Weltspiegel

29. Apr. 2024

Wie die EU-Kommission zum geopolitischen Akteur wurde

Ursula von der Leyen hat die Gewichte in Brüssel verschoben und Führung gezeigt: in der Pandemie, im Ukraine-Krieg und bei der Erweiterung. 

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Bild: US-Präsident Joe Biden mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Antwort auf eine alte Frage: US-Präsident Joe Biden würde Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anrufen, wenn er die EU sprechen will.
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Als US-Präsident Joe Biden Ende März 2022 in Brüssel war, wurde er nach China gefragt. Ob er glaube, dass Peking Moskaus Angriff auf die Ukraine mit Waffen unterstützen werde, wollte ein amerikanischer Journalist wissen. Biden erläuterte, dass er Präsident Xi Jinping erst ein paar Tage zuvor die Konsequenzen eines solchen Schrittes aufgezeigt habe, sowohl für die wirtschaftlichen Beziehungen zu Amerika als auch zu Europa. Dann hielt Biden kurz inne: „Hat Ursula diese Konferenz mit China morgen oder am nächsten Montag?“, fragte er. „Am 1. April“, rief ihm ein Mitarbeiter zu, also noch ein paar Tage später. 

Diese kleine Szene sagt viel aus. Der amerikanische Präsident steht im Pressesaal des NATO-Hauptquartiers, wird nach China befragt – und so ziemlich das Erste, was ihm einfällt, ist eine Videokonferenz der EU-Kommissionspräsidentin ­Ursula von der Leyen mit dem chinesischen Präsidenten. Von der Leyen, so viel wurde in jenem Augenblick klar, spricht aus Bidens Sicht für die Europäische ­Union, und das auf Augenhöhe mit ihm selbst. Die alte Frage „Wen rufe ich an, wenn ich Europa anrufen will?“ war damit beantwortet. Sie stammt zwar nicht von Henry Kissinger, dem sie oft zugeschrieben wurde. Aber sie war ja berechtigt. Als die EU 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, fuhren die Präsidenten von Kommission, Rat und Parlament zu dritt nach Oslo, nachdem sie wochenlang darüber gestritten hatten, wer eigentlich zuständig sei.

Mit der von Ursula von der Leyen geführten Kommission haben sich die Dinge geklärt, und zwar in einer Weise, die als kaum mehr umkehrbar erscheint. Sie hat eingelöst, was sie im November 2019 in einer Rede in Paris erstmals angekündigt hatte: „Ich will eine wahrhaft geopolitische Kommission aufbauen.“ Mit den beiden großen Krisen – der Pandemie 2020/21 und dem Ukraine-Krieg seit Anfang 2022 – ist die Kommission tatsächlich zum zentralen geopolitischen Akteur geworden. 

Allerdings gilt das nicht für die EU als Ganze. Seinerzeit, kurz vor Amtsantritt, hatte die gewählte Präsidentin beides noch gleichgesetzt. Europa, so beschrieb sie ihre Vision in Paris, solle seine „gemeinsamen Werte und Interessen in der Welt verteidigen“ und eine „gemeinsame strategische Kultur entwickeln“. 

Ihre erste Auslandsreise führte die Kommissionspräsidentin nach Äthiopien zur Afrikanischen Union 

Das ist der Europäischen Union nur bedingt gelungen. Tatsächlich gibt es weiterhin große strategische Differenzen unter den Staaten, wie insbesondere der Krieg im Gazastreifen offengelegt hat. Das hat den Aktionsspielraum der beiden Institutionen, die gemäß dem Vertrag von Lissabon für die Außenvertretung verantwortlich sind, erheblich eingeschränkt. Weder Charles Michel als Präsident des Europäischen Rates noch der Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell können für sich in Anspruch nehmen, geopolitische Akteure geworden zu sein – obwohl dies gewiss beider Anspruch war. Besonders Michels Ambitionen sind drastisch gescheitert.

