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01. Nov. 2021

Weltpolitik statt Eskapismus

Von geostrategischen Realitäten und der Marginalisierung Europas: Das trilaterale Sicherheitsbündnis AUKUS hält nicht nur für den Indo-Pazifik harte Lektionen bereit.

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Bild: Ein atomwaffenfähiges US-Uboot im Pazifik
Australien kommt im Indo-Pazifik eine Schlüsselrolle zu, die zukünftig auch auf nuklear angetriebenen U-Booten amerikanischer Bauart basieren wird.
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Ein neues Akronym drängte sich Mitte September in die Schlagzeilen: „AUKUS“ (Australien + UK + US). US-­Präsident Joe Biden sowie die Premierminister Scott Morrison und Boris Johnson überraschten mit der Ankündigung, dass ihre trilaterale Sicherheitspartnerschaft fortan zu Frieden und Stabilität im Indo-­Pazifik beitragen werde.

Eine erste konkrete Maßnahme sei die Unterstützung Aus­traliens bem Aufbau einer U-Boot-Flotte mit Nuklearantrieb. Diese Ankündigung bedeutete für Frankreich die Stornierung seiner 2016 begonnenen Kooperation mit Australien im U-Boot-Bau, eines langfristig angelegten Projekts mit einem geschätzten Volumen von 50 bis 60 Milliarden Euro, und zugleich einen herben Dämpfer für seine eigenständigen geopolitischen Ambitionen im Indo-Pazifik.Die so ausgelöste, teils sehr bittere Kontroverse zwischen Verbündeten verdeckte vier zentrale Fragen, die dieser Beitrag im Folgenden behandelt.



Erstens: Worum geht es im Indo-­Pazifik? Kurzfassung – um den Weltfrieden im 21. Jahrhundert. Dazu Richard Haass, der Präsident des Council on Foreign Relations: „So wie Europa im 20. Jahrhundert der wichtigste Schauplatz der internationalen Politik war, wird in Asien ein Großteil der Geschichte dieses Jahrhunderts geschrieben werden. Wenn die Region friedlich bleibt und das globale Wirtschaftswachstum ankurbelt, wenn die Konfrontation minimiert und die Zusammenarbeit verstärkt wird, können wir ein Jahrhundert erwarten, das überwiegend wohlhabend und friedlich sein wird. Wenn der Indo-Pazifik jedoch von Konflikten zwischen Großmächten geprägt ist, wird dieses Jahrhundert eine andere und weitaus dunklere Zukunft haben.“



Für alle Akteure in der Region ist es selbstverständlich, dass die vom Wiederaufstieg Chinas ausgelöste geopolitische Dynamik in hohem Maße von der Wirkmacht militärischer Potenziale bestimmt wird. Dabei kann man unterstellen, dass es den Hauptbeteiligten nicht um Kriegsvorbereitungen geht, sondern um die Nutzung der Existenz ihrer Militärmacht für politische Zwecke – ob als Ordnungs- und Stabilisierungsinstrument oder als Druckmittel zur allmählichen Wandlung des territorialen Status quo.



Die machtpolitische Absicherung des pazifischen Raumes seit 1945 ist eine Pax Americana, unterfüttert durch die 7. Flotte, militärische Stützpunkte und ein Geflecht von Allianzen, unter deren Schirm fast alle Anrainerstaaten einschließlich Chinas aufblühten und ohne die keine Globalisierung mit ihren nur scheinbar selbstverständlichen maritimen Lieferketten möglich gewesen wäre. Diese Pax Americana zielte immer auf die Bewahrung eines Status-quo-basierten Friedens.



China hingegen folgt in seinem Bestreben, lange eingefrorene territoriale Konfliktlagen auch mit Demonstrationen der Stärke aufzuweichen und in seinem Sinne neu zu ordnen, einer revisionistischen ­Logik. Sollte Peking der Versuchung erliegen, die Willfährigkeit der umliegenden Staatenwelt erzwingen zu wollen, etwa mit Blick auf die Zukunft Taiwans, so wäre der Frieden gefährdet.



