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03. Jan. 2022

Der Weg zu einem souveränen Europa

Die Frage nach der „europäischen Souveränität“ verweist auf fundamentale Fragen, zu denen sich die EU verhalten muss, erneuerter ­Gesellschaftsvertrag inklusive.

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Bild: Emmanuel Macron bei seiner Europa-Rede in der Sorbone
Die Forderung nach mehr europäischer Souveränität verweist letztlich auf 
die Notwendigkeit, demokratische Kontrolle über politische Kräfte und Herausforderungen zu gewinnen: Emmanuel Macron in der Sorbonne 2017.
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Vor mehr als vier Jahren hielt der französische Präsident Emmanuel Macron an der Pariser Sorbonne eine Rede mit dem Titel „Initiative für Europa“. Sie führte das Konzept der europäischen Souveränität ein – damals noch ein kühner Vorschlag, heute eine weit verbreitete Vorstellung. 2020 nannte EU-Ratspräsident Charles Michel das Erreichen echter europäischer Souveränität „die Aufgabe unserer Generation“. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nutzte ihre Rede zur Lage der Europäischen Union 2021, um Europas technologische Souveränität zu fordern. Dieselbe Forderung erhoben die deutsche, estnische, finnische und dänische Regierung: Investitionen in die digitale Souveränität. Und auch der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung sieht mehr strategische Souveränität für Europa als wichtiges Ziel.



Das Konzept der strategischen europäischen Souveränität kann intuitiv durch die vielen Krisen erklärt werden, die die EU in den vergangenen Jahren heimgesucht haben. Die Pandemie und die folgende Gesundheitskrise legten beispielsweise Europas mangelnde medizinische Ausrüstung offen, zeigten aber auch, dass Europa dank des Einfallsreichtums und der Innovationskraft seiner Wissenschaft einen Impfstoff entwickeln konnte. Zur gleichen Zeit stellen die EU die Unsicherheit ihrer direkten Nachbarschaft und andere internationale Herausforderungen wie die Klimakrise und die digitale Transformation vor Probleme; sie zwingen sie, darüber nachzudenken, wie sie ihre Interessen und Werte am besten durchsetzen kann.



Es ist daher kein Zufall, dass das Konzept der europäischen Souveränität aus der Notwendigkeit heraus entstanden ist, dieses Zeitalter der globalen Konkurrenz besser zu verstehen und darauf zu reagieren. Über die erste Intuition hinaus müssen wir jedoch ein gemeinsames Verständnis des Konzepts der europäischen Souveränität entwickeln und uns auf seine Konsequenzen fokussieren.



Auch wenn man den Zusatz „europäische“ vor dem Wort „Souveränität“ weglässt, ruft es in ­vielen die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle hervor. Souveränität ist ein Schlüsselkonzept in der Politikwissenschaft und den Internationalen Beziehungen. Für einige hat der Begriff einen negativen Beigeschmack, weil er die Rolle des Staates überbetont und mit den dunkelsten Kapiteln der europäischen Geschichte assoziiert wird. Andere sehen den Begriff positiver, weil sie in ihm ein Symbol der politischen Freiheit sehen, wiedergewonnen nach Jahrzehnten des Lebens unter kolonialer oder fremder Herrschaft.



Auf der europäischen Ebene schwingt bei der Idee der Souveränität eine Strategie des Staatsaufbaus mit, um Europa zu föderalisieren. Impliziert wäre damit auch, dass ein föderaleres Europa zu Lasten der nationalen Souveränität ginge. Doch obwohl EU-Institutionen mittlerweile Kompetenzen in so verschiedenen Politikfeldern wie Energiesicherheit, dem Grenzschutz, Handel und vielem mehr erworben haben, bleibt souveräne Macht auf der europäischen Ebene noch immer diffus. Die EU hat kein souveränes Haupt im Sinne des klassischen Souveränitätsverständnisses – es gibt keinen europäischen Leviathan.

Ein weiterer Grund, warum europäische Souveränität bei vielen weiterhin Zweifel weckt, ist, dass das Konzept so eng mit Frankreich und Präsident Macron verbunden ist. Das ermöglicht es denjenigen, die das Konzept ohnehin ablehnen, es lediglich als eine französische Laune abzutun. Aber wie wir gesehen haben, steht Frankreich nicht allein: Andere europäische Regierungen haben ebenfalls versucht, dem Konzept Leben einzuhauchen. Die Idee der europäischen Souveränität wird heute von vielen Regierungen geteilt.