All das war noch nicht abzusehen, als von der Leyens Kommission Anfang Dezember 2019 ihr Amt antrat. Der Begriff „geopolitische Kommission“ wurde seinerzeit in Brüssel als rhetorischer Trick gesehen. Von der Leyen grenzte sich damit gegen ihren Vorgänger Jean-Claude Juncker ab, der als gewählter Spitzenkandidat mit dem Anspruch einer „politischen Kommission“ agiert hatte. Daran war als solches nichts auszusetzen, doch hatte die fragwürdige Schnellbeförderung seines Kabinettschefs Martin Selmayr zum Generalsekretär der Kommission den Anspruch 2018 in ein schlechtes Licht gerückt. Es sah so aus, als hebele das Adjektiv „politisch“ die Verpflichtung zum rechtsförmigen Handeln aus. Von der Leyen wurde vom Parlament gezwungen, Selmayr zu opfern, und ihr neuer Anspruch sollte auf die überparteilichen Interessen verweisen.

Nach Amtsantritt kam es ihr entgegen, dass sich das Thema von selbst erledigte, welches in den Jahren zuvor die größte Aufmerksamkeit Junckers erzwungen hatte: Zwei Monate später trat das Vereinigte Königreich aus der EU aus. Zwar waren damit die Konflikte nicht beendet, doch konnte von der Leyen die Verhandlungen über ein neues Handels- und Kooperationsabkommen delegieren. Sie selbst unternahm ihre erste Auslandsreise, um die Afrikanische Union in Addis Abeba zu besuchen. Das sollte schon ein klares Zeichen sein: Nach den nervenaufreibenden Brexit-Debatten, in denen Europa nach innen sah, sollte sich nun der Blick nach außen richten – mit Afrika als einem neuen Schwerpunkt.


Gemischte Bilanz der Impfpolitik

Als Anfang 2020 die Corona-Pandemie heraufzog, wirkte das zunächst wie ein retardierendes Moment. Die EU-Staaten schlossen in Panik nicht nur ihre Außen-, sondern auch die Binnengrenzen. Von der Leyen hatte alle Hände voll zu tun, das so entstandene Chaos zu ordnen und den Schengenraum zu verteidigen. Der Blick der Europäer war nach innen gerichtet, auf die wirtschaftlichen Verheerungen und die Entwicklung eines Impfstoffs. 

Von der Leyen verlor die externe Perspektive aber nie aus dem Blick. Sie sah, wie China und Russland mit relativ wirkungslosen Impfstoffen Einflusspolitik betrieben, in Afrika, auch auf dem Westbalkan und sogar bis in die Europäische Union hinein. Ihre Antwort darauf waren die von der EU-Kommission finanzierte Entwicklung von Impfstoffen und eine globale Impfallianz.

So kam es, dass von der Leyen im Mai 2020 eine internationale Geberkonferenz leitete, bei der sie einen Staats- und Regierungschef nach dem anderen aufrief und um seine Spende bat. Rund 7,5 Milliarden Euro kamen so zusammen, gerade einmal zwei Monate, nachdem die Weltgesundheitsorganisation eine globale Pandemie ausgerufen hatte. Es war der Augenblick, in dem ihre Kommission erstmals Führung übernahm – während US-Präsident Donald Trump alles daransetzte, Impfstoffe nur für die USA zu produzieren. Amerikanische Philanthropen wie Bill Gates scharten sich um von der Leyen, die bei einem Benefizkonzert mit Weltstars wie Miley Cyrus und Justin Bieber auftrat.

Allerdings fiel das Ergebnis gemischt aus. Binnen eines Jahres wurden zwar mehr als zwölf Milliarden Euro für Länder geringen und mittleren Einkommens zugesagt. Doch im Oktober 2021 hatten die betreffenden Länder gerade einmal 85 Millionen Dosen über die COVAX-Ini­tiative erhalten. Das Gros der Produktion blieb in Europa, eine Milliarde Dosen wurden zu Marktpreisen an Drittstaaten wie Japan und Australien verkauft. Von der Leyen rühmte die EU deshalb als „größten Impfstoffexporteur der Welt“. Gerade afrikanische Länder fühlten sich dagegen als Staaten zweiter Klasse behandelt. Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa beklagte sich gar über „Impfstoff-Apartheid“. 