Die Formierung von AUKUS unterstreicht, dass die Bewahrung der Pax Americana im pazifischen Raum und die Einhegung Chinas die außenpolitische Priorität der Biden-Regierung ist, sichtbar auch in der energischen Vitalisierung des pazifischen Quad, des „Quadrilateral Security Dialogue“ von USA, Indien, Japan und Australien. Derweil bleibt die Lage auf dem wichtigen Feld der Normsetzung für Handel und Investitionen noch undurchsichtig. Präsident Barack Obamas Projekt der „Trans-Pacific Partnership“ (TPP), aufgekündigt von Donald Trump, wurde von Australien und Japan als CPTPP in die Zukunft gerettet. Die Biden-Regierung hat bislang jedoch nichts unternommen, um in dieses Erbe einzutreten. Hingegen überraschte China am Tag nach der ­AUKUS-Verkündung mit einem Beitrittsantrag für die CPTPP. In der New York Times kommentierte Thomas Friedman dies unter der Überschrift „Chinas Führer haben ihren Spaß mit uns. Wer kann es ihnen verdenken?“



Zweitens: Woher rührt ­Australiens Schlüsselrolle im indo-pazifischen Machtpoker? Die Kurzantwort lautet: durch seine geostrategische Lage, aber auch durch beachtliche Substanz. Die Bevölkerung hat sich in den vergangenen 40 Jahren auf über 25 Millionen Einwohner verdoppelt und wird bis 2060 wohl auf 40 Millionen ansteigen. In den letzten 15 Jahren fanden jährlich über 200 000 Menschen in Australien eine neue Heimat. Es ist nominal die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt, mit knapp 40 Prozent des Volumens der deutschen Wirtschaft. Das Land könnte ein Hauptspieler auf dem künftigen Weltmarkt für kohlenstofffreie Energie werden. Solarenergie und Wind könnten praktisch unbegrenzt zur Verfügung stehen. Forschung und Entwicklung für Umwandlung in handelsfähige Energieträger (insbesondere Wasserstoff)  laufen auf Hochtouren.



Die USA sind seit 1945 unverzichtbarer Sicherheitsgarant Australiens, China stieg zum unverzichtbaren Wirtschaftspartner auf. Für Canberra wurde es zum Mantra, beide Partnerschaften gleichzeitig zu pflegen, ohne sich zwischen den USA und ­China entscheiden zu müssen.



Für China ist Australien nicht nur einer der wichtigsten Rohstofflieferanten, sondern geopolitisch ein entscheidender Faktor, sollte es Peking um Dominanz im Indo-Pazifik gehen. Es versuchte auf vielfältige Weise, Australien mehr und mehr in seinen Orbit zu ziehen: werbend, belehrend, offen und subversiv, als Investor, als zahlungskräftiger Kunde, als zürnender Kunde und schließlich als strenger Herrscher. Als Canberra es Anfang 2020 wagte, eine gründliche internationale Untersuchung der Herkunft des Covid-19-Erregers zu befürworten, wurde es von Peking mittels Handelssanktionen massiv abgestraft. In dieser Situation erwies sich Australiens künftige U-Boot-Flotte für Washington als Hebel, Canberra im indo-pazifischen Machtspiel noch stärker an sich zu binden.



Die U-Boote standen in Canberra seit 2009 weit oben auf der politischen Agenda. Es geht um das militärische Hauptelement der ambitionierten Sicherheitspolitik Australiens im Indo-Pazifik. Dabei handelte es sich für Australien nie lediglich um den Erwerb eines Rüstungsprodukts, sondern um die Etablierung einer auf Jahrzehnte angelegten Partnerschaft. Canberra hatte 2016 die Wahl zwischen Kandidaten aus Japan, Deutschland und Frankreich. Man entschied sich für das französische Angebot. Der damaligen australischen Regierung unter Malcolm Turnbull kam es nicht ungelegen, mit der Wahl eines europäischen Partners strategische Unabhängigkeit zu zeigen und China nicht durch eine Bindung an Japan zu reizen.



