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01. Nov. 2019

Welthandel ohne Regeln?

Kurz vor Weihnachten wird die Welt­handelsordnung erschüttert. Am 11. Dezember 2019 werden die Regeln für 98 Prozent des Welthandels zahnlos, weil die langanhaltende amerikanische Blockade des Streitbeilegungssystems der WTO nun greift. Zwei Drittel der deutschen Exporte außerhalb Europas, etwa in die USA, nach China oder Russland, beruhen einzig auf den WTO-Regeln. Ein Handel ohne dieses Rahmenwerk scheint schwer vorstellbar. Der Schaden für die Weltwirtschaft wäre immens, insbesondere für die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft.

Es überrascht daher, dass die deutsche Öffentlichkeit die Legitimations- und Funktionskrise der WTO bisher kaum beachtet hat. Denn die WTO steht für grundlegende und weltweit einheitliche Handelsregeln sowie Streitschlichtung auf Augenhöhe – noch. Der weltweit immer stärker praktizierte Unilateralismus aber höhlt die Selbstgewissheit des regelbasierten Welthandelssystems aus. Dies gilt es nun eiligst zu stoppen, mit allen Kräften.

Vor 25 Jahren glückte 124 Staaten ein handelspolitischer Meilenstein: Mit dem Abschluss der Uruguay-Verhandlungsrunde wurden die WTO gegründet, einheitliche Regeln im Güter- wie Dienstleistungshandel festgelegt und Märkte geöffnet. Vor allem aber wurde erstmals ein multilaterales Streitschlichtungssystem mit einem siebenköpfigen Berufungsgremium geschaffen, das Entscheidungen bei Verstößen gegen WTO-Regeln durchsetzen kann. Das „Kronjuwel der WTO“ hat bereits über 600 Streitfälle geschlichtet, die Compliance-Rate liegt bei 90 Prozent.

Viele dachten damals, mit der WTO-Gründung sei alles geregelt. Doch insbesondere im Zusammenhang mit der Digitalisierung wurde immer deutlicher, dass die noch mit Schreibmaschinen verfassten WTO-Regeln ein Update brauchen. Zudem haben sich durch den WTO-Beitritt Chinas 2001 die Handelsschwergewichte verschoben. Statt multilateraler Kooperation für offene Märkte gab es in den vergangenen Jahren vielfach Blockaden. 2016 scheiterten die umfassenden Doha-Verhandlungen für neue Regeln. Die Frustration ist auf allen Seiten groß, nicht zuletzt bei den USA, deren Kritik noch grundsätzlicher ist.

 

Von der Kritik zur Untergrabung

Die Stärkung des internationalen Rechts durch einen multilateralen Streitschlichtungsmechanismus war ein weitreichender Schritt. In den USA ist die Klage über den vermeintlichen Souveränitätsverlust bis heute nicht verhallt, im Gegenteil. Hinzu kommt fachlich durchaus berechtigte Kritik, die die EU ebenfalls vorbringt: zum Beispiel, dass sich trotz festgesetzter Entscheidungsfrist von 90 Tagen die Verfahren immer länger hinzogen.

Diese Kritik haben die USA seit Jahren deutlich artikuliert. Seit 2016 verfolgen sie aber eine Strategie der Komplettblockade. Um rechtskräftige Urteile zu fällen, benötigt das Berufungsgremium drei von sieben Mitgliedern, die per Konsensverfahren der 164 WTO-Mitglieder benannt werden. Eine Neubesetzung der seit 2016 frei gewordenen Stellen fand wegen der US-Blockade nicht mehr statt. Zuletzt lehnte Washington im August einen Vorstoß von über 100 Staaten hierzu ab. Von den aktuell noch drei Mitgliedern werden somit voraussichtlich zwei am 10. Dezember ohne Nachfolger turnusmäßig ausscheiden.

Laufende Streitfälle können in erster Instanz zwar weiterverhandelt werden. Die Schlichtungssprüche des Streitbeilegungsmechanismus entfalten jedoch ohne Berufungsgremium keine Rechtskraft, da der Großteil der Urteile angefochten wird. Mit dem Ende der WTO-Streitbeilegung würde die Verbindlichkeit des ganzen WTO-Regelsystems erschüttert: Warum sich an Regeln halten, wenn niemand für Verstöße belangt werden kann? Die Folge dieser Erosion: rechtliche Unsicherheit und eine Zunahme an unilateralen Diskriminierungs- und Vergeltungsmaßnahmen. Auch deutsche Unternehmen könnten sich viel weniger auf die Grundlagen ihrer Handelsbeziehungen verlassen.



Europa braucht einen Plan B

Was also tun? Im Kern geht es um die Frage, ob multilaterale Lösungen noch möglich sind oder nicht. Da die USA bisher auf keine der konstruktiven Reformvorschläge der EU zur Behebung bestehender Missstände eingehen, braucht Europa einen Plan B. Anstatt sich weiter zu fragen, ob die US-Blockade ein Mittel zum Zweck oder das eigentliche Ziel ist, sollte die EU voranschreiten. Eine jüngst veröffentlichte Blaupause der EU und Kanadas zeigt einen Ausweg: Möglichst viele Länder sollten sich auf eine Interimslösung einigen, die so lange ein paralleles Berufungssystem einrichtet, bis das bisherige System wieder funktionsfähig ist.

Somit ist die Durchsetzung des WTO-Rechts zwischen den willigen Ländern sichergestellt. Dabei ist eine möglichst breite Beteiligung, besonders der G20-Staaten, essenziell. Darauf sollte Deutschland mit Nachdruck bis zur Dezemberfrist auf allen Kanälen hinwirken. Nach dem gleichen Prinzip bietet eine Hinwendung zu offenen plurilateralen Abkommen eine Chance, die vernachlässigte Regelsetzungsfunktion der WTO zu erneuern und die Verhandlungsblockade zu durchbrechen.

Hierfür sollten Wirtschaft und Zivilgesellschaft stärker in die Diskussionen eingebunden werden. Denn klar ist, dass die Welthandelsregeln mit den großen wirtschaftlichen Veränderungen seit 1995 nicht Schritt gehalten haben. Nötig sind weltweit faire und moderne Spielregeln, etwa bei Subventionen oder beim digitalen Handel. Durch die stärkere Verzahnung mit anderen internationalen Systemen etwa zum Klimaschutz könnte die WTO schließlich ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen.

Multilateralismus ist im Handel das beste Mittel, um Streitigkeiten friedlich beizulegen. Offener Plurilateralismus, also ein Voranschreiten von willigen Staaten, ohne andere auszugrenzen, ist die beste Lösung zur Rettung des Multilateralismus. Hier kann die WTO auch von der Integration der verschiedenen Geschwindigkeiten in der EU lernen. Im Juni 2020 findet in Kasachstan die nächste WTO-Ministerkonferenz statt. Es ist der WTO zu wünschen, dass sie dann voll funktionsfähig ist, zum Vorteil aller Mitglieder, ob groß oder klein. Indem Europa sich für die Rettung der WTO einsetzt, schützt es am Ende auch sich selbst.

Klemens Kober ist Leiter des Referats Handelspolitik, EU-­Zollfragen, transatlantische Beziehungen beim Deutschen Indus­trie- und Handelskammertag (DIHK) mit Sitz in Brüssel. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 106-107

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