Was man aushält
Brief aus ... Kabul
Nicht die Afghanen haben sich an den Krieg gewöhnt – sondern wir.
Liebe Leser, ich muss Sie warnen: Dies ist ein wütender Brief. Wenn Sie keine Lust auf Wut haben, verstehe ich das – ich bin auch kein großer Fan von Wut –, doch dann müssen Sie weiterblättern.
Vor ein paar Monaten saß ich mit einem befreundeten Arzt in Kabul beim Abendessen. Er erzählte von einem afghanischen Soldaten, der den Job gewechselt hatte, weil er nicht mehr kämpfen wollte, den dann aber die Erinnerungen an den Krieg nicht losließen. Am Ende sagte der Arzt: „Weißt du, in einer Sache irrt sich die medizinische Welt: Eine posttraumatische Belastungsstörung ist keine Störung. Es ist eine ganz normale Reak-tion, auf die Brutalität und die Gewalt, die man im Krieg erlebt. Würde jemand nicht reagieren – das wäre die Störung.“ Ich fand, er hatte Recht, und postete sein Zitat bei Twitter. 36 Leute retweeteten, so viele wie nie zuvor.
Einige Wochen später postete ich einen Artikel, den ein Kollege in der FAZ geschrieben hatte. Er handelte davon, wie Deutschland mit seinen Elitesoldaten umgeht (nicht besonders gut) und am Rande auch davon, wie es den Elitesoldaten nach ihren Einsätzen geht (auch nicht besonders gut). Ein Leser aus Deutschland antwortete: „Komischerweise brauchten die Teilnehmer von ww2 keine [Therapie] und sind trotzdem klargekommen.“ Ich antwortete, dass ich das für ziemlichen Quatsch hielte. Er schrieb: „Warum? Die Leute hatten Schlimmes erlebt und sind klargekommen. Besser als die heutige ‚Generation Weinerlich‘.“ Er habe „den Eindruck, dass die Afghanen mit dem Dauerkrieg besser klarkommen als die Besatzersoldaten.“
Ich wurde wütend. Ich bin nicht dafür bekannt, dass ich schnell weine, aber in diesem Moment schossen mir Tränen in die Augen, so wütend war ich. Abends lag ich im Bett und konnte nicht einschlafen.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, bei dem mir ein hochrangiger Bundeswehrsoldat erklärt hatte, für die Afghanen habe der Tod eine ganz andere Bedeutung als für uns Deutsche. Sie hätten sich daran gewöhnt. Ich fragte ihn damals, ob er schon einmal eine afghanische Familie getroffen hätte, die jemanden verloren hat. Er verneinte. Ich sagte, dass ich mehrere Familien getroffen hätte und dass mein Eindruck ein anderer sei. Daraufhin er: Das ist dann Ihre Meinung – meine ist eine andere.
Diese Woche ist es dann wieder passiert: Jemand schrieb mir, die Afghanen hätten sich an Gewalt gewöhnt. Der Krieg sei Alltag geworden. Sie kämen damit klar.
Ich wurde wieder wütend. Und ich spürte den Drang, einmal ausführlich zu erklären, warum: Sätze wie diese machen mich wütend, weil sie unterstellen, dass Afghanen eine andere Spezies Menschen sind. Menschen, die schon irgendwie damit klarkommen, wenn ihr Bruder in die Luft gejagt oder ihr Vater erschossen wird. Vor allem unterstellen sie, dass es Menschen gibt, die den Krieg ganz gut aushalten. Ist es dann noch so schlimm, Krieg zu führen? Wenn die Menschen ihn ja irgendwie vertragen?
Ganz abgesehen davon: Die Menschen in Afghanistan kommen nicht klar. 67 Prozent der afghanischen Bevölkerung leiden an Depressionen – und das sind noch die offiziellen -Zahlen des Gesundheitsministeriums, sehr wahrscheinlich sind es mehr.
Ich kenne Leute, die Albträume haben; die nachts immer wieder sehen, wie ihr Bruder bei einer Explosion stirbt. Die im Schlaf schreien. Ich kenne Leute, die jedes Mal weinen, wenn sie über den Tod eines Freundes reden, und solche, die abends beim Einschlafen beten, dass sie morgens wieder aufwachen.
Ich kenne Leute, die trinken gegen den Schmerz, die Opium rauchen oder Heroin spritzen. Ich kenne Leute, die mit ihren Fäusten und Köpfen immer wieder gegen die Wand schlagen, damit der Schmerz endlich weggeht, und ich kenne Leute, die versucht haben, sich umzubringen, weil sie mit dem Stress nicht klarkommen, den dieser „Dauerkrieg“ mit sich bringt.
Es stimmt nicht, dass die Leute in Afghanistan die Gewalt aushalten. Sie haben einfach nur keine andere Wahl. Sie machen weiter mit ihrem Alltag, weil sie gelernt haben, dass man das muss, um zu überleben. Es gibt hier keine staatlichen Systeme, die Menschen in Not helfen, wie wir es in Deutschland gewöhnt sind.
Warum sollte der Tod eines Einzelnen weniger schlimm sein, nur weil um einen herum noch viele andere sterben? Das sehen nur wir so: In einem Land, in dem jedes Jahr Tausende getötet werden – was sind da schon ein, zwei mehr? Es gibt Nachrichtenagenturen, die eine fixe Mindestgrenze an Toten haben – davor berichten sie nicht über Anschläge in Afghanistan.
Vielleicht gewöhnt man sich an Panzer, an Waffen und den Klang einer Explosion. Aber man gewöhnt sich nicht daran, dass ein Freund zerfetzt wird, dass ein Vater von einer Drohne getötet wird oder ein Kind bei einem Luftangriff stirbt. Man gewöhnt sich nicht daran, Angst um seine Familie zu haben.
Die einzigen, die sich an den Krieg in Afghanistan gewöhnt haben, sind wir, die ihn nur aus den Nachrichten kennen. Wir sind weit genug weg.
Ronja von Wurmb-Seibel lebt als Reporterin und Fotografin in Kabul. Im März 2015 erscheint beim DVA-Verlag ihr erstes Buch.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2014, S. 128-129