Vorteile nuklearer Antriebe

Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass bereits 2016 die damals noch vage längerfristige Option eines künftigen Nuklearantriebs bei der Entscheidung den Ausschlag gab. Es war und ist unter Experten kaum umstritten, dass angesichts der riesigen Operationsräume im Indo-­Pazifik ein Nuklearantrieb wesentliche Vorteile bietet. Warum wurde dann die nukleare Antriebsoption nicht mit Frankreich weiterverfolgt? Premier Turnbull erläuterte jüngst, dass seine Regierung noch 2018 davon ausgehen musste, dass nuklear angetriebene U-Boote den Aufbau einer Infrastruktur ziviler Nuklearindustrie im Lande voraussetzen. Das Brennmaterial der Antriebsreaktoren Frankreichs sei niedrig angereichertes Uran, das regelmäßig ausgetauscht werden müsse, was ohne eigene australische Nukleareinrichtungen nur in Frankreich möglich gewesen wäre.



Heute höre er aus der Regierung, dass die modernsten amerikanischen und britischen Antriebsreaktoren eine andere Lösung böten: Ihre auf hoch angereichertem Uran beruhende Technologie erlaube den Einbau quasi versiegelter, für 35 Jahre ­wartungsfreier Reaktoren. Er bezweifele aber die Verlässlichkeit solcher Annahmen. Für die Regierung klang das neue amerikanisch-britische Angebot offenbar unwiderstehlich, zumal sich die hohen Erwartungen an das Projekt mit Frankreich nicht alle erfüllt hatten und die Probleme zunahmen. So fielen in Canberra das notleidende U-Boot-Projekt und der Wunsch nach stärkerer politischer Rückversicherung gegen die wachsende Bedrängnis aus Peking derart zusammen, dass sich ­AUKUS als Antwort geradezu aufdrängte.



Hat sich Australien damit zwischen den Vereinigten Staaten und China entscheiden müssen? Es sieht danach aus, auch wenn man noch keinen Anlass sieht, die bewährte Doppelstrategie und Balance von unterschiedlichen Hauptpartnern in Wirtschaft und Sicherheit jetzt von Grund auf infrage zu stellen. Die ehemaligen Premierminister Paul Keating und Kevin Rudd hingegen warnten bereits, die neue Konstellation bedeute für Australien einen Verlust an Souveränität und erhöhe das Risiko der Verwicklung in einen Konflikt mit China.



Auch die rüstungspolitische Seite der AUKUS-Entscheidung wird kritisiert. Statt 2032 werde Australien jetzt bestenfalls 2040 das erste Schiff der neuen Flotte in Dienst stellen können; selbst ein völliges Scheitern aller Pläne sei nicht auszuschließen. In einigen Jahren könne sich Australien gezwungen sehen, zur Überbrückung kurzfristig eine Zwischenlösung mit existierenden kleineren und konventionell ­betriebenen Modellen zu suchen.



Drittens: Weshalb blieb Europa bei der Formation von AUKUS außen vor? Als einziger europäischer Spieler scheint in der AUKUS-Welt „Global Britain“ noch eine Rolle zu spielen. Es bleibt abzuwarten, wie es diese Rolle ausfüllen kann. Hingegen behandelten Washington und Canberra Frankreich und die Europäische Union faktisch als irrelevant, weil sie beim ungenannten eigentlichen Gegenstand von AUKUS – der harten machtpolitischen Auseinandersetzung mit China im Indo-Pazifik – nicht als Mitspieler gesehen werden. Diese Sicht wird verstärkt durch die Annahme, dass Europas China-Politik von wirtschaftlichen Interessen dominiert wird. Der Abschluss der Verhandlungen über ein Investitionsabkommen unter deutschem EU-Vorsitz Ende 2020, ohne vorher Vertreter der vor der Amtsübernahme stehenden Biden-Administration zu konsultieren, war für letztere ein Zeichen dafür, dass in der EU ein ernsthafter Wille für die Abstimmung ihrer China-Politik mit den USA fehlte.



