagen“. Die Gründe hierfür wären nicht nur die jüngsten Erfahrungen in Afghanistan und im Irak, sondern auch die deutlich spürbaren Auswirkungen der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise und eine ernüchterte bis skeptische Wählerschaft. Aber ist es wirklich so, dass das angebliche Scheitern der Streitkräfte westlicher Demokratien, der „Goliaths“, in Kleinen Kriegen2 strukturell bedingt ist? Können wir Kleine Kriege tatsächlich nicht gewinnen? Worauf müssen wir Streitkräfte, Politik und Gesellschaft künftig einstellen?
Auch zukünftig werden Demokratien in Kleinen Kriegen intervenieren
Die Wahrung der territorialen Integrität bleibt heute und in Zukunft eines der wichtigsten Ziele staatlicher Sicherheitsvorsorge. Darüber hinaus müssen Staaten jedoch in der Lage sein, abstrakt formuliert, einen Zustand an globaler Verflechtung (wieder-)herzustellen und zu erhalten, der gleichermaßen der Wahrung ihres materiellen Wohlstands wie der Sicherung ihrer freiheitlichen Verfasstheit dient. Krisen und Konflikte lassen sich in Anbetracht der fortschreitenden globalen Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Kultur nicht länger isolieren, der technologische Fortschritt hat die Bedeutung von geografischen Entfernungen und territorialen Grenzen marginalisiert. Entwicklungen „in fernen Ländern“ können die Sicherheit und Interessen Deutschlands und seiner Bündnispartner sehr wohl berühren, und scheinbar marginale Störungen der internationalen Ordnung durch regionale Konflikte oder terroristische Aktionen können sich insbesondere in langfristiger Perspektive unmittelbar auf unsere nationalen Sicherheitsinteressen auswirken. So konstatiert auch der britische Nestor der Strategiegeschichte, Michael Howard: „Der Modernisierungsprozess ist mittlerweile so universell, dass es oft unmöglich ist, sich aus einem Konflikt herauszuhalten, ob wir wollen oder nicht.“3
Die gerade in der angloamerikanischen Diskussion vorgenommene Differenzierung zwischen „selbstgewählten Kriegen“ (wars of choice) und „notwendigen, existenziellen Kriegen“ (wars of necessity) ist somit bestenfalls noch für den Historiker von Bedeutung; für moderne Sicherheitspolitik besitzt sie keine operative Relevanz mehr. Goethes Bürger – „Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleibt’s beim Alten“ –, er irrt. Er irrt, da wir uns in einer Welt, in der wir zum Erhalt der internationalen Ordnung nur im Zusammenwirken mit unseren Partnern beitragen können, auch dann aus bündnispolitischen Erwägungen zum Engagement entschließen müssen, wenn nationale Interessen nicht unmittelbar berührt zu sein scheinen.
Zudem werden westliche Demokratien künftig Interventionen erwägen, wenn systematisch geplanten Menschheitsverbrechen vorgebeugt oder deren Durchführung unterbunden werden muss. Angesichts der sich zur Rechtsnorm entwickelnden Responsibility to Protect und des zunehmenden Bedeutungsverlusts der „Souveränität in inneren Angelegenheiten“ widerspräche ein Nichthandeln bei systematischen Menschheitsverbrechen dem Selbst- und Rechtsverständnis westlicher Demokratien.
Der Westen kann in Kleinen Kriegen erfolgreich sein
Denn es ist, erstens, keineswegs so, dass es den westlichen Demokratien an Interesse und Willen mangelt, in Kleinen Kriege erfolgreich zu bestehen, da, so die These, für sie dieser Einsatz immer einem begrenzten Zweck diene und daher nur mit begrenzten Mitteln geführt werde. Für den Gegner sei die Auseinandersetzung hingegen immer „total“, gewissermaßen „alternativlos“. Das daraus resultierende höhere Maß an Entschlossenheit, an Willen, führe in der Langzeitperspektive „unausweichlich“ zum Misserfolg des Intervenierenden. Die hier unterstellte, geradezu deterministische Kausalität verkennt, dass es einerseits für den gegnerischen Akteur gerade in modernen Konflikten nicht nur die Wahl zwischen Überleben oder Vernichtung gibt, sondern eine Vielzahl von für ihn akzeptablen Ergebnissen. So werden beispielsweise die Versöhnungsgespräche der afghanischen Regierung mit einzelnen Taliban-Gruppierungen in diesem Verständnis geführt.
