Buchkritik

01. Sep 2010

Wenn Du den Frieden willst, 
verstehe den Krieg

Buchkritik

„Den Krieg denken“ will die führende deutsche Strategieexpertin Beatrice Heuser in ihrem neuesten Werk. Mit Lust und Leichtigkeit schildert sie die Entwicklung des Strategiebegriffs von der Antike bis heute, wischt die modische Aufblähung dieses Begriffs kühl beiseite und stürzt ganz nebenbei den deutschen Säulenheiligen Clausewitz vom Sockel.

Die Zeiten ändern sich: Eine deutsche Militärhistorikerin, bekannt geworden durch ihre Expertise zum Werk Clausewitz’ und Lehrstuhlinhaberin in England, verfasst ein Opus Magnum zum Thema Strategie, gibt ihm den unverblümten Titel „Den Krieg denken“ und definiert den Gegenstand ihrer Untersuchung dann so: „Strategie ist Einsatz jeglicher verfügbarer Mittel, vor allem des Mittels der Streitkräfte, zu politischen Zwecken, mit dem Ziel, dem Gegner die eigene Politik und den eigenen Willen aufzuzwingen bzw. seinem Willen zu widerstehen.“

Die modische Aufblähung des Strategiebegriffs, vornehmlich durch Berater und Betriebswirte, wird kühl beiseite gewischt, und der historische Bezugsrahmen bewusst von der Antike bis ins Jetzt geweitet und nicht auf bestsellerfähige Dunkelperioden der Geschichte verengt („Hitlers Strategen“). Und dann wird auch noch eine klare, bisweilen elegante Erzählsprache gewählt, die dem schwergewichtigen Thema Leichtigkeit verleiht und zu verstehen gibt, dass die Autorin an ihrem Sujet Freude hatte. Ein Buch also, dass noch vor wenigen Jahren als Provokation aufgefasst worden wäre, nun aber ein schönes Beispiel ist für den sich ändernden Diskurs in Deutschland, und vielleicht sogar für das sich wandelnde Selbstverständnis eines Landes, das lange glaubte, es könne der Konfrontation mit der Realität durch Ausblenden entfliehen.

Mindestens im deutschsprachigen Raum füllt Beatrice Heuser mit ihrer Studie eine Marktlücke, und auch in der angelsächsischen Welt stoßen ihre Bücher auf ein großes Echo. Längst gilt sie als führende deutsche Kriegshistorikerin und Strategieexpertin. Dass sie nach einer Leitungsfunktion im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr nicht im Lande blieb, sondern dem Ruf an die Universität in Reading folgte, zeigt, wie unterentwickelt der Markt für hochwertige Forschung und Lehre zu diesen Themen in Deutschland noch ist. Nun aber halten Studenten, Praktiker, Forscher und Interessierte ein umfangreiches und quellensattes Werk in der Hand, das nicht nur Grundlagen in einem fremd gewordenen Feld vermittelt, sondern Lust auf mehr macht.

Heuser legt in sechs Kapiteln dar, wie sich das Denken über die Kriegsführung seit der Antike bis in die jüngste Zeit entwickelt hat. Ihr Blick ist weit. Er reicht von der Entstehung und der Renaissance des Strategiebegriffs in Antike und Mittelalter, seiner oft unklaren Abgrenzung von der Taktik, seiner Anbindung an das Politische zu Clausewitz’ Zeiten über die Veränderungen des Konzepts vom „Sieg“ und das Aufkommen des „Friedens“ als eigenständige strategische Kategorie nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nuklearstrategie und dem Ende der Ära des „großen Krieges“, welches neuerliche Strategieinnovationen erforderlich macht. Dass sie bei aller Detailliebe ihren roten Faden nicht verliert und Seitenpfade immer wieder zum großen Ganzen zurückführt, zeigt, wie souverän sie ihr Material beherrscht.

Revolution im strategischen Denken

Heuser definiert zwei große Wendepunkte im Strategieverständnis seit den ersten strategischen Schriften des Römers Vegez im späten vierten Jahrhundert. Nach fast eineinhalb Jahrtausenden relativer Kontinuität sind es Clausewitz und seine Zeitgenossen, die, aufbauend auf den traumatischen Erfahrungen der napoleonischen Eroberungen in Europa, die Politik in das vormals rein militärische Strategiedenken bringen. Das ist eine Revolution: Der Feldherr operiert nicht mehr getrennt von politischen Vorgaben, sondern sein Handeln muss stets an ein politisches Ziel gekoppelt sein und diesem dienen. Nichts anderes meint das oft missverstandene Diktum Clausewitz’ vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Wie schwer es diese neue Erkenntnis hatte, zeigt sich noch Jahrzehnte später an der Kriegsführung Moltkes in den Einigungskriegen und vor allem am Denken und Handeln Ludendorffs während und nach dem Ersten Weltkrieg, die sich mit dem Verlust militärischer Autonomie nie abfinden konnten und sie oft genug zu ignorieren suchten – mit erheblichen negativen Folgen. Clausewitz prägte aber auch mit einer weiteren Maxime langfristig und folgenreich das militärische Denken, nämlich mit der Aussage, dem Gegner sei der eigene Wille aufzuzwingen, und dass er zu diesem Zwecke zu „vernichten“ (also zum geordneten Handeln unfähig zu machen) sei.

