Titelthema

19. Dez. 2023

Wann wird Europa reif für Geopolitik?

Sicherheit vor Russland und China ist der eigentliche Gradmesser eines geopolitischen Europas. Das erfordert viel größere Verteidigungsanstrengungen.

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Bild: Boris Pistorius mit seinem ukrainischen Amtskollegen Rustem Umjerow in Kiew
Um als geopolitischer Akteur gelten zu können, müssen die EU-Staaten stark konventionell aufrüsten: Bundes
verteidigungsminister Boris Pistorius mit seinem ukrainischen Amtskollegen Rustem Umjerow in Kiew.
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Wie es sich mit einem US-Präsidenten Donald Trump lebt, haben die Europäerinnen und Europäer bereits zwischen 2017 und 2021 erfahren. Umso erstaunlicher ist ihr heutiger Gleichmut, wenn es um die Folgen einer zweiten Trump-Amtszeit für EU und NATO geht.

Trump hat, ungeachtet seiner zahlreichen Verfehlungen, in seiner Amtszeit die lange bestehenden Spannungen im Herzen des transatlantischen Verhältnisses überdeutlich artikuliert. Wird Europa mehr für seine Sicherheit ausgeben? Sind die Europäer bereit, mehr zu tun, um sich verteidigen zu können? Sind die Europäer willens, die Rivalität zwischen China und den USA als Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen anzuerkennen? Auf manche Fragen haben die Europäer nur Teilantworten gegeben. Zu den harten Wahrheiten gehört, dass harte Wahrheiten weh tun.

Wenn es also dazu kommen sollte, dass Trump in einem Jahr ein weiteres Mal an die Macht gelangt, wird er ganz sicherlich in Bezug auf Europa die Schrauben an­ziehen. Auch wenn ein Austritt der USA aus der NATO unwahrscheinlich erscheint, hat Washington doch die Mittel, um Europa das Leben äußerst schwer zu machen. Man stelle sich nur vor, wie die Verantwortlichen in den europäischen Hauptstädten reagieren würden, sollten die USA ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen. Welche Art von Handelskrieg wäre zu erwarten, wenn Europa einem Aufruf Trumps zur wirtschaftlichen Isolierung Chinas nicht Folge leistet? Und ob und in welcher Weise Europa – oder einzelne Länder wie Frankreich und Deutschland – im Wahlkampf instrumentalisiert werden, werden wir noch erleben.



Ein geopolitisches Europa

Aber auch wenn Trump die nächste Wahl nicht gewinnt, werden in Europa die Wunden, in die er Salz zu streuen sucht, bestehen bleiben. Mit dem Begriff eines „geopolitischen Europas“, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell seit 2019 prägen, sind wir inzwischen vertraut. Viele haben den Realitätsbezug ­dieses Konzepts zu Recht kritisiert. Dennoch hängt die Einschätzung, ob Europa das Zeug zu einer geopolitischen Macht hat, stark von der Art der Analyse ab. Manche denken offenbar, dass die Unfähigkeit Europas, eine geopolitische Rolle zu spielen, sich daran festmacht, ob es eine militärische Verteidigungslinie in der Sahelzone halten kann, ob es eine glaubwürdige Antwort auf die Krise im Nahen Osten formulieren kann oder ob es imstande ist, seine Bürgerinnen und Bürger aus eigener Kraft aus Afghanistan zu evakuieren.

Wer dies zum Maßstab macht, versteht nicht, worum es in diesem geopolitischen Spiel tatsächlich geht. Natürlich will niemand, dass es an seinen Grenzen zu Konflikten, Krisen oder Staatsstreichen kommt. Aber derartige Krisen sind eigentlich zweitrangige Ereignisse.



Der eigentliche Gradmesser

In Wahrheit geht es bei Europas Machtspiel darum, sich selbst – heute und in der Zukunft – gegen Russland zu verteidigen. Auch China ist, ungeachtet seiner derzei­tigen wirtschaftlichen Verletzlichkeit, eine autoritäre Macht, die die Weltordnung nach ihren eigenen Interessen zu formen versucht. Russland und China, zusammen oder einzeln, sind die wirklichen Vektoren, anhand derer Europas geopolitische Macht abgeschätzt werden kann.