Umgekehrt unterschätzt diese These auch die Entschlossenheit, die Regierungen und Gesellschaften westlicher Demokratien entwickeln können, wenn es um die Verfolgung und Durchsetzung konkreter politischer Interessen auch mit militärischen Mitteln geht. So haben jüngere Studien die vermeintliche „Opfer-Aversion“ des Westens in das Reich der Mythen verwiesen: Moderne westliche Gesellschaften sind durchaus bereit, bei ihren Streitkräften Opfer zu akzeptieren, wenn sie von der „Richtigkeit“ des Einsatzes und seiner Erfolgsaussicht überzeugt sind. Auch die Art, in der westliche Streitkräfte diese Kleinen Kriegen führen und die bewusst auf die Inkaufnahme eines höheren Risikos für die eingesetzten Soldaten angelegt ist, widerlegt die These vom Rückzug auf die „postheroische Kriegsführung“ mit hoch technisierten Abstandswaffen. Denn das Ziel der Intervention kann nur durch das Zusammenwirken mit allen gesellschaftlich relevanten Akteuren, durch den unmittelbaren Schutz der Bevölkerung, durch die Beschränkung auf minimal erforderliche, diskriminierende Waffengewalt erreicht werden.
Auch die zweite These zur strukturell bedingten Erfolglosigkeit westlicher Demokratien überzeugt nicht: Westliche Demokratien seien aufgrund eines „konventionellen Reflexes“4 unfähig, ihre Doktrin und ihre institutionelle Organisation den Erfordernissen Kleiner Kriege anzupassen und zudem die Art ihrer Kriegsführung gegen irreguläre Kräfte derart zu „brutalisieren“, dass sie erfolgreich operieren könnten. Zum einen erweisen sich westliche Streitkräfte durchaus als organisationell lernfähig. Die Revolutionierung der Einsatzgrundsätze der US-Streitkräfte im Zuge der Erarbeitung des Feldhandbuchs zur Aufstandsbekämpfung ist Ausdruck dieser Anpassungsfähigkeit. Zum anderen würde eine „Brutalisierung“ der Kriegsführung die operative Zielsetzung – den Kampf um die Anerkennung der Legitimität – wie auch die strategische Zielsetzung – (Wieder-)Herstellung und Erhalt der globalen Verflechtung sowie Schutz und Durchsetzung von Menschenrechten – konterkarieren. Abgesehen davon wäre eine solche Art der Kriegsführung für westliche Gesellschaften inakzeptabel.
Bleibt das dritte Argument: die angeblich strukturell bedingte Ungeduld westlicher Demokratien, Kleine Kriege über einen längeren Zeitraum durchzustehen und erfolgreich zu beenden. Tatsächlich ist die Korrelation zwischen Einsatzdauer und sinkender Zustimmung zu Einsätzen bewaffneter Streitkräfte in Demokratien unübersehbar. Allerdings ist das jahrzehntelange Engagement britischer Streitkräfte in Nordirland ein prominentes Beispiel dafür, dass auch ein lang andauernder Streitkräfteeinsatz sehr wohl auf die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung zählen kann. Da das strategische Interventionsziel westlicher Demokratien in Kleinen Kriegen inhärent immer auf die Etablierung „selbsttragender“ Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen ausgerichtet ist, kann die damit verbundene graduelle Übertragung von Verantwortlichkeiten auf heimische Strukturen – und damit die Reduzierung des eigenen Engagements – diesen Mangel an strategischer Ungeduld westlicher Wählerschaften zumindest mildern.