Zudem gab es immer wieder den Verdacht, die Idee der europäischen Souveränität sei nur dazu gedacht, die Verwandlung der EU in eine autarkere Gemeinschaft zu kaschieren. Europäische Souveränität bedeute, dass Europa die Zugbrücken zum Rest der Welt hochziehen wolle, so die Kritik. Dies reduziere auf unzulässige Weise die Schritte, die die EU beispielsweise unternommen hat, um schädliche wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten zu reduzieren.



Tatsächlich ist der Gegensatz „Protektionismus versus Offenheit“ größtenteils eine Karikatur. Es gibt auf der ganzen Welt kein Beispiel einer vollständig offenen oder vollständig geschlossenen Volkswirtschaft. Selbst die USA, die oft als der Inbegriff einer freien und offenen Marktwirtschaft angesehen werden, sind in strategisch bedeutsamen Sektoren für die Außenwelt praktisch geschlossen. Die EU scheint immer mehr zu bemerken, dass strategische Wettbewerber die relative Offenheit des europäischen Binnenmarkts für sich auszunutzen versuchen.



Europäische Souveränität verstehen

Trotz all dieser Bedenken sollte europäische Souveränität nicht so schnell abgeschrieben werden. Es ist interessant, dass der Terminus heute von vielen dem Begriff der strategischen Autonomie vorgezogen wird – einem weiteren höchst umstrittenen Konzept. Klar sollte jedoch sein, dass das Konzept der europäischen Souveränität die strategische Autonomie zwar einschließt, beide Begriffe aber nicht genau dasselbe meinen.



Die Idee der europäischen Souveränität ist jünger als die der strategischen Autonomie. Letztere bezieht sich darauf, über die Mittel und Kapazitäten zu verfügen, um auf dem internationalen Parkett so unabhängig wie möglich zu agieren. Im Sicherheits- und Verteidigungsbereich ist damit häufig der Aufbau einer eigenen europäischen Verteidigungsindustrie ­gemeint. Geht es um Technologie, werden oft Investitionen in Halbleiter und Batterietechnik angeführt, um sicherzustellen, dass die europäische Wirtschaft auch weiterhin innovationsfähig ist. Im Weltraum hat Europa durch die Programme Galileo und Kopernikus schon eine gewisse Unabhängigkeit gewonnen, die unbedingt beibehalten werden sollte. Ganz generell gibt der europäische Binnenmarkt mit seiner gemeinsamen Währung und einer einheitlichen Handelspolitik der EU und ihren Mitgliedstaaten die Möglichkeit, umfassend regulierend tätig zu werden. Das versetzt die EU in die Lage, ihre wirtschaftlichen wie normativen Interessen und Werte auch durchsetzen zu können.



Europäische Souveränität schließt diese Faktoren ein, geht aber noch einen Schritt darüber hinaus und berührt auch Fragen fundamentaler Freiheiten und Sicherheiten. Während strategische Autonomie sich hauptsächlich mit politischen Handlungen beschäftigt, geht es bei europäischer Souveränität um politische Herrschaft. Die Forderung nach mehr europäischer Souveränität verweist im ­Wesentlichen auf die Notwendigkeit, demokratische Kontrolle über politische Kräfte und Herausforderungen auszuüben, die von einer einzelnen Regierung allein nicht wirksam bewältigt werden können. Sicher liegen diese Ängste vor dem Verlust politischer Kontrolle auch Macrons Sorbonne-Rede zugrunde. Fragen danach, ob Europa allein seine Sicherheit garantieren und die digitale und klimapolitische Transformation stemmen kann, spielten dabei wohl eine herausgehobene Rolle.



Souveränität war schon immer ein Spiegelbild der Vorstellung davon, wer legitimerweise politische Herrschaft ausüben sollte. Dem europäischen Kontinent mit seiner Geschichte voller Konflikte um religiöse, monarchische und demokratische Herrschaft ist diese Idee sicher nicht fremd. Die EU selbst war eine Antwort darauf, wie politische Herrschaft zwischen Bürgern, Staaten und Institutionen organisiert werden kann. Heute herrscht weitestgehend das Verständnis vor, dass die Fähigkeit von Demokratien, geopolitische und technologische Veränderungen zu kontrollieren, eines breiteren und europaweiten Ansatzes der Souveränität bedarf. Egal wie groß oder reich, einzelne europäische Staaten werden weder den Klimawandel und die Transformation zur klimaneutralen Gesellschaft noch neue Technologien, die menschliche Handlungsfreiheit und demokratische Kon­trolle gefährden, wirksam allein politisch überprüfen können.



