IP Special

18. Nov. 2022

Welt ohne Ordnung

Ein Grußwort von Sigmar Gabriel

Viel ist in Deutschland seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine von einer „­Zeitenwende“ die Rede. Aber so erschreckend die Rückkehr militärischer Aggressionen nach Europa auch ist, dieser russische Überfall auf einen friedlichen Nachbarn ist wohl eher die Folge als die Ursache dieser „Zeitenwende“.



Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung in den Machtachsen der Welt: Nicht mehr länger der Atlantik und die transatlantische Allianz zwischen Europa und den USA bilden das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Indo-Pazifik. Dort leben 60 Prozent der Weltbevölkerung, die auch 60 Prozent des Weltsozial­produkts erarbeiten. Mehr als zwei Drittel des ökonomischen Wachstums kommen aus dieser Region, und nicht zuletzt gibt es dort fünf Länder mit Atomwaffen.



Schon länger sehen deshalb die Vereinigten Staaten ihre großen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Herausforderungen im Indo-­Pazifik, insbesondere in China. Ein Land, das – wie auch Indien und die Staaten Afrikas und Lateinamerikas – die Dominanz westlicher liberaler Demokratien in der globalen Ordnung infrage stellt. Alles Länder, die an der Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkriegs nicht beteiligt waren, sondern von uns als „Entwicklungsländer“ wahrgenommen und in westlicher Selbstüberschätzung als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden. So leben wir derzeit in einer Übergangsphase, in der die alte globale Ordnung keine friedenstiftende Kraft mehr entfalten kann, eine neue Ordnung aber noch nicht gefunden ist.



Die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend unipolare Welt mit der unumstrittenen Führungsnation USA wandelt sich zunehmend in eine neue Bipolarität. Russlands Angriffskrieg war ganz offensichtlich der Versuch, sich im Ringen um eine neue globale Ordnung neben China und den USA als dritte Großmacht zu etablieren. Der Versuch kann schon jetzt als gescheitert angenommen werden, auch wenn im Krieg in der Ukraine kein Ende in Sicht ist. Russland ist nicht gleichberechtigter Partner Chinas geworden, sondern gerät in dessen Abhängigkeit.



Was macht das alles aus uns Europäern? Welche Folgen hat diese Entwicklung im Nahen Osten, dessen Reichtum an fossilen Brennstoffen keine strategische Bedeutung mehr entfaltet, weil die USA selbst zum Exporteur von Öl und Gas geworden sind und der mittelfristige Trend ohnehin aus Gründen des Klimaschutzes fossile Brennstoffe in der Energieerzeugung durch die Nutzung von Sonne, Wind, Wasserkraft und Geothermie ersetzen wird? Und: Was bedeutet das für Deutschland und für Israel in ihrer ökonomischen Entwicklung, ihrem Verhältnis zu ihren Nachbarn und zu den USA, welche Chancen können in einer verstärkten Zusammenarbeit Deutschlands und Israels liegen?



Genug zu besprechen also in der Generation von jungen Israelis und Deutschen, die gemeinsam in dieser völlig veränderten Welt ihr Schicksal frei und souverän in die eigenen Hände nehmen müssen, wenn sie nicht zum Spielball der geo­politischen Rivalitäten werden wollen. Getreu dem Motto: Man muss das Leben nehmen, wie es ist – aber man darf es nicht so lassen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 07, November 2022, S. 5

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Sigmar Gabriel  war Außenminister, Vizekanzler, SPD-Vorsitzender; derzeit ist er u.a. Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Schirmherr des Sylke-Tempel-Fellowship-Programms.