Buchkritik

26. Febr. 2024

Wer die Mitte zerstört, zerstört das System

Wirtschaftsmisere, Vertrauensverlust, Polarisierung: Ein Ökonom erklärt die Krise des demokratischen Kapitalismus.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Fast jeder, der liest, wünscht sich manchmal insgeheim, eines Tages auf das eine Buch zu stoßen, das stellvertretend für die Schwemme an Klassikern, Vergessenem und Neuerscheinungen den Weg zum Kern der Sache weist. Das eine Schneise des Verstehens schlägt in die überkomplexe Fülle an Schall und Rauch und Rauschen, die uns täglich überwältigt. Das Buch, das das Grundsätzliche neben das Tagesgeschehen stellt und dem Ratlosen so ein paar Instrumente an die Hand gibt, um sich in seiner Zeit zu verstehen. 

Martin Wolf mag sich vorgenommen haben, dieses eine Buch zu schreiben, als er an „The Crisis of Democratic Capitalism“ arbeitete, und in weiten Teilen ist ihm das auch gelungen. Ein paar Bausteine fehlen dazu am Ende, aber dafür ist der Rest eine so exzellente Mischung, dass man nicht so leicht eine andere Monografie finden wird, die mit vergleichbar hohem Anspruch auseinandernimmt, was uns allen in diesen Tagen so entsetzlich schlechte Laune bereitet.
 

Winter des Missvergnügens

Wie soll man sie eigentlich beschreiben, diese atmosphärische Störung des Winters 2024, diesen Winter of our Discontent, in dem die Regierung kaum mehr einen Haushalt hinbekommt, absolute Mehrheiten für die AfD keine Science Fiction mehr sind, der allgemeine Ton sich ins Unzivilisierte verschiebt, Bauern erfolgreich den Finanzminister erpressen, Donald Trump zum nächsten großen Streich ausholt und Deutschland sich in einer Abstiegsdebatte aalt, halb sehnsüchtig, halb entsetzt? 

Es ist die Krise des demokratischen Kapitalismus, würde Martin Wolf sagen, die Sorge darum, dass ein einzigartiges Experiment irreparablen Schaden nimmt: die liberale Demokratie westlicher Prägung, die vor nur einer Generation unanfechtbar in ihrer Zukunftsverheißung war und nun an selbstverursachter Erkrankung eingehen könnte. 

Wolf ist Pessimist; für ihn sieht das alles nicht gut aus, was dem Westen da droht. Am Ende des Buches unkt er, dass die USA, das Kernland des westlichen Experiments, am Ende dieses Jahrzehnts keine Demokratie sein könnten. Aber Wolf ist nicht nur Pessimist, er ist auch praktisch veranlagt. Er glaubt fest an die Reformierbarkeit des Systems, das Wohlstand und Freiheit bringt, und das Rezept legt er gleich mit dazu. 
 

Kein Abgesang

Für Deutsche klingt das, was Wolf vorschlägt, seltsam vertraut: Im Grunde schreibt hier der wichtigste angelsächsische Wirtschaftsjournalist, die ökonomische Edelfeder der rosafarbenen Financial Times, ein großes, rundes Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft. Nur dass er das so nicht nennt. Er nennt es „democratic capitalism“, und das hat einen wichtigen Grund. 

Anders als andere progressive, also eher links eingestellte Ökonomen, verfasst Wolf keinen Abgesang auf das Gesamtsystem. Für ihn ist das Zusammenwirken von Demokratie und freiem Markt nicht nur eine glückliche Fügung, sondern eine Grundvoraussetzung liberaler Ordnung. Ohne Demokratie kein Kapitalismus und ohne Kapitalismus keine Demokratie. 