So stellt Künstliche Intelligenz die Gewissheit infrage, dass Menschen immer Teil von Entscheidungsprozessen sein müssen. Komplizierte Algorithmen, die automatisierte Systeme steuern, werden nur noch von den wenigsten Menschen verstanden, geschweige denn ihren Regierungen. Daten sind zu einer eigenen Währung geworden, und wie wir mit ihnen umgehen, wirft Fragen nach dem Schutz der Privatsphäre und bestimmten Grundfreiheiten auf. Technologie kann benutzt werden, um Informationen zu ­manipulieren. Natürlich hat technologische Innovation schon immer Misstrauen in der Politik hervorgerufen, aber heute haben globale Tech-Firmen mehr Kontrolle denn je über die freie Meinungsäußerung online und damit die Stimmungslage von Gesellschaften. Der Vormarsch sogenannter „Deep Fakes“, Kryptowährungen und Entscheidungen der Betreiber, wer soziale Plattformen nutzen darf und wer nicht, treffen genau ins Herz unserer demokratischen Gesellschaften.

Wie bei den meisten Konzepten, dürfte auch der Begriff der europäischen Souveränität nicht von allen sofort verstanden werden, wenn er nicht in konkrete politische Handlungen umgesetzt wird. In fast allen Politikfeldern gibt es Handlungsbedarf auf europäischer Ebene, um strategische Defizite auszugleichen und Abhängigkeiten abzubauen. In seiner Sorbonne-Rede wurde Macron bereits konkret: Sicherheitspolitik, Grenzen und Migration, Außenpolitik, die ökologische Transformation, digitale Technologien sowie Geld- und Wirtschaftspolitik.



Ein Programm für eine souveräne EU

Aber wie genau soll europäische Souveränität in diesen Feldern entwickelt werden? Ein roter Faden, der sich durch alle diese Politikfelder zieht, sind – erstens – Investitionen. Zur Wahrheit gehört, dass kein noch so ehrgeiziges Streben nach Souveränität dauerhaft von Erfolg gekrönt sein wird, ohne dass die notwendigen Gelder dafür bereitgestellt werden. Diese Investitionen müssen auf nationaler und auf europäischer Ebene getätigt werden und in Gesundheits- und Umweltwissenschaften, Verkehr, digitale Technologien sowie Sicherheit und Verteidigung fließen.



Was auch immer man vom EU-Wiederaufbauplan „NextGenerationEU“ halten mag, zweifellos wurde mit dem Fonds ein Tabu gebrochen und Milliarden werden in den wirtschaftlichen Wiederaufbau gesteckt. Die Aufgabe für die kommenden Jahre wird darin bestehen, die Umsetzung des Planes sicherzustellen, aber auch weiter nach vorn zu denken. Die EU-Staaten sollten ihre Gedanken bereits auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ab 2028 richten. Verhandlungen über Höhe und Verteilung des Etats dürften in den nächsten Jahren beginnen.



Zweitens bedeutet europäische Souveränität den Abbau schädlicher Abhängigkeiten. Diese könnten als diejenigen Güter definiert werden, die Europäer in Krisenzeiten benötigen: medizinische Ausrüstung beispielsweise. Dazu kann auch gehören, sicherzustellen, dass technologische Systeme frei von jeglicher industriellen oder politischen Einflussnahme operieren können, wie sich bei den Diskussionen um die Sicherheit von 5G-Netzen gezeigt hat.



Es gibt weitere Abhängigkeiten in der Energiepolitik, bei der Cybersicherheit, bei der Klimafrage und der Versorgung mit Pharma-Erzeugnissen, die angegangen werden müssen, wenn Europas Bürgerinnen und Bürger vor Versorgungseng­pässen und Manipulation geschützt werden sollen. Ein Vorteil ist, dass europäische Firmen auf diese Weise wettbewerbsfähig bleiben und Zugang zu kritischen Gütern und Ressourcen erhalten. Das allerdings setzt vorherige Investitionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten in die Diversifizierung ihrer Lieferketten, in Technologie, Bildung und Know-how voraus. Aus diesen Gründen hat die EU bereits begonnen, in strategische Schlüsseltechnologien wie KI, Quantencomputer, Wasserstoffbatte­rien und Halbleiter zu investieren.