Ein Blick in die Militärgeschichte zeigt zudem: Kriege haben nur sehr selten mit einem klaren Sieger und einem eindeutigen Verlierer geendet, der seine Niederlage auch anerkennt. In aller Regel wurden und werden bewaffnete Auseinandersetzungen durch Übereinkünfte beendet, bei denen natürlich die Partei, die aus einer Position der Stärke heraus verhandeln kann, ein ihren Vorstellungen nahe kommendes, sich im Verlauf des Konflikts durchaus veränderndes Ziel durchzusetzen vermag – aber eben kein a priori in Stein gemeißeltes Idealergebnis. Der „Siegfrieden“ oder eine bedingungslose Kapitulation sind die Ausnahmen, der „Verhandlungsfrieden“ der Normalfall. Ergebnisse von Streitkräfteeinsätzen sind weder eindeutig noch endgültig. Ihre Bewertung ist auch abhängig vom Referenzpunkt und der zeitlichen Perspektive. So lässt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs aus britischer Sicht ebenso als Triumph über den Nationalsozialismus beschreiben wie als Beginn des Prozesses, der zum Verlust des Empires führte. In noch stärkerem Maße gilt diese Ambivalenz für den Einsatz von Streitkräften im 21. Jahrhundert: Kleine Kriege kennen keine Siegesparaden, sie kennen auch im Ergebnis keine Eindeutigkeiten. Anstelle des „Siegfriedens“ ist der „strategische Vorteil“ getreten.5
Natürlich lässt sich fragen: Ist Bosnien-Herzegowina fast 20 Jahre nach Dayton nicht noch immer ein staatliches Kunstgebilde? Hat die Absicherung der Wahlen im Kongo durch die EU-Truppen 2006 nicht einem patrimonialen Herrschaftssystem zur Legitimierung verholfen? Bleibt der Anti-Piraterie-Einsatz „Atalanta“ nicht nur Symptombekämpfung? Bei aller Berechtigung dieser Fragen: Sie bleiben auf halbem Wege stecken und offenbaren, dass ihnen zudem ein noch vom Ideal des Siegfriedens beeinflusster Erfolgsmaßstab zugrunde liegt. Denn die Beendigung der ethnischen Säuberungen und der Beitrag zur regionalen Stabilisierung durch die Intervention in Bosnien-Herzegowina war und ist für die westlichen Demokratien ebenso von strategischem Vorteil wie die Verhinderung des Scheiterns des kongolesischen Wahlprozesses, der in einem Moment höchster Instabilität einen möglichen Flächenbrand in der Große-Seen-Region abgewendet hat. Und natürlich haben wir ein großes Interesse an befahrbaren Schifffahrtsrouten am Horn von Afrika, die auch die humanitäre Hilfe für die somalische Bevölkerung ermöglichen. Ein Nichthandeln wäre hier somit auch aus moralischer Perspektive keine mit unserem Selbstverständnis vereinbare Alternative. „Erfolgskriterien müssen auf die jeweilige Art der Kriegsführung zugeschnitten sein.“6 Und diese für den jeweiligen Einzelfall formulierten Erfolgskriterien müssen sich auch in der strategischen Kommunikation der westlichen Demokratien nach innen und nach außen widerspiegeln, um überzogenen, am Idealergebnis orientierten Erwartungen („Westminsterdemokratie“) entgegenzutreten.
Worauf müssen die Streitkräfte künftig vorbereitet sein?
Westliche Demokratien werden ihre Streitkräfte in Kleinen Kriegen an der Peripherie des euro-atlantischen Stabilitätsraums, aber auch jenseits davon einsetzen. Jedes Interventionsszenario wird dabei unterschiedlich sein: Streitkräfte werden eingesetzt gegen staatliche und nichtstaatliche Akteure oder „Privatakteure“, die im Auftrag von Staaten und unter Rückgriff auf deren Ressourcen agieren. Sie werden im Rahmen eines Bündnisses agieren oder aber in Ad-hoc-Koalitionen, häufig zusammen mit indigenen bewaffneten Kräften, nur in Ausnahmefällen im nationalen Alleingang (z.B. Evakuierungsoperationen). Sie werden unter unterschiedlichen Rechtsvoraussetzungen und mit unterschiedlichen Befugnissen eingesetzt werden.