Für viele Deutsche, die zwar in ihrem Musterbeispiel demokratischen Kapitalismus gut und gern leben, aber trotzdem wohlig ihre salonrevolutionären Ressentiments gegen Markt und Wettbewerb pflegen, dürfte das schon fast eine Provokation sein. Aber, so Wolf, politische Selbstbestimmung und Kapitalismus beruhen auf derselben Grundvoraussetzung, der individuellen Freiheit. Gleichberechtigte Individuen entscheiden selbst, von wem sie regiert werden, und mit wem sie Geschäfte machen wollen. 

Nimmt man in dieser Symbiose den Menschen das eine, geht über kurz oder lang auch das andere verloren. Wo der Staat, wie im Sozialismus, die Produktionsmittel besitzt, kann er den Menschen auch die politische Freiheit nicht zubilligen, sondern wird zur Diktatur. Das gilt auch andersherum: Dort, wo die wirtschaftlich Mächtigen sich den Staat aneignen, kann auch die freie Wirtschaft nicht lange bestehen, es entstehen Oligarchie und Plutokratie. 

Wolf bezieht klar Stellung: Auch China wird wohl das eine (wohlstandschaffende Marktwirtschaft) dauerhaft nicht ohne das andere (politische Freiheit) haben können. Denen, die meinen, das Gegenteil sei längst bewiesen, schreibt er auf: China ist noch nicht sehr lange wohlhabend, es braucht Zeit. Eine schöne Abfuhr für all jene, die das chinesische System schon für den ausgemachten Sieger im globalen Wettbewerb halten.
 

Flucht in die Identität

Noch wichtiger ist aber eine andere Ableitung Wolfs aus seiner Symbiose-These: Die Balance zwischen Markt und Politik ist fragil, zu viel ungezügelter Markt zerstört die Freiheit, zu viel staatliche Regulierung ruiniert die Wirtschaft. Und das, was uns in diesem Winter so viel schlechte Laune macht, ist letztlich ein ökonomisches Ungleichgewicht, das in den vergangenen 50 Jahren entstanden ist und das erstmals ein solches Ausmaß angenommen hat, dass es auch destruktiv auf die Politik durchschlägt. 

Wolf behauptet – und legt mit Dutzenden Statistiken dar –, dass eine Periode ökonomischen Versagens das Vertrauen der Bürger in die politischen und wirtschaftlichen Eliten erschüttert hat. Und dass dieser Vertrauensverlust dazu führt, dass ohnehin immer vorhandene negative gesellschaftliche Phänomene wie Rassismus, Kulturkampf und die Ablehnung von Fremden und Migranten zu den bestimmenden Themen der politischen Auseinandersetzung werden. 

In einer von Misstrauen geprägten Gesellschaft erhoffen sich die Menschen von der Flucht in identitätsstiftende Haltungen dann die Sicherheit, die anders nicht mehr zu finden ist. Das funktioniert von linker Identitätspolitik bis hin zu rechtem Nationalismus im gesamten politischen Spektrum. 
 

Falsche Propheten

Den Beginn dieser sozialen Zerfallskette, also das wirtschaftliche Versagen, illustriert Wolf nicht nur durch die größer gewordene ökonomische Ungleichheit in fast allen westlichen Volkswirtschaften, sondern vor allem mit dem „middle class squeeze“, der überproportionalen ökonomischen Belastung der mittleren Einkommensschichten. 

Das ist kein neues Argument, markiert aber für Wolf das zentrale Versäumnis: Wer die Mitte der Gesellschaft durch Kaufkraftentzug unter Druck setzt und diese Schicht systematisch verkleinert, der zerstört auch die Politik der Mitte, die in dieser Schicht hauptsächlich beheimatet ist. Und er züchtet den Vertrauensverlust und die Ressentiments, die dann als populistische Politik der einfachen Wahrheiten, harten Ausgrenzungen und unhaltbaren Versprechungen aufblüht. 