Um beiden Herausforderungen zu begegnen – in einem Umfeld, in dem die USA Europa womöglich schwer unter Druck setzen werden –, brauchen die EU und die NATO für die kommenden Jahre einen Aktionsplan und einen Mentalitätswechsel. Dieser Mentalitätswechsel wird sich nicht allein aufgrund von Erklärungen, Konzepten oder Reden vollziehen; er verlangt echtes Geld, harte Waffen und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Es genügt nicht, die Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffimporten zu verringern und sich der demografischen Herausforderung zu stellen. Europa muss die Frage seiner militärischen Macht mit viel größerem Ernst angehen.

Heute besteht die reale Gefahr, dass Europa bei der Munitionsproduktion zurückfällt. In einer Studie des Warschauer Zentrums für Oststudien (OSW) wird geschätzt, dass sich „die Jahresproduktion von 155-mm-Artilleriemunition in den größten Produktionsanlagen in Europa auf 20 000 bis 30 000 Stück“ beläuft, aber dass die Ukraine „jede Woche 25 000 bis 40 000 Stück solcher Munition“ verbraucht. Wir wissen also bereits, dass es für Europa ein konkreter geopolitischer Akt wäre, die Munitionsproduktion hochzufahren und dann auf hohem Niveau zu halten – zumal diese Art von Munition auch für Taiwan, sollte es dort zu einem Krieg kommen, von unschätzbarem Wert sein wird.

Die Gelder für eine solche Steigerung der Produktion werden aber sowohl im Europäischen Rat als auch im US-Kongress blockiert. Dort zögert man, ­während Russland die Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben ankündigt. Europa hat die Finanzkraft, hier zu kontern – aber nur, wenn es seine internen Streitigkeiten hinter sich lässt.



Unbezwingbare Festung

Trotzdem gilt: Kein geopolitischer Akteur kann allein danach beurteilt werden, wie viel Munition er herstellen kann. Weil Europa in seiner Gemeinschaft keine Atommacht ist (siehe dazu auch das Pro und Contra auf S. 110–113), wird es in anderer Weise zu seiner Verteidigung beitragen müssen. Dazu braucht es harten Stahl – nämlich den von Panzern, Flugzeugen und Schiffen. Die Realität sieht allerdings so aus, dass Europa das Prinzip der Massenproduktion aufgegeben hat und sich stattdessen Hightechlösungen nach dem Motto „klein, aber fein“ gewidmet hat. Dies wird für die kommenden Jahre nicht ausreichen, wenn man Russland zeigen können muss, dass die EU und die NATO eine unbezwingbare Festung sind.

Die EU und die NATO brauchen einen Aktionsplan und einen Mentalitätswechsel. Gefragt sind Geld, Waffen und die Bereitschaft, Risiken einzugehen



Die militärischen Planungen, mit denen Europa dies erreichen möchte, sind jedoch von jeglicher industriellen Strategie entkoppelt. Weder die NATO noch die EU – weder gemeinsam noch getrennt – haben einen schlüssigen Plan, wie viel von etwas gebraucht wird und wie es hergestellt oder beschafft werden soll. Die NATO teilt den Fähigkeitsbedarf auf nationaler Basis zu, während die EU die finanzielle Stärke hat, gemeinsam in diese Ziele zu investieren.

Da man von den USA nicht erwarten kann, dass sie ihre verteidigungsindustriellen Interessen zurückstellen (vor allem nicht in einem Trump-2.0-Szenario), müssen die Europäerinnen und Europäer den Mut aufbringen, einen langfristigen Fähigkeitsplan zu formulieren, der auf glaubwürdigen militärischen Szenarien und gemeinsamer Finanzierung beruht. Es reicht nicht aus, die Kategorien der benötigten Fähigkeiten aufzulisten, ohne zu ermitteln, welches Maß an Masse in jeder Kategorie benötigt wird.

Europa sollte nicht nur an Landstreitkräfte denken, gebraucht werden auch ­Raketen- und Luftabwehrfähigkeiten – und eine schlagkräftige Marine

 

Außerdem dürfen wir, wenn wir in diesen Tagen in Europa über militärische Masse nachdenken, nicht nur an Landstreitkräfte denken. Ja, wir müssen die Massenproduktion von Kampfpanzern in Europa sicherstellen, aber wir dürfen andere Fähigkeiten nicht vergessen, die auf Europas industrieller Stärke aufbauen. Europa sollte einen schlüssigen Plan entwickeln, um Milliarden in die gemeinschaftliche Produktion von Raketen- und Luftabwehrfähigkeiten zu investieren – und in eine schlagkräftige Marine.