Die Verbitterung darüber spielt auch heute noch eine Rolle, wenn der Globale Süden distanziert auf den Ukraine-Krieg und Europa blickt. Wer Führung zeigt, geht immer auch das Risiko ein, dass er Erwartungen enttäuscht. Für von der Leyen war das eine neue Erfahrung – für die Vereinigten Staaten ist es der Alltag: Führungsmächte werden selten geliebt.


Russland-Sanktionen und Ukraine-Hilfe

Der zweite Schlüsselmoment für die Kommissionspräsidentin wurde dann der 24. Februar 2022, als Russland die gesamte Ukraine überfiel. Von der Leyen zeigte sich an jenem Tag mit eiserner Entschlossenheit. „Wir werden die wirtschaftliche Basis Russlands schwächen und seine Fähigkeit, sich zu modernisieren“, kündigte sie wenige Stunden nach dem Angriff an. 

Die Kommission war gut vorbereitet und präsentierte in schneller Folge mehrere Sanktionspakete, die von den Staaten umgehend beschlossen wurden. So wurden russische Staatsguthaben im Umfang von gut 200 Milliarden Euro eingefroren, die größten russischen Banken vom Zahlungsverkehrsdienstleister Swift ausgeschlossen und Listen mit Gütern erstellt, die nicht mehr an Russland geliefert werden durften. Die EU schloss ihren Luftraum für russische Flugzeuge und stoppte die Einfuhr russischer Erzeugnisse.

All diese Sanktionen betrafen die Regelungskompetenz der Kommission, insbesondere in Handelsfragen. In Brüssel führte das dazu, dass die Initiative nicht wie sonst üblich beim Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) lag, sondern im Kabinett der Präsidentin. Der EAD beschränkte sich darauf, Personen und Organisationen, die den Krieg ermöglichten, mit Reise-, Vermögens- und Geschäftssperren zu belegen. Dagegen wurden die sektoralen Sanktionen, Import- und Exportbeschränkungen, von der Kommission in enger Abstimmung mit den USA erarbeitet. Von der Leyens Kabinettschef Björn Seibert flog mehrmals nach Washington und arbeitete Hand in Hand mit dem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan sowie dessen Stellvertreter für Wirtschaftsfragen Daleep Singh. Auch das Ölpreisembargo, das später von den G7-Staaten verhängt wurde, entstand aus dieser Zusammenarbeit.

Es war damit auch klar, wo das Heft europäischen Handelns lag. Wie selbstverständlich kam Präsident Biden im März 2022 nach Brüssel, ohne eine andere europäische Hauptstadt zu besuchen. Er nahm sogar an einem Treffen des Europäischen Rates teil. Um die Choreografie des Besuchs wurde ziemlich gerungen. Eigentlich ging es Biden vor allem um die EU, aber aus Gründen der Gesichtswahrung besuchte er zuerst die NATO. Bei seiner Pressekonferenz dort beantwortete er dann die Frage zu China mit einem Verweis auf von der Leyen.

Für die Unterstützung der Ukraine entwickelte sich die EU-Kommission zu einem wichtigeren Akteur als die NATO. Die Allianz hatte gleich am 24. Februar entschieden, dass sie sich als Institution aus dem Krieg heraushalten wolle. Waffenlieferungen wurden über die Ukraine-Kontaktgruppe koordiniert, das sogenannte Ramstein-Format, und anfangs achtete man peinlich genau darauf, dass es keinerlei Überschneidungen mit dem Bündnis gab, das sich selbst auf nicht­letale Hilfe beschränkte.