Europäische Souveränität muss – drittens – auch Sicherheits- und Verteidigungspolitik umschließen. Der Indo-Pazifik ist in den vergangenen Jahren zu einer Region der wirtschaftlichen Chancen und sicherheitspolitischen Risiken geworden. Der verunglückte Rückzug aus Afghanistan hat Fragen nach militärischen Interventionen aufgeworfen und danach, welche Rolle das Militär bei der Lösung vertrackter politischer Krisen überhaupt spielen kann. In der engeren EU-Nachbarschaft hält die Instabilität im Mittelmeerraum an, und die Instrumentalisierung ungeordneter Migration an den Grenzen der EU braucht eine neue umfassende Strategie. Die Gefahr neuer Konflikte ist stets präsent, und strategische Rivalen wie Russland und China suchen nach Wegen, die EU zu spalten und Zwietracht zu sähen. Es ist offensichtlich, dass viele dieser sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht mit Worten und guten Absichten allein bekämpft werden können. Investitionen in den Verteidigungsbereich sind also entscheidend.



Allerdings kann solches Geld nicht effektiv wirken, wenn die EU ihr Mindset, ihren Blick auf die Welt, nicht grundlegend revidiert. Die kollektive Fähigkeit, Krisen vorauszusehen, sowie ein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen, vor denen die EU steht, sind notwendiger denn je. Wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann dass lebensverändernde Krisen beinahe über Nacht über uns hereinbrechen können. Die EU muss ihre Entscheidungsmechanismen grundlegend reformieren, um krisenhafte Entwicklungen besser beantworten zu können. Die Regierungen sollten sich schnell über die Ur­sachen der Krise verständigen und wissen, welche Werkzeuge ihnen als Antwort darauf zur Verfügung stehen – und wie diese funktionieren. Strategische Vorausschau ist wichtig, aber reicht nicht aus. Die EU braucht vielmehr einen kohärenten Plan, wie sich die Union in solch ernsten Situationen verhalten wird.



Das Konzept der europäischen Souveränität wird nicht wieder verschwinden. Natürlich können neue Ideen entstehen, die auf geringere Widerstände stoßen. „Europäische Stärke“ wäre eine Alternative. Begriffsdebatten können aber nicht kaschieren, dass die EU sich fundamentalen Fragen gegenübersieht, wie sie in einer Welt, die ihr immer öfter feindlich gesonnen ist, ihre Werte und Interessen durchsetzen kann. Konzeptionelle Debatten sind grundsätzlich wichtig in einer Demokratie. Sie helfen, neue Ideen zu verstehen und eine Sprache zu entwickeln, mit der sie sich besser diskutieren lassen. „Souveränität“, „Autonomie“ und „Macht“ werden umstrittene Termini bleiben, aber das ist in demokratischen Gesellschaften durchaus gesund.

Und doch scheint es manchmal so, als würden diese fundamentalen politischen Fragen von den konzeptionellen Debatten überlagert. Es reicht aber nicht, Souveränität in Reden herbeizuwünschen. Es braucht konkrete Projekte und ein grundlegend neues Mindset. Daher ist es deutlich konstruktiver, über die spezifischen Abhängigkeiten zu sprechen, die die EU zu reduzieren versucht, und darüber, wie Europas Bürgerinnen und Bürger demokratische Kontrolle über die Herausforderungen ausüben können, die Europa in den nächsten Jahren prägen werden.



Paradoxerweise könnte sich die Tatsache, dass es in Europa nicht die eine, zentrale Quelle aller politischer Macht gibt, als großer Vorteil erweisen. Betrachtet man die Geschwindigkeit bestimmter Entscheidungsprozesse in den USA, in China oder Russland, wirkt es häufig so, als wäre die EU ein Marathonläufer, den es an die Startlinie eines 100-Meter-Sprints verschlagen hat. Trotzdem ist Europas geteilte Souveränität ein wichtiges Plus, weil sie verschiedenste Ebenen unserer Gesellschaften zusammenbringt. Politische Antworten von oben herab treffen die Bedürfnisse und Wünsche einer Gesellschaft nur selten. Wenn europäische Souveränität Wirklichkeit werden soll, muss zuerst der Gesellschaftsvertrag zwischen Europas Regierungen, Institutionen und Bürgern grundlegend erneuert werden.     

 

Daniel Fiott ist Security and Defence Editor am EU Institute for Security Studies (EUISS). Er äußert hier seine persönliche Meinung.



Aus dem Englischen von John-William Boer



 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 18-23

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