Die Berichterstattung über Russlands Überfall auf die Ukraine erweckt den Eindruck, dass Krieg in Europa heute vor allem zu Lande stattfindet, aber ­Europa ist auch ein maritimer Akteur, der lebenswichtige maritime Räume wie die Ostsee, das Schwarze Meer, die Meere im hohen Norden und das Mittelmeer schützen muss.



Höhere Etats notwendig

Dafür wird viel Geld benötigt. Das 100- Milliarden-Euro-Sondervermögen, das Deutschland für die Bundeswehr aufgelegt hat, hat sich – schon jetzt ausgehöhlt von der Inflation – selbst für einen einzigen Mitgliedstaat als unzureichend erwiesen. Die unbequeme Wahrheit ist, dass auch die Erschließung neuer Investitionsquellen über die Europäische Investitionsbank nicht ausreichen wird. Tatsächlich darf man, auch wenn EIB-Quellen angezapft werden sollten, nicht dem Irrglauben erliegen, dass die Bank sämtliche Probleme lösen kann, die Europa mit Verteidigungsinvestitionen hat.

In Wahrheit müssen die europäischen Staaten jenseits und über die EIB hinaus ihre nationalen Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. Im Idealfall würden sie das zusätzliche Geld gemeinsam ausgeben, um Größenvorteile zu erzielen und mehr Gegenwert für die öffentlichen Ausgaben zu erhalten. Die Entwicklung der verteidigungsindustriellen Basis würde Europa nicht nur in die Lage versetzen, sich an der Heimatfront besser zu bewähren, sondern auch seine Partner in der Welt zu unterstützen. So wird zum Beispiel viel darüber geredet, ob und wann China eine Invasion Taiwans versuchen könnte. Ein solcher Schritt würde die europäischen Interessen unmittelbar treffen. Obwohl die meisten Experten ein direktes militärisches Engagement der Europäer für unwahrscheinlich halten, müsste Europa doch Waffen und Munition an Taiwan liefern – möglicherweise im Umweg über die USA –, falls es China militärisch nicht gelingt, durch einen sofortigen Sieg vollendete Tatsachen zu schaffen.

Zudem ist zu erwarten, dass ein breites Spektrum von Sanktionen gegen Peking verhängt würde. Aber wo ist der Plan für die Kosten, die solche Sanktionen verursachen würden, und für Mittel und Wege, mit denen Europa sie abfedern könnte? Und wäre Europa bereit, eine Rolle bei der Unterstützung Taiwans zu spielen, wenn es nach der nächsten Wahl in den USA zum demokratischen Stillstand kommt und China das Chaos zu nutzen versuchte?

Die Staaten, die verstehen, was geopolitisch auf dem Spiel steht, haben nur selten die Macht zu handeln



Dies sind nur einige der Schritte, die Europa gehen muss, wenn es ein glaubhafter geopolitischer Akteur werden will. Das Problem ist, dass zwar die meisten vernünftigen Analysen diese Sicht unterstützen, die politische Klasse aber nach wie vor dazu neigt, katastrophal erscheinende Szenarien auszublenden. Dabei wissen die meisten Politikerinnen und Politiker in Wahrheit durchaus, wie man dem Niedergang von Europas geopolitischem Status begegnen kann.

Die Tragödie besteht darin, dass die europäischen Staaten, die verstehen, was geopolitisch auf dem Spiel steht, nur selten die finanzielle oder politische Macht haben, um handeln zu können. Denen, die über die Mittel verfügen, fehlt (derzeit) der Mut, zu handeln und zu führen. Wer sich in Westeuropa in der Geopolitik blind stellt, tut das, weil er Russland und China nicht als direkte militärische Bedrohung sieht. Das mag für den Moment zutreffen, aber warum sollte die europäische Sicherheit unter dieser Annahme verramscht werden?



Aus dem Englischen von Bettina Vestring   

 

Dieser Text ist Teil der Titelstrecke der IP 01/2024, ab dem 02.01.2024 im Handel / Abo erhältlich

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 25-29

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Dr. Daniel Fiott ist Assistant Professor und Leiter des Defence and Statecraft Programme des Centre for Security, Diplomacy and Strategy (CSDS) an der Brussels School of Governance.

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