Dagegen war die Kommission neben den Russland-Sanktionen für die humanitäre Hilfe an die Ukraine und die Bewältigung des Stroms von Kriegsflüchtlingen zuständig. Auch Waffenlieferungen wurden sofort nach Kriegsbeginn ein Thema. Mit voller Unterstützung von der Leyens schlug der Außenbeauftragte Borrell vor, die Europäische Friedensfazilität (EPF) zu nutzen, um Lieferungen der Mitgliedstaaten teilweise zu kompensieren. Dieser Sondertopf war eigentlich eingerichtet worden, um Sicherheitskräfte in afrikanischen Partnerländern nicht nur auszubilden, sondern auch auszurüsten. Der noch prall gefüllte Topf war ein wichtiger Anreiz für die ersten schnellen Lieferungen insbesondere sowjetischen Geräts aus ost­europäischen Beständen an Kiew.

Im Rückblick war die wichtigste geopolitische Entscheidung jener frühen Kriegstage aber das Angebot einer EU-Perspektive für die Ukraine. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte den Europäischen Rat am Abend des 24. Februar in einem dramatischen Appell um Unterstützung für einen EU-Beitritt gebeten. Dieser reagierte verhalten – in seinen Schlussfolgerungen erkannte er lediglich „die europäischen Bestrebungen der Ukraine und ihre Entscheidung für Europa“ an. Die östlichen Staaten wären gerne weiter gegangen, doch die westlichen waren strikt dagegen. Sie reagierten auch höchst irritiert, als von der Leyen am 28. Februar deutlich darüber hinausging: „Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns. Sie sind einer von uns, und wir wollen sie drin haben“, sagte sie. 

Dann ging alles sehr schnell, eng koordiniert zwischen Brüssel und Kiew. Am nächsten Tag schickte Selenskyj sein Beitrittsgesuch, am 10. März fügten sich die Staats- und Regierungschefs und leiteten dessen sofortige Prüfung ein. Im Juni verliehen sie dem Land den Status eines Beitrittskandidaten. Die Kommission war im gesamten Prozess die Antreiberin, vor allem die großen Staaten Deutschland und Frankreich wirkten wie Getriebene. Von der Leyen hatte den richtigen Instinkt, und sie bewies Führung.


Konkurrenz und Divergenzen

All das ging in Brüssel mit Reibereien zwischen den Institutionen einher. Insbesondere der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, wollte sich nicht damit begnügen, nur den Standpunkt der Staats- und Regierungschefs zu koordinieren und dann nach außen zu vertreten. Der ehemalige belgische Ministerpräsident suchte von Anfang an eine eigenständige Rolle auf internationalem Parkett und bei geostrategischen Fragen. Während der Pandemie warb er für ein internationales Abkommen zur Zusammenarbeit bei Gesundheitskatastrophen – ohne Unterstützung der Kommission. Und nachdem Joe Biden zum Nachfolger Donald Trumps gewählt worden war, präsentierten beide Institutionen eigene Strategiepapiere. 

Zum Eklat kam es, als Michel und von der Leyen im April 2021 den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan besuchten. Die beiden Herren ließen sich in vergoldete Stühle plumpsen, während die Kommissionspräsidentin in einiger Entfernung auf einem Sofa Platz nehmen musste. Aus Michels Umgebung hieß es zunächst, dies entspreche der protokollarischen Rangordnung. Doch musste der Ratspräsident nach einer Welle öffentlicher Empörung zurückrudern und die Sitzordnung „bedauern“. Michel ging aus dem Konflikt politisch geschwächt hervor. Zugleich war das Tischtuch zwischen den beiden Spitzenpolitikern zerschnitten. Sie gingen sich, wo immer möglich, aus dem Weg, stiegen bei internationalen Treffen in unterschiedlichen Hotels ab und gaben getrennte Pressekonferenzen. 