Tatsächlich ist das Gesamtbild der europäischen China-Politik und der EU-Positionierung im Indo-Pazifik schon seit Jahren differenzierter. Heute liegt das Investitionsabkommen mit China auf Eis, die europäischen Strategiepapiere zum Indo-Pazifik, gerade auch die Leitlinien der Bundesregierung, reflektieren eine nüchterne Einschätzung der Lage und der chinesischen Politik. Unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung verfolgt die deutsche Außenpolitik beharrlich die vielfältige Agenda der Leitlinien. Elemente der im Indo-Pazifik verbreiteten Sprache der Machtpolitik sind dabei erwartungsgemäß nicht enthalten, wohl aber die Festlegung auf symbolische ­Maßnahmen maritimer Präsenz wie die Fahrt der Fregatte „Bayern“.



Viertens: Was kann die EU gegen ihre Marginalisierung tun? An der weitestgehenden machtpolitischen Abwesenheit Europas im Indo-Pazifik, die in der ­AUKUS-Episode schmerzhafte Wirkungen zeitigte, wird sich wenig ändern. Es steht dort jedoch zu viel auf dem Spiel, als dass man sich mit dem Verlust wirklichen Einflusses abfinden sollte.



Letztlich geht es darum, die komplementären Verantwortlichkeiten der freiheitlichen Demokratien weltweit so auszutarieren, dass Europas Stimme auch dort relevant wird, wo es sich machtpolitisch auf eher symbolische Präsenzakte beschränkt. Eine Verständigung über einige Grundlinien arbeitsteiligen Engagements der freiheitlichen Demokratien erscheint überfällig. Nur ein machtpolitisch erwachsenes Europa, das den USA auf dem eigenen Kontinent, in Afrika und Nahost ordnungspolitische Lasten abnimmt, wird auch bei der zentralen Aufgabe der Bewahrung von Stabilität und Frieden im Indo-Pazifik Gehör finden.



Die AUKUS-Episode bietet Hinweise für den Einstieg. Der im September zu hörende Ruf nach Solidarität mit Frankreich im Sinne der Formation eines europäischen Beschwerde-Chors gehört nicht dazu. Eher sollte man sich ein Beispiel nehmen am Geschick der französischen Diplomatie. Sie extrahierte in Washington einen von Biden indossierten Wegweiser für die ­Zukunft, nachzulesen in der gemeinsamen Erklärung der Präsidenten Biden und Macron vom 22. September. Dann wären „nur“ noch Schlüsselworte wie „die Bedeutung einer stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung“ mit Taten und Budgets so zu unterfüttern, dass Europas Stimme auch in der globalen Sicherheitspolitik wieder Gewicht gewinnt und „weltpolitikfähig“ wird.



Der deutsche Eskapismus

Deutschland käme dabei eine Schlüsselrolle zu. Wenn hier die bekannten Blockaden nicht zu überwinden sind, kann Europa nicht erwachsen werden. In Deutschland trifft schon die nüchterne Befassung mit der Realität „harter“ Macht­instrumente in der internationalen Politik auf tiefe Aversionen. Die vorherrschende Sehnsucht nach machtpolitischer Abstinenz neigt dazu, sich zur höchsten Form untadeliger Friedenspolitik zu überhöhen, erweist sich dabei aber mehr und mehr als Eskapismus, der die EU zurückhält und zum Königsweg in internationale Einflusslosigkeit und Irrelevanz werden könnte.



Die Praxis machtpolitischen Denkens im Indo-Pazifik erscheint aus der Warte eines weltpolitisch geläuterten Berlin wahrscheinlich anachronistisch – warum so viele Ressourcen für Streitkräfte, wenn doch alle Welt ihre Probleme mit Rezepten moderner Vernunftkultur wie dem kooperativen Multilateralismus lösen könnte? Die Antwort ist so banal wie existenziell: Solange nicht alle gewaltaffinen Akteure auf der Weltbühne von einer pazifistischen Grundhaltung überwältigt werden, muss sich die außenpolitische Vernunftkultur selbst in Deutschland an das erinnern, was eine Grundlage ihrer großen Erfolge im ausgehenden 20. Jahrhundert war – die machtpolitische Stabilisierung und ­Absicherung des Umfelds.



Dr. Christoph ­Müller war von 2011 bis 2016 Botschafter Deutschlands in Australien; er lebte und arbeitete als Diplomat auf allen Kontinenten, u.a. auch in China und Indien.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 81-85

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