Wanderung und Wirklichkeit

„Lass denjenigen, dessen Wappenschild nicht ein einziger Klecks Migration befleckt, den ersten Stein werfen … wenn du nicht migriert bist, dann hat es dein Vater getan, und wenn dein Vater nicht von Ort zu Ort ziehen musste, dann nur, weil dein Großvater vor ihm keine andere Wahl hatte als zu gehen, sein altes Leben hinter sich zu lassen auf der Suche nach dem Brot, das ihm sein eigenes Land verwehrte.“ (José Saramago)

Rhetorische Superlative

„Rekordwert“, „Flüchtlingswelle“, „mehr Asylzuwanderer als in ganz Italien“: Seit dem Anstieg der Zuzüge aus Südost­europa zu Beginn der 2010er Jahre und nochmals verstärkt seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 haben rhetorische Superlative Einzug in die mediale Berichterstattung zum Thema Migration gehalten. Die Wahrnehmung, dass die alt­eingesessene Bevölkerung geradezu von Neuankömmlingen überrollt wird, schlägt sich wuchtig in Schlagzeilen und Artikelüberschriften nieder.

Woher kommt diese Wahrnehmung und wie stellt sich die Sachlage in kon­kreten Zahlen dar?

Im Jahr 1969 wurden in der Metropole Ruhr zuletzt mehr Kinder geboren als Sterbefälle verzeichnet. Damit war die Region zwar früher betroffen als andere, steht aber bereits seit geraumer Zeit nicht mehr allein da. In fast allen Teilen Deutschlands hat sich in den vergangenen 30 Jahren ein negativer natürlicher Bevölkerungssaldo verstetigt.

Die Dynamik der natürlichen Bevölkerungsentwicklung ist träge; Veränderungen lassen sich erst nach vielen Jahren und oft nur in marginalem Umfang feststellen. Zu- und Fortzüge variieren im Vergleich dazu kurzfristiger; sie können sich von Jahr zu Jahr massiv ändern. Kein Wunder, dass man den Einfluss von Migration auf die Entwicklung der Einwohnerzahl seit Jahren verstärkt in den Blick nimmt.

Der Anteil des Ruhrgebiets an allen Zu- und Fortzügen nach und von Nord­rhein-Westfalen entspricht ziemlich genau dem, was man aufgrund seiner Fläche und Einwohnerzahl vermuten würde: Rund ein Vier­tel aller Zu- und Fort­züge über die Grenzen nordrhein-westfä­lischer Kommunen in den Jahren 2018 bis 2020 entfielen auf das Ruhrgebiet. Die Einwohnerzahl der elf kreisfreien Städte und vier Kreise wuchs in diesem Zeitraum durch Wanderungsgewinne theoretisch um rund 36 900 Menschen an – theoretisch deshalb, weil im selben Zeitraum die Zahl der Sterbefälle die der Lebendgeborenen deutlich überwog und für einen Rückgang der Einwohnerzahl um fast 53 300 Menschen sorgte. Die Wanderungsgewinne glichen diesen Verlust bei Weitem nicht aus. Infolgedessen sank die Einwohnerzahl der Metropole Ruhr seit dem 31.12.2017 um rund 11 000 auf derzeit 5 102 484 Menschen.

Zwar stand die Wanderungsbilanz des Berichtsjahrs 2020 im Zeichen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie: Das Wanderungsvolumen ging vor allem bei Zu- und Fortzügen über die Bundesgrenze deutlich zurück. Doch auch wenn man 2020 als Ausnahmejahr in Rechnung stellt, bestätigt die Entwicklung der vergangenen vier Jahre insgesamt eine bereits seit vielen Jahren deutliche Tendenz zur Schrumpfung der Region.

Zwar rückten der verstärkte Zuzug aus Südosteuropa zu Beginn des Jahrzehnts sowie von Geflüchteten ab Herbst 2015 das Thema Zuwanderung medial stark in den Fokus, insgesamt wurde dadurch aber keine nachhaltige Trendumkehr bewirkt. Dem Anstieg der Einwohnerzahl von 2014 bis 2016 gingen viele Jahre konstanter Schrumpfung voraus. Seit 2017 ist die Einwohnerbilanz des Ruhrgebiets wieder negativ – trotz kurzfristiger Schwankungen zum Ende des Jahrzehnts leben weniger Menschen in der Metropole Ruhr als zu seinem Beginn.

Dass in Nordrhein-Westfalen zeitweise mehr Asylsuchende lebten als in ganz Italien, entspricht durchaus den ­Tatsachen: 433 236 Menschen waren es laut den Antworten der Bundesregierung auf eine ­Anfrage der Partei „Die Linke“ im Jahr 2018.

Nordrhein-Westfalen hatte zum 31.12.2018 rund 17 932 700 Einwohner – die Zahl der Asylsuchenden machte somit zum Jahresende 2018 rein rechnerisch einen Anteil von rund 2,4 Prozent der Ge­samteinwohnerzahl aus. Aber: Genügt dieser Wert, um von Rekorden und Wellen zu sprechen? Oder, wie FOCUS Online anlässlich der sogenannten Flüchtlingskrise titelte, von „einknickenden Städten“?