Wolf arbeitet sich in seinem Buch in vielen Einzelheiten und auch im großen Ganzen an Donald Trump ab, dem Mann, der das System nicht krank gemacht hat, der dessen Krankheit aber wie kein anderer verkörpert. Wolf zeigt, wie große Finanzkrisen regelmäßig zum Aufstieg von Populisten geführt haben und gibt der Krise von 2007–2009 eine zentrale Mitschuld an der Erschütterung des Vertrauens und am Aufstieg falscher Propheten, die versprechen, über Nacht Erlösung zu bringen und am Ende doch nur die Freiheit zerstören. 
 

Merkwürdig schmallippig

Wolf stellt sich also mit seiner Herleitung der Krise ganz klar auf die Seite derjenigen, die ihren Ursprung für eindeutig ökonomischer Natur halten. Kulturelle Faktoren, die oft ebenfalls mit dem Aufstieg populistischer Politik in Verbindung gebracht werden, hält er für eine Folge, nicht für eine Ursache der Malaise. An dieser Stelle wird das Buch, das bis dahin so viele grundsätzliche Zusammenhänge und epochenunabhängige Gesetzmäßigkeiten aufzeigt, merkwürdig schmallippig. Zwar geht Wolf auf einige Gegenargumente ein, bleibt aber letztlich bei seiner monokausalen Erklärung: It’s the economy, stupid. 

Das ist zu wenig. Zu offensichtlich sind die Beispiele früherer ökonomischer Verwerfungen, die nicht annähernd vergleichbare populistische Erdbeben ausgelöst haben, wie es die Krisen seit 2007 getan haben. Auch ist die Ungleichheit in westlichen Industriegesellschaften seit den frühen 2000er Jahren nicht mehr nennenswert gestiegen. Es kann also nicht alles nur verfehlte Wirtschaftspolitik und die „Finanzifizierung der Volkswirtschaft“ gewesen sein.

Andere Faktoren haben eine Rolle gespielt; sie werden von Wolf aber als deutlich nachrangig eingestuft oder gar nicht erst erwähnt: die Aushöhlung der Schulen und Universitäten, eine ungesteuerte Migration, die sich selbst moderater Lenkung und Begrenzung entzieht, der Verfall öffentlicher Infrastruktur, die Unreformierbarkeit von Gesundheits-, Steuer- und Rentensystemen, und, für den speziellen Fall der Vereinigten Staaten, eine völlig fehlgeleitete Parteien- und Wahlkampffinanzierung, die die Ränder des politischen Spektrums stärkt und sich so wie eine Art Gratissubventionierung der politischen Polarisierung au­s­nimmt.

 

Schmerzhafter blinder Fleck

Martin Wolf hat seinem Buch das Motto des Orakels von Delphi vorangestellt: Mēdén ágan– nichts im Exzess. Für den ökonomischen Teil der Misere, den er in seinem Buch seziert, ist das die passende Hauptlehre, die zu ziehen ist. Dass ein linksliberaler Ökonom für Deregulierung wenig übrig hat, für klassischen Keynesianismus dafür umso mehr, ist nicht verwunderlich. Dass hier aber ein linksliberaler Ökonom den Exzess anklagt, der felsenfest auf den kapitalistischen, marktwirtschaftlichen und individuell-freiheitlichen Grundlagen unseres Wirtschaftssystems steht, gibt der Kritik Tiefe und Glaubwürdigkeit.

 Dass in seinem flammenden Plädoyer für eine dauerhaft klug austarierte Balance von Politik und Wirtschaft die politische Analyse der Gründe für die gegenwärtige Malaise zu kurz kommt, ist ein schmerzhafter blinder Fleck; der aber er macht das Buch, vor allem seine ersten Teile, dennoch nicht weniger wichtig und lesbar. 

 

Martin Wolf: The Crisis of Democratic Capitalism. New York: Allen Lane 2023. 474 Seiten, 30,96 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 124-126

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Jan Techau ist Director Europe bei der Eurasia Group in Berlin und Senior Fellow des Center for European Policy Analysis in Washington, D.C. 

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