Streitkräfte westlicher Demokratien werden in ihren Einsätzen mit Akteuren interagieren, die unterschiedliche Arten von Gewalt zu unterschiedlichen Zwecken einsetzen, denen Gewalt Selbstzweck oder Mittel zum Zweck ist, die – im wahrsten Sinne des Wortes – „auf eigene Rechnung“ (Warlords) oder im Auftrag eines Sponsors handeln, die offen oder verdeckt, organisiert oder unorganisiert kämpfen. Diese Akteure werden auf die Mittel und Möglichkeiten zurückgreifen, die ihnen in der jeweiligen Situation in taktischer, operativer und strategischer Hinsicht am erfolgversprechendsten erscheinen. Wie im Sommerkrieg 2006 im Libanon von der Hisbollah praktiziert, werden nichtstaatliche Akteure auf ein breites Spektrum von Mitteln zurückgreifen, von Selbstmordattentätern und Kindersoldaten mit AK-Sturmgewehren bis hin zu Satellitenkommunikationsmitteln und bewaffneten, unbemannten Luftfahrzeugen (Unmanned Aerial Vehicles, UAV).
Bisherige Gewissheiten über den zeitlichen Ablauf von Konflikten, ihre räumliche Ordnung und den Zusammenhang von Akteur und eingesetzten Mitteln, diese „Trinität der Linearität“ verliert an Gültigkeit: Es wird, erstens, keine berechenbare Abfolge von Operationen hoher Intensität hin zu „klassischem“ Peacekeeping geben. Das Gefechtsfeld wird, zweitens, in räumlicher Hinsicht kein „vorn und hinten“ kennen. Drittens ist eine lineare Unterscheidung zwischen einer regulären hochtechnisierten Form der Kriegsführung durch staatliche Akteure und einer irregulären, Lowtech-Kriegsführung niedriger Intensität durch nichtstaatliche Akteure unzutreffend. Kleine Kriege, in denen westliche Streitkräfte engagiert sein werden, werden gleichzeitig vormodern, modern und postmodern sein. Frank Hofmann hat für dieses Phänomen die Bezeichnung des „hybriden Krieges“ gewählt.7
Kleine Kriege werden nicht in evakuierten Gebieten oder auf räumlich getrennten Schlachtfeldern geführt. Vielmehr werden Streitkräfte dort zum Einsatz kommen, wo Menschen leben, wo ihre administrative und soziale Infrastruktur ist, wo der Zugang zu Ressourcen (wieder-)hergestellt werden soll und wo die Unterstützung der Bevölkerung, mit der Streitkräfte interagieren und inmitten derer sie ihren Auftrag erfüllen, ein wesentliches Operationsziel ist. In diesem „War amongst People“8 wird das Gewinnen von Legitimität ebenso bedeutsam wie das Zerschlagen gegnerischer Kräfte.
Streitkräfte westlicher Demokratien werden sich in diesen Kleinen Kriegen in unterschiedlichen Rollen wiederfinden, die sich zudem während des Konfliktverlaufs verändern können. Sie werden eingesetzt werden zur Prävention, zur Eindämmung, zur direkten Aktion. Sie werden gegnerische Kräfte zerschlagen, Zwangsmaßnahmen mit militärischer Gewalt durchsetzen, Kriegsparteien trennen oder abschrecken, Pufferzonen oder Embargos überwachen, einheimische Sicherheitskräfte unterstützen oder aufbauen. Stabilisierung, Überwachung, hochintensives Gefecht, die Absicherung und Unterstützung von Wiederaufbaumaßnahmen und der Schutz der Bevölkerung werden dabei nicht nur gleichzeitig, sondern oft auch in enger räumlicher Nähe zueinander stattfinden. Jeder Versuch einer einseitigen Etikettierung („Stabilisierungseinsatz“) wird der Komplexität der Kleinen Kriege nicht gerecht. Ihr Rational, ihre strategische Zielsetzung – die (Wieder-)herstellung und der Erhalt globaler Verflechtung sowie der Schutz und die Durchsetzung von Menschenrechten – wird gleichermaßen und gleichzeitig gendarmerieartige Aufgaben und offensive militärische Operationen erfordern. Und sie werden von den eingesetzten Streitkräften die enge, ja fast symbiotische Zusammenarbeit mit Regierungs- und Verwaltungsapparaten sowie Nichtregierungsorganisationen erfordern.