Die zweite große Wende tritt 100 Jahre nach Clausewitz mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein und wird durch den Zweiten Weltkrieg noch einmal verschärft: Wenn der Sieg den Keim für den nächsten Krieg bereits in sich trägt, dann wird neben dem effektiven Kriegführen auch das nachhaltige Friedenmachen zur strategischen Kategorie. Zeitgleich wird der Krieg von einem normalen Phänomen des Lebens zur großen Abweichung umgedeutet: Krieg wird geächtet, verboten und zum moralisch größtmöglichen Verstoß. Heuser macht zu Recht deutlich, dass dies einen sehr begrüßenswerten Fortschritt darstellt, die Realität aber nicht mit einem innigen Wunsch verwechselt werden darf.

Neben den großen Linien der Strategieentwicklung bietet Heuser in ihrem Buch zahlreiche Separatuntersuchungen zu Schlüsselthemen an, die zum hohen Wert der Lektüre erheblich beitragen. So widmet sie sich u.a. dem Konzept des totalen Krieges, der Frage, ob es ewig gültige Gesetzmäßigkeiten der Kriegsführung gibt (hier hätte man sich neben der instruktiven Darstellung ein deutlicheres eigenes Urteil der Autorin gewünscht), der strategischen Rivalität von Land-, See- und Luftstrategien (und wie sich aus Letzterer die Nuklearstrategie entwickelte), klassischen Kriegsgründen, alten und neuen Kriegsarten und nicht zuletzt auch der alten Frage nach der geeigneten Wehrform (Wehrpflicht, Söldnerheer, Berufssoldaten?). Heuser verweist auf die alte Erkenntnis, dass Expeditionseinsätze mit Wehrpflichtigen kaum machbar sind. So wird ihre nüchterne historische Analyse durchaus auch zur Handreichung in der aktuellen deutschen Tagespolitik.

Die wichtigste wertende Aussage spart sich die Autorin aber bis zum Schluss auf. Denn in dem fünfseitigen Epilog, mit dem sie die Studie beschließt, stürzt sie den deutschen Säulenheiligen Clausewitz vom Sockel und stellt seine noch immer dominante Stellung im strategischen Denken (und der strategischen Ausbildung in aller Welt) deutlich in Frage. Nicht nur sei das Clausewitzsche Denken vom Aufzwingen des Willens, vom Vernichten des Gegners und vom wie selbstverständlich definierbaren Sieg in Zeiten kleiner, begrenzter und vor der Weltöffentlichkeit ausgetragener Zuschauerkriege veraltet, es führe auch zu erheblichem militärischen und politischen Schaden. Gegner in Kriegen müssten heute überzeugt statt vernichtet werden, ein klarer militärischer Sieg sei oft nur der Anfang der eigentlichen Aufbauarbeit, deren Fortschritt dann über den wahren, weil politisch nachhaltigen Erfolg entscheide. Und militärische Erfolge seien spätestens seit Vietnam nur noch so viel wert wie ihre öffentliche Wahrnehmung. Für all diese Fragen biete Clausewitz kaum brauchbare Antworten.

Dass sie sich zum Zeugen für diese Argumente keine modernen Strategen des 21. Jahrhunderts wählt, sondern einen Zeitgenossen Clausewitz’, den stets in dessen Schatten stehenden August Rühle von Lilienstern, der in seinem 1817 erschienenen „Handbuch für Offiziere“ oft hellsichtiger argumentierte als Clausewitz, macht diesen Bildersturm umso glaubwürdiger. Nicht alle Kollegen werden ihr das verzeihen, aber es bringt einen wichtigen, auch für Laien interessanten Impuls in die Strategiedebatte, die diese Impulse so dringend nötig hat. Und auch wenn es angesichts der hohen Güte des Werkes kleinlich klingt: Der Band wäre für diese Debatte ein noch nützlicheres Hilfsmittel, hätte der Verlag nicht aus vollkommen unerklärlichen Gründen auf ein Sachregister verzichtet, das der stoffreiche Text dringend nötig gehabt hätte.

Beatrice Heuser: Den Krieg denken – Die Entwicklung der Strategie seit der Antike Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2010, 523 Seiten, 39,90 €

JAN TECHAU ist Research Advisor am NATO Defense College in Rom.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 128 - 130.

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