Während sich von der ­Leyen vorbehaltlos an die Seite Israels stellte, kritisierten Michel und Borrell 
das israelische Vorgehen im Gazastreifen

Charles Michel suchte sich ein neues Spielfeld und bemühte sich ab 2022, zwischen Armenien und Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach zu vermitteln. Mehrmals war von einem bevorstehenden Durchbruch die Rede, einem Friedensvertrag. Doch endete die Initiative im Desaster, als Aserbaidschan im September 2023 das Gebiet militärisch eroberte. Der Fall zeigte, dass der Ratspräsident – anders als die EU-Kommission – über keinerlei Machtmittel verfügt, um diplomatische Vorstöße zu untermauern. 

Das war auch bei der China-Politik so. Michel und von der Leyen nahmen sich beide des Themas an. Der Ratspräsident warb für einen kritischen, aber konstruktiven Kurs gegenüber Peking. Die Diskurshoheit eroberte jedoch die Kommissionspräsidentin mit ihrer härteren Strategie einer „Risikoverminderung“, die sie im März 2023 präsentierte. Dies geschah ebenfalls in enger Abstimmung mit Washington, das sogar die Terminologie der Kommissionspräsidentin übernahm. Im Oktober 2023 eröffnete sie eine offizielle Untersuchung zur staatlichen Subventionierung chinesischer Elektrofahrzeuge auf dem europäischen Markt – das gehört zur praktischen Umsetzung. 

In der Erweiterungspolitik unternahm Michel im August 2023 einen eigenen Vorstoß. Sowohl die EU als auch die Beitrittskandidaten sollten bis 2030 bereit sein für die nächste Erweiterungsrunde, forderte er in einer Grundsatzrede. Damit begann er eine Debatte im Europäischen Rat über innere Reformen. Allerdings gelang es ihm nicht, 2030 als Zieldatum in Schlussfolgerungen festzuschreiben. Die Mitgliedstaaten wollten die volle Kontrolle über den Prozess behalten und sich nicht selbst unter Druck setzen. Sie folgten von der Leyen, die für einen leistungsorientierten Ansatz warb, der nicht vorab mit einem Datum verknüpft werden könne. 

Zu einem weiteren Zerwürfnis zwischen Michel und von der Leyen kam es nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Die deutsche Kommissionspräsidentin stellte sich vorbehaltlos an die Seite Israels und reiste schon eine Woche später dorthin, um ihre Solidarität zu bekunden. Dagegen kritisierten Michel und Borrell die israelischen Vergeltungsschläge im Gazastreifen. Borrell machte deutlich, dass von der Leyen nicht für die EU spreche: „Die gemeinsame Außenpolitik der EU ist eine intergouvernementale Politik, keine Gemeinschaftspolitik“, sagte der Spanier. „Daher wird die offizielle Haltung der EU zu jeglicher Außenpolitik in ranghohen Entscheidungen durch Leitlinien festgesetzt, im Europäischen Rat unter Vorsitz von Michel und im Rat der Außenminister unter meinem Vorsitz.“ Das beschrieb aber nicht die politische Realität. Denn abermals lagen die wesentlichen Instrumente des Handelns bei der Kommission, die über Hilfszahlungen für die Palästinenser entscheidet und das Assoziationsabkommen mit Israel überwacht. Während von der Leyen noch vor Joe Biden in Israel eintraf, bekamen Michel und Borrell zunächst nicht einmal eine Einladung dorthin. Den Mitgliedstaaten wiederum gelang es nicht, sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen.

So zeigt auch diese jüngere Episode, wie sehr sich die Gewichte in Brüssel verschoben haben. Von der Leyen hat ihre politischen Möglichkeiten beherzt genutzt und die EU-Kommission damit tatsächlich zu einem geopolitischen Akteur gemacht, wie sie es 2019 angekündigt hatte. Die Staaten folgten entweder ihrer Führung – in der Pandemie, bei den Russland-Sanktionen und der EU-Erweiterung. Oder sie fanden keine gemeinsame Haltung, wie im Nahost-Konflikt, womit sie der Kommission faktisch das Feld überließen.      

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 72-77

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Dr. Thomas Gutschker ist politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel für die EU, die NATO und die Benelux-Staaten.

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