Was bedeutet dies für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik?
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die „Weltordnung von mehr Mächten getragen wird als je zuvor – aber gleichzeitig nur von wenigen in ihrem Bestand garantiert“.9 Die westlichen Demokratien müssen zu diesen Bestandsgaranten zählen, denn die globale Verflechtung ist Grundlage ihres materiellen Wohlstands und ihrer freiheitlichen Verfasstheit, die Garantie menschenrechtlicher Mindeststandards Basis ihres Selbst- und Rechtsverständnisses. Sie werden sich dieser Aufgabe gemeinsam im Bündnis stellen, und sie werden sie mit dem gesamten ihnen zur Verfügung stehenden außen- und sicherheitspolitischen Instrumentarium erfüllen. Die Komplexität aktueller und künftiger Risiken und Bedrohungen erfordert in gleicher Weise bündnis- wie ressortgemeinsames („vernetztes“) Handeln.
Als Mitglied von NATO und EU sowie als leistungsstärkste Volkswirtschaft in Europa muss auch Deutschland zu den Garanten der internationalen Ordnung gezählt werden. Die im Mai 2011 durch Verteidigungsminister Thomas de Maizière erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien orientieren sich an diesem Verständnis. Als Beleg dafür kann Folgendes angeführt werden: die Qualifizierung eines glaubwürdigen Beitrags zur Nordatlantischen Allianz als „Teil deutscher Staatsraison“; das klare Bekenntnis zur deutsch-schwedischen Initiative zum Pooling and Sharing auf europäischer Ebene (Gent-Initiative);10 die Festlegung der nationalen Zielvorgabe (level of ambition), nach der die Bundeswehr künftig zeitgleich rund 10 000 Soldaten durchhaltefähig für Einsätze in unterschiedlichen Einsatzgebieten verfügbar halten wird; die Vorgabe der strukturellen Ausrichtung an der wahrscheinlicheren Aufgabe der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie die Aufgabe der bisherigen Trennung zwischen Eingreif- und Stabilisierungskräften, die der Realität eines „hybriden Krieges“ nicht standhält. Konsequenterweise rückt auch die eindeutige Benennung der „Befähigung zum Kampf“ als Maßstab für die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte das zuweilen in der Öffentlichkeit in den Vordergrund getretene Zerrbild des „bewaffneten Entwicklungshelfers“ zurecht.
Die organisatorische Neuausrichtung der Bundeswehr ist jedoch nur eine Seite. Sind auch Politik und Gesellschaft auf die Rolle Deutschlands als Bestandsgarant der internationalen Ordnung vorbreitet? Müsste dann nicht ein damit verbundener Verantwortungsbegriff den dominierenden Terminus von der „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ ablösen? Denn: Widerspricht nicht dieser Terminus bereits dem Konzept der vernetzten Sicherheit, da er eines der Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik wenn auch nicht expressis verbis ausschließt, so doch a priori voreingenommen betrachtet? Ist er vereinbar mit unserem Anspruch, „globale Ordnungspolitik in unserem Sinne künftig mitgestalten zu können“, so Außenminister Guido Westerwelle? Ist er vereinbar mit unserem Bekenntnis zur Bündnissolidarität?
Müssten wir unsere Überlegungen zum Einsatz von Streitkräften nicht stärker von unserem sicherheitspolitischen Interesse an der (Wieder-)herstellung und der Aufrechterhaltung der globalen Verflechtung leiten lassen; von unserer Verantwortung als einer der Bestandsgaranten der internationalen Ordnung, von unserer Verantwortung, verlässlich zur Lastenteilung im Bündnis beizutragen, von unserer Verantwortung gegenüber Menschen auch in entfernten Regionen, denen aufgrund systematischer Gewalt fundamentale Menschenrechte versagt bleiben? Und müssen wir damit nicht auch die hierzulande häufig anzutreffende Missinterpretation des Begriffs Ultima Ratio als zeitlich „letztes“ Mittel zugunsten eines Verständnisses als „äußerstes“ Mittel korrigieren?
Für die praktische Politikgestaltung würde ein derartiges Verantwortungsverständnis auch erfordern, unsere Prozesse und Institutionen auf nationaler wie internationaler Ebene zu überprüfen. Werden sie noch den aktuellen und absehbaren Anforderungen an den sicherheitspolitischen Informations- und Entscheidungsbedarf gerecht? Sind unsere parlamentarischen Verfahren vereinbar mit der Integration deutscher Truppenteile in NATO- und EU-Reaktionskräfte? Welche Folgen hat dies für unsere Verlässlichkeit im Bündnis? Über welche Verfahren verfügen wir, um das Erreichen unserer Ziele im Einsatz zu überprüfen, Erfolge zu messen? Wie ist der zunehmende Detaillierungsgrad der Bundestagsmandate mit der erforderlichen militärischen Flexibilität in hochkomplexen Einsatzszenarien vereinbar? Keine dieser Fragen ist einfach oder eindeutig zu beantworten. Aber es sind Fragen, auf die wir im politischen und gesellschaftlichen Diskurs Antworten finden müssen, wollen wir auch künftig erfolgreich dem Gestaltungsauftrag des Grundgesetzes gerecht werden, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Dr. CHRISTIAN FREUDING, Obersteutnant i.G., gehört dem Bundesministerium der Verteidigung an. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
- 1Rede von US-Präsident Barack Obama über das weitere Vorgehen in Afghanistan, 22.6.2011.
- 2Der Begriff des „Kleinen Krieges“ geht auf Carl v. Clausewitz zurück, für sein heutiges Verständnis ist jedoch die Definition des britischen Militärtheoretikers C.E. Callwell maßgeblich: „Kleiner Krieg ist ein Begriff, der in letzter Zeit öfter benutzt wird und zugegebenermaßen etwas schwierig zu definieren ist. Praktisch kann man sagen, dass er alle Kämpfe beinhaltet außer solchen, bei denen die beiden sich gegenüberstehenden Seiten aus regulären Truppen bestehen“ (übersetzt aus Small Wars. Their Principles and Practice, 3. Ausgabe, London 1906, S. 21).
- 3Michael Howard: The Transformation of Strategy, RUSI Journal, 4/2011, S. 15.
- 4Stefan Goertz: Warum die Streitkräfte mancher Staaten den Kleinen Krieg verlieren. Eine Kritik der westlichen Counter-insurgency-Doktrinen, in: Ulrich vom Hagen (Hrsg.): Armee in der Demokratie. Zum Verhältnis von zivilen und militärischen Prinzipien, Wiesbaden 2006, S. 76.
- 5Colin Gray, Defining and Achieving Decisive Victory, Carlisle 2002, S. 10.
- 6Ebd., S. 20.
- 7Frank Hoffman: Conflict in the 21st Century. The Rise of Hybrid Wars, Arlington 2007.
- 8General Sir Rupert Smith hat diesen Begriff in Abgrenzung zur industriellen Massenkriegsführung geprägt, in: The Utility of Force. The Art of War in the Modern World, London 2005, S. 270; vgl. auch David Betz: Redesigning Land Forces for Wars Amongst the People, Contemporary Security Policy, 28/2007.
- 9Handelsblatt, 5.7.2011.
- 10Identifikation von Fähigkeiten, die erstens ausschließlich national vorgehalten werden, bei denen zweitens eine engere Zusammenarbeit mit Partnern möglich ist, ohne nationale Fähigkeiten abzugeben (pooling), und bei denen drittens ein wechselseitiges, verabredetes Abstützen auf europäische Partner (sharing) vorstellbar ist.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 18-25