Wer Europas militärische Souveränität will, braucht nationale Industriepolitik
Wir müssen in Deutschland über Rüstung sprechen. Das gilt nicht erst seit dem Ausrufen der „Zeitenwende“ infolge des illegalen russischen Angriffs auf die Ukraine, sondern schon seit Jahrzehnten. Allerdings waren dazu sowohl Politik als auch Gesellschaft bis vor einem Jahr kaum bereit.
Das deutsche Modell eines ökonomischen „Powerhouse“ bei gleichzeitiger geopolitischer Ambitionslosigkeit hat nur oberflächlich betrachtet drei Jahrzehnte lang gut funktioniert. Es führte zwar zu steigendem Wohlstand, Stichwort Friedensdividende, allerdings nur, weil die kostspielige Gewährleistung von Schutz und Sicherheit ausgelagert und zuvorderst als Domäne der USA verstanden wurde. Die sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei Deutschlands wurde von unseren internationalen Partnern immer wieder kritisiert – völlig zu Recht. Hinzu kommt, dass der wirtschaftliche Erfolg offenkundig in nicht geringem Maße auf geopolitischen Abhängigkeiten beruhte, sowohl von China als auch von Russland.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat diesem Modell endgültig seine Grenzen aufgezeigt. In ihrem Buch „Future War“ (2022 auf Deutsch) haben die US-Militärexperten John R. Allen, Frederick Ben Hodges und Julian Lindley-French vorgerechnet, dass Deutschland nach 1990 mehr als 300 Milliarden Euro bei der Verteidigung gekürzt hat; andere Schätzungen reichen bis zu 600 Milliarden Euro. Dass die Bundeswehr heute blank dasteht, kann angesichts dieser Zahlen niemanden überraschen. Militärische europäische Autonomie ist das richtige Ziel. Wir wissen nicht, wie sich die US-Politik entwickeln wird – Stichwort „America First“ – und ob Washingtons Fokus mehr auf der Pazifikregion liegen wird. Solange Deutschland und Europa nicht in der Lage sind, ihre Sicherheit ohne Hilfe der USA zu gewährleisten, werden sie sich auch in ihrer globalen Gestaltung von Politik – nicht zuletzt gegenüber China – von der amerikanischen Hand führen lassen müssen.
Nationale Verteidigungsfähigkeit ausgestalten
Allerdings basiert militärische Autonomie auf konkreten Voraussetzungen. Zum einen: vorausschauende Planung und funktionierende Kooperationen, politisch wie auch industriell, sowohl zwischen den Nationalstaaten als auch mit den relevanten supranationalen Institutionen, allen voran EU und NATO. Hier hat sich zuletzt einiges getan. Europäische Großprojekte wie FCAS (Future Combat Air System), Eurodrohne oder MGCS (Main Ground Combat System) wurden auf den Weg gebracht. Was die kohärente Vernetzung mit Fördermitteln aus dem Europäischen Verteidigungsfonds betrifft, besteht gleichwohl noch Optimierungsbedarf in der Abstimmung. Zum anderen: die starke Ausgestaltung der nationalen Verteidigungsfähigkeit als Rückgrat und Grundlage des gesamteuropäischen Konstrukts. Hier können und müssen wir in Deutschland definitiv besser werden. Eine gezielte Industriepolitik muss als erster Schritt gegangen werden, wenn wir das gemeinsame Ziel europäischer Autonomie in der Verteidigung ernsthaft ins Auge fassen möchten. Andere Länder in Europa, allen voran unser Partner Frankreich, sind uns hier ein gutes Stück voraus, was übrigens ein Grund dafür ist, dass es in den großen transnationalen Projekten mitunter zu Rangeleien zwischen den Staaten und Industrien kommt. Um militärisch in Europa auf Augenhöhe mit unseren Partnern agieren zu können, was erklärtes Ziel der Politik ist, braucht es nationale Rahmenbedingungen, die wir derzeit allenfalls bedingt erfüllen.