Tatsächlich entwickelte sich der Wanderungssaldo dynamischer als die Zahl der Geburten und Sterbefälle, und sein Einfluss auf die Veränderung der Gesamt­einwohnerzahl sticht dadurch stärker ins Auge. Dennoch ist er unterm Strich nicht so gravierend, wie anhand der Zuwanderungsdiskussion der vergangenen Jahre angenommen werden könnte.

Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, wurden für das Ruhrgebiet rund 323 100 Zuzüge und rund 250 200 Fortzüge über die Gemeindegrenzen registriert. Dies entspricht einem Zugewinn an Einwohnern durch Zuwanderung in Höhe von rund 73 000 bzw. rund 1,4 Prozent der Einwohnerzahl des Vorjahrs 2014. Der Einwohnerverlust durch das Geburtendefizit belief sich im Jahr 2015 im Übrigen auf rund 21 000 Personen; insgesamt stieg die Bevölkerungszahl der Metropole Ruhr damit von 2014 auf 2015 um rund 1 Prozent.

„Melting pot“ Ruhrgebiet

Dass die Wanderungsbewegungen trotz ihres marginalen Einflusses auf die Ge­samt-Einwohnerzahl in der Wahrnehmung bedeutsamer erscheinen, könnte auf die besondere Struktur der Zu- und Fortzüge in die und aus der Region zurückzuführen sein. Die Ruhrgebietskommunen verlieren Einwohner an die anderen Bundesländer und gewinnen Einwohner aus dem Ausland.

Im Zeitraum von 2018 bis 2020 verlor die Region insgesamt etwas über 10 400 Einwohner durch innerdeutsche Fort­züge, davon fast 9000 in das übrige Nord­rhein-Westfalen. Die zweithöchste negative Wanderungsbilanz entstand im Verhältnis zu Niedersachsen (–3500), darauf folgten Hamburg und Schleswig-Holstein mit je rund –1200.

Zu etwas weniger als der Hälfte fußen die Wanderungsgewinne aus dem Ausland auf einer positiven Wanderungsbilanz mit asiatischen Staaten. Die Mehrheit der Wanderungsgewinne ist dabei auf Zuzüge aus nur wenigen Herkunftsstaaten zurückzuführen. So stammten in den Jahren 2017 bis 2019 mehr als 50 Prozent der Zugezogenen aus nur fünf Herkunftsstaaten; die Gruppe der Zuwanderer ist in der Metropole Ruhr somit homogener als in anderen Ballungsräumen.

Natürlich ist Zuwanderung aus dem Ausland in der Me­tropole Ruhr kein ganz neues Thema: Sie hat die Region von Beginn der Industrialisierung an geprägt, zunächst vor allem durch den Zuzug von Arbeitskräften aus den damaligen deutschen Ostprovinzen. Seither bildeten immer wieder wechselnde Bevölkerungsgruppen den Hauptanteil der Zuwandernden: In den ersten Nachkriegsjahren war das Ruhrgebiet zunächst Ziel der aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie Vertriebenen, bis zum Bau der Mauer gefolgt von Flüchtlingen aus der DDR. Etwas später war das Ruhrgebiet mit seinem großen Arbeitsplatzangebot eines der Hauptziele für die sogenannten Gastarbeiter, die unter anderem im Rahmen der Anwerbeabkommen mit Staaten wie Italien, Spanien und der Türkei ab Mitte der 1950er Jahre zuzogen.

Die Jungen kommen, die Alten gehen

Das Ruhrgebiet gewinnt vor allem an jungen Menschen. In den Jahren 2018 bis 2020 betrug der Einwohnerzuwachs durch Wanderungsbewegungen in der Altersgruppe unter 18 Jahren etwas mehr als 21 500 Personen, in der Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen rund 15 800 Personen. Im selben Zeitraum verlor die Region rund 4600 Einwohner der Altersgruppe „50 bis unter 65 Jahre“ und rund 7700 Einwohner im Alter von 65 Jahren und mehr durch ­Abwanderung.

In allen Altersgruppen mit positiver Wanderungsbilanz fußen die Wanderungsgewinne auf dem Zuzug Nicht­deutscher. Die Statistik erfasst allerdings nicht das ursprüngliche Herkunftsland, sondern differenziert nur danach, ob die im Ausweisdokument eingetragene Staats­angehörigkeit „deutsch“ ist oder eine andere.

Die Einwohnerverluste durch Wanderung, die im Zeitraum 2018 bis 2020 durch den Überschuss an Fortzügen deutscher Staatsangehöriger zu verzeichnen waren, wurden in fast allen Altersgruppen durch positive Wanderungssalden bei der nichtdeutschen Bevölkerung aufgefangen. Lediglich in der Altersgruppe „65 Jahre und älter“ verliert die Metropole Ruhr sowohl an deutschen als auch an nichtdeutschen Einwohnern. Ohne die positive Wanderungsbilanz bei den Nichtdeutschen wäre die Bilanz in allen Altersgruppen negativ; der Einwohnