IP

01. Jan. 2012

Wege zur Freiwilligenarmee

Die Erfahrungen befreundeter Armeen können der Bundeswehr helfen

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht beginnt für die Bundeswehr eine neue Zeitrechnung. Bei der Umstellung auf eine Freiwilligenarmee kann Deutschland allerdings von den Erfahrungen seiner Verbündeten lernen – vom ausgewogenen Personalumbau bis hin zu den richtigen Anreizen, um die besten Rekruten frühzeitig zu werben.

Das Zeitalter der Massenarmee in Europa neigt sich dem Ende zu. Nachdem sich schon die Mehrzahl der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten für eine Freiwilligenarmee entschieden hat, verabschiedete sich mit Deutschland der letzte große europäische Staat faktisch von der Wehrpflichtigenarmee. Die veränderte sicherheitspolitische Lage und neue Einsatzrealitäten machten diesen schwierigen Schritt unumgänglich.1 Dass diese Maßnahme eine Reihe von Anpassungen und Veränderungen erfordert, erscheint vielen einleuchtend. Doch wie tief der Einschnitt sein wird, das betonte Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Mai zu Recht, wird heute noch häufig verkannt.2

Dass die Bundeswehr erst am Anfang eines mehrjährigen Umstellungsprozesses steht – während die meisten Verbündeten diesen bereits abgeschlossen haben –, hat durchaus auch Vorteile. So kann Deutschland von den Erfahrungen verbündeter Staaten profitieren. Diese können einen wertvollen Orientierungsrahmen für die Neuausrichtung der Bundeswehr liefern und gleichzeitig dazu beitragen, Fehlentwicklungen zu vermeiden. Dies gilt insbesondere auch für die drei zentralen Herausforderungen der Zukunft: Personalabbau, Personalgewinnung und Personalbindung. Deren Bewältigung wird letzten Endes über den Erfolg der Neuausrichtung der Bundeswehr entscheiden.

Wie haben die Verbündeten die strategischen Herausforderungen im Bereich Personal gemeistert, und sind diese Erfahrungen auf das deutsche Modell übertragbar? Auf der Grund­lage einer umfangreichen Studie, in der wir sechs verbündete Staaten – Frankreich, Kanada, USA, Großbritannien, Spanien und die Niederlande – systematisch untersucht haben, lassen sich folgende erste Antworten auf diese Fragen skizzieren.3

Überalterte Streitkräfte

In Deutschland gibt es keine andere staatliche Institution, die in den vergangenen 20 Jahren einen so erheblichen Personalabbau zu bewältigen hatte wie die Bundeswehr.4 Die Einführung einer Freiwilligenarmee erfordert aber eine weitere Reduzierung. So wird im Rahmen der Neuausrichtung der Gesamtumfang der Bundeswehr von derzeit etwa 240 000 auf rund 185 000 Soldaten sinken.

Bei diesem notwendigen Personalabbauprozess gilt es, eine ausgewogene Verteilung von militärischem Personal in Bezug auf Rang, Dienstjahre und ­Fähigkeitsniveau beizubehalten. Wie schwierig dies ist, haben solche Prozesse in den verbündeten Staaten vor Augen geführt: Ein unausgewogener Personalabbauprozess kann zu einer erheblichen Beschränkung der Einsatzfähigkeit führen.

Kanada ist ein Paradebeispiel für das Scheitern eines ausgewogenen Personalabbaus. Zwischen 1992 und 1996 wurden die kanadischen Streitkräfte von 85 000 auf 62 000 Soldaten reduziert, dabei setzte das Verteidigungsministerium vor allem auf die Reduzierung von Neueinstellungen. So nahmen die Streitkräfte zeitweise weniger als halb so viele Rekruten auf wie vor und nach der Umstellungsphase. Insgesamt wurden auf diese Weise rund 40 Prozent des Personalabbaus organisiert.

Die Folgen waren dramatisch: Die Streitkräfte überalterten und die durch diese Maßnahme entstandene Lücke in der Personalstruktur konnte bis heute nicht wieder ausgeglichen werden. Nach Schätzungen des kanadischen Parlaments könnte das noch bis zu 20 Jahre dauern. Um diese Verwerfungen zumindest teilweise zu korrigieren, müssen Kanadas Streitkräfte auch in den kommenden Jahrzehnten weitere, sehr kostenintensive Maßnahmen ergreifen. Mit ähnlichen selbstverschuldeten Schwierigkeiten kämpft auch Belgien, dessen Streitkräfte ebenfalls aufgrund von Einstellungsstopps überaltern.

Umbau statt Abbau

Erfolgreicher waren hingegen die USA und Frankreich.5 Beide Staaten haben gezeigt, dass eine ausgewogene Reduzierung dann möglich ist, wenn der Personalabbau über die Gesamtheit der Alters- und Dienstgradgruppen verteilt wird. Dies vermeidet Jahrgangseinbrüche und erlaubt die Beibehaltung einer ausgeglichenen Personalstruktur.6 Erreicht wurde dies vor allem durch Anreize zur freiwilligen Beendigung von Dienstverhältnissen. Eine zusätzliche Erkenntnis aus dem Personalabbauprozess bei den amerikanischen Streitkräften liefert außerdem der Erfolg von selektiv angebotenen Entlassungsprogrammen. Diese gewährten zum einen Schutz vor unbeabsichtigtem Verlust von unverzichtbarem Personal in kritischen Bereichen, zum anderen erlaubten sie eine Konzentration auf den Abbau von leistungsschwächerem Personal.

Für die Bundeswehr empfiehlt sich deshalb eine Orientierung an den jeweiligen Prozessen in Frankreich und den USA. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass die Entlassungsprogramme in beiden Ländern sehr kostenintensiv waren. Zwar hat Deutschland, im Unterschied zu vielen seiner Bündnispartner, den Streitkräfteumfang bereits vor der Aussetzung der Wehrpflicht deutlich reduziert. Dennoch ist eine erhebliche Anschubfinanzierung unabdingbar, um eine ausgeglichene Personalstruktur beizubehalten.

Armee ohne Nachwuchs?

In der öffentlichen Debatte um die Neuausrichtung der Bundeswehr kommt insbesondere dem Thema Nachwuchsgewinnung eine prominente Rolle zu. Mit der Wehrpflicht fällt ein wichtiges Rekrutierungselement weg, weshalb einige Kommentatoren der Bundeswehr als Freiwilligenarmee eine düstere Zukunft prophezeien. So sieht der ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Walther Stützle, schon eine „Armee ohne Nachwuchs“.7 Ist die Lage aber wirklich so dramatisch? Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Personalgewinnung bei reinen Freiwilligenarmeen?

Auch hier hilft der Blick über den Tellerrand. Nach den Erfahrungen der untersuchten Staaten sind sowohl Personalgewinnung als auch Personalbindung in der Tat wesentliche Herausforderungen auf dem Weg zur reinen Freiwilligenarmee. Um sie zu bewältigen, müssen oft neue Wege eingeschlagen werden. Besonders in der Übergangsphase, aber auch teilweise darüber hinaus hatten die meisten Streitkräfte Schwierigkeiten, ausreichend geeignete Bewerber zu finden, um eine qualitativ und quantitativ erfolgreiche Personaldeckung zu gewährleisten.

Ein wesentliches Hindernis war in vielen Fällen die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Streitkräfte gegenüber der Privatwirtschaft, was sich in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs und geringer Arbeitslosigkeit besonders bemerkbar machte. Auch die erschwerten Arbeits- und Lebensbedingungen der Soldaten und ihrer Angehörigen waren Gründe für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Streitkräfte. Fehlende Flexibilität in der Besoldung machte sich vor allem bei konjunkturellen Schwankungen negativ bemerkbar. So taten sich die meisten Streitkräfte sehr schwer, auf kurzfristige konjunkturelle Veränderungen wie sinkende oder steigende Arbeitslosigkeit zu reagieren. Die Gründe waren nicht nur institutioneller (mangelnde ökonomische Expertise), sondern auch instrumenteller Natur (unzureichende Programme).

Auch die Nachwuchswerbung bereitete vielen Streitkräften Schwierigkeiten. Als problematisch erwies es sich oft, einen möglichst großen Bewerberpool frühzeitig zu erreichen und den Wegfall von bestehenden Berührungspunkten zwischen Streitkräften und Jugendlichen schnell zu kompensieren, was ja eine wesentliche Funktion der Wehrpflicht erfüllt. Gleichzeitig wirkten sich unzureichend vorhandene Wiedereingliederungsmaßnahmen negativ aus. Denn um eine ausreichende Anzahl von Zeitsoldaten zu gewinnen, mussten die Streitkräfte potenziellen Bewerbern eine langfristige berufliche Perspektive bieten, inklusive eines möglichst erfolgreichen Wiedereinstiegs in die zivile Arbeitswelt. Dazu fehlten jedoch häufig arbeitsmarktorientierte Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten.

Besser bezahlen, besser werben, besser betreuen

Ob und inwiefern die Bundeswehr ähnliche Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung und Personalbindung haben wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Dass die Bewerberzahlen 2011 besser waren als vielfach erwartet, ist ein erstes positives Zeichen. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass sich die Zahlen aufgrund des Wegfalls von Einmaleffekten bereits in den nächsten Jahren verschlechtern könnten.

Dessen ungeachtet wird die Personalgewinnung allein aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland mittel- und langfristig schwerer werden.8 Auch aus diesem Grund lohnt sich der Blick auf die Lösungsansätze anderer Staaten. Denn trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Ausgangslagen können die positiven Erfahrungen der verbündeten Staaten Orientierungen für Deutschland bieten, das vor allem an drei Punkten ansetzen müsste.

1. Die Erhöhung der materiellen Vergütung: Um die Wettbewerbsfähigkeit der Streitkräfte zu steigern, wurde in vielen Staaten der Wehrsold angehoben. Insbesondere die Anhebung von Einstiegsgehältern konnte neue Anreize schaffen und gleichzeitig die Risiken des militärischen Berufs und die besonderen Belastungen wie hohe Einsatzfolgen kompensieren.

Parallel dazu wurde in einigen Staaten das Prämiensystem erweitert und flexibler gestaltet. In den USA, aber auch in anderen Staaten gelang es so, auf konjunkturell bedingte Veränderungen der Personallage durch Vergabe von Prämien zur Personalgewinnung und Personalbindung schnell und effektiv zu reagieren.

2. Der Ausbau des „outreach“: Damit ist vor allem der Ausbau der Informations- und Beratungstätigkeit gemeint. Durch die Einbindung digitaler Medien konnten die untersuchten Streitkräfte Jugendliche und junge Erwachsene besser über Berufschancen informieren. Interessenten und deren Ange­hörige wurden dabei möglichst frühzeitig angesprochen und be­raten, beispielsweise in Schulen und ­Vereinen.

Außerdem zielte man oft darauf ab, neue Potenziale bei der Personalgewinnung zu erschließen. Verschiedene Streitkräfte eröffneten gesellschaftlichen Gruppen, die bislang unterrepräsentiert waren – wie Frauen, ethnische Minderheiten oder Einwanderer –, neue berufliche Perspektiven. In Frankreich verdoppelte sich der Anteil von Frauen in den Streitkräften zwischen 1994 und 2008 von 7,5 auf 14,2 Prozent. Unter restriktiven Auflagen führten einige Staaten – zum Beispiel Spanien – auch eine begrenzte Öffnung der Streitkräfte für Nicht-Staatsbürger ein.

3. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen für Soldaten und deren Familien: Um die Personalgewinnung und Personalbindung sicherzustellen, wurden die Arbeitsbedingungen der Soldaten verbessert, beispielsweise durch die Modernisierung von militärischer Infrastruktur und Einrichtungen.

Gleichzeitig bemüht man sich um eine Verbesserung der Lebensqualität für Armeeangehörige. Unter anderem stellte man neue Wohnungen für Familien bereit, baute Einrichtungen zur Kinderbetreuung wesentlich aus und erweiterte die Angebote für Teilzeitbeschäftigungen. In Frankreich wurden darüber hinaus Programme zur Unterstützung bei der Suche nach Kindergärten und Schulen für Kinder von Militärangehörigen eingeführt sowie finanzielle Ausbildungsunterstützungen für ältere Kinder gewährt.

Zudem boten die Streitkräfte Hilfen bei der Arbeitssuche für Ehepartner von Militärangehörigen an.

Die meisten Staaten ergriffen auch verschiedene Maßnahmen zur potenziellen Wiedereingliederung von Zeitsoldaten in das zivile Berufsleben wie die Gewährleistung einer verbesserten Kompatibilität militärischer und ziviler Aus- und Weiterbildungsabschlüsse, die eine Rückkehr in die zivile Arbeitswelt erleichtern. In einigen Staaten – beispielsweise in Spanien – wurden Soldaten darüber hinaus Eingliederungsvorteile im öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Polizei, gewährt.

Geld ausgeben, um die Bündnisfähigkeit zu wahren

Voraussetzung dafür war allerdings eine hinreichende Finanzierung. Unsere Studie hat gezeigt, dass alle betreffenden Länder eine wesentliche Erfahrung teilen: Besonders während der Umstellungsphase mussten erhebliche finanzielle Mittel aufgewendet werden. Häufig war eine Anschub­finanzierung notwendig, um mittel- und langfristig Einsparungen tatsächlich erreichen zu können. Diese Erfahrung bestätigte eine Erkenntnis, die bereits die Weizsäcker-Kommis­sion in ihrem Abschlussbericht aus dem Jahr 2000 betonte: „Sparen kostet“.9

Eine mögliche Unterfinanzierung des Umstellungsprozesses der Bundeswehr auf eine Freiwilligenarmee würde gravierende negative Folgen haben. Es besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass diese zu Lasten notwendiger verteidigungsinvestiver Ausgaben gehen könnte. Dies würde eine weitere Reduzierung der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung sowie für militärische Beschaffung bedeuten. Die Folge wäre eine nicht sachgerechte Ausrüstung der Bundeswehr und damit vor allem eine entscheidende Schwächung ihrer Bundeswehr. Eine solche Entwicklung könnte am Ende die Bündnisfähigkeit Deutschlands in Frage stellen.

BJÖRN H. SEIBERT ist Fellow am Weatherhead Center for International Affairs der Harvard University.
Dr. CINDY WILLIAMS ist Principal Research Scientist am Security Studies Program des Massachusetts Institute of Technology (MIT).

  • 1Siehe auch Bundesministerium der Verteidigung: Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR), Berlin, 18.5.2011.
  • 2Siehe die Rede von Verteidigungsminister Thomas de Maizière am 18.5.2011 in Berlin, S. 6.
  • 3Siehe Cindy Williams und Björn H. Seibert: Von der Wehrpflichtigen- zur Freiwilligenarmee: Erkenntnisse aus verbündeten Staaten, Studie für den Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung, Massachusetts Institute of Technology, Februar 2011 (unveröffentlicht).
  • 4Siehe auch die Rede des Bundesministers der Verteidigung Karl-Theodor zu Guttenberg anlässlich der Bundeswehrtagung am 22.11.2010 in Dresden, S. 25.
  • 5Die USA reduzierten zwischen 1987 und 1999 von rund 2,2 Millionen auf weniger als 1,4 Millionen Soldaten im aktiven Dienst – also um mehr als 36 Prozent. Frankreich reduzierte sein Personal zwischen 1996 und 2003 von etwa 600 000 auf rund 430 000.
  • 6Eine Ausnahme bildete dabei die amerikanische Luftwaffe. So wurde zwischen 1989 und 1994 die Zahl der auszubildenden Piloten um 70 Prozent verringert. In den Folgejahren hatte die Luftwaffe einen Mangel an Piloten zu beklagen.
  • 7Siehe Walther Stützle: Armee ohne Nachwuchs, Cicero, 24.2.2011.
  • 8Siehe etwa Bundesministerium der Verteidigung: Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7.6.2010, Berlin, S. 60–62.
  • 9Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr. Bericht der Kommission an die Bundesregierung, Berlin, 23.5.2000, S. 17.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 108-113

Teilen