Der 100-Milliarden-Sonderfonds für die Bundeswehr sowie die vom Kanzler angekündigte dauerhafte Anpassung des Verteidigungsetats auf 2 Prozent des BIP sind dafür wichtige Bausteine. Gleichwohl zeigt die Realität: Von den 100 Milliarden wurde kaum etwas ausgegeben, und über das 2-Prozent-Ziel wird nach dem ersten Kriegsschock wieder kontrovers diskutiert. Hinzu kommt: Was beauftragt wurde, kommt zuerst der US-Industrie zugute, Stichwort F-35. Das hilft weder einer nationalen Industrieförderung noch der europäischen Souveränität.
Dabei sind die Rahmenbedingungen vorhanden: Deutschland verfügt über eine wettbewerbsfähige Industrielandschaft. Was technologisches Know-how und Innovationsfähigkeit anbelangt, brauchen sich deutsche Unternehmen nicht zu verstecken; dasselbe gilt für die seit Jahrzehnten erfolgreich praktizierte Kooperationsbereitschaft.
Was mitunter fehlt, sind eine klare Perspektive und Planungssicherheit bei strategisch und technologisch wichtigen Vorhaben. Solange die Bundeswehr nachhaltig modernisiert werden soll, während Rüstungsunternehmen im Rahmen einer von Deutschland politisch beförderten EU-Taxonomie als „schädlich“ eingestuft werden – auf einer Stufe mit Tabak, Glücksspiel und Pornografie – und somit um ihre wettbewerbsgerechte Finanzierung bangen müssen, ähneln die verteidigungspolitischen Ambitionen der Bundesregierung einer Quadratur des Kreises.
Dabei verfügen wir mit FCAS über ein Programm, das, im europäischen Kontext angesiedelt, auch national geeignet ist, als Katalysator für eine starke und zielführende Industriepolitik zu fungieren.
Denn anders als medial häufig dargestellt, ist die Realisierung eines FCAS kein reines Zukunftsprojekt, sondern im Hier und Heute angesiedelt; darauf ausgerichtet, im Rahmen einer umfassenden und kohärenten nationalen Flottenstrategie die Vernetzung einzelner Komponenten und damit die Fähigkeit zum kollaborativen Luftkampf sicherzustellen. Dafür bedarf es konkreter Schritte, allen voran der zeitnahen vertraglichen Fixierung der fünften Tranche Eurofighter und der zügigen Entwicklung eines „Loyal Wingman“, Stichwort Manned-Unmanned-Teaming, um den technologischen Anschluss international nicht zu verlieren – und in einigen Jahren erneut in die Situation zu kommen, in Ermangelung eigener Systeme auf amerikanische Kauflösungen zurückgreifen zu müssen. Das wäre das exakte Gegenteil einer avisierten europäischen Souveränität.
Dazu kommt, dass in der Beschaffung befindliche US- Systeme und allen voran die F-35 eng in eine industriepolitische Planung eingebunden werden müssen, was gegenüber den amerikanischen Partnern politisch mit großer Klarheit vertreten werden muss. Das heißt auch, dass deutsche Unternehmen die Verantwortung für die Wartung der F-35 übernehmen und obendrein deren Vernetzung mit dem Eurofighter – nicht zuletzt auch im Rahmen eines FCAS – am Standort Deutschland entwickelt und implementiert werden muss.
Eine klare und selbstbewusste nationale Industriepolitik in der Verteidigung ist kein Makel. Im Gegenteil, sie wird von unseren europäischen und transatlantischen Partnern seit jeher erfolgreich praktiziert. Wichtig ist, dass sie im Einklang mit gemeinsamen europäischen Zielsetzungen und Erfordernissen erfolgt, wofür Programme wie FCAS oder Eurodrohne den Rahmen liefern. Dass das kein Selbstläufer ist, ist klar: Aktuell beobachten wir in Europa infolge von Pandemie und Ukraine-Krieg eher wieder einen Trend zur Renationalisierung; auch der deutsch-französische Motor läuft alles andere als reibungslos.
Daher braucht es eine umfassende europäische Kooperationskultur mit klaren nationalen Akzentsetzungen: eine strategisch ausgerichtete nationale Industrie- und Technologiepolitik für die europäische Verteidigungsindustrie, die Resilienz ermöglicht und dem Industriestandort Deutschland insgesamt zugutekommt.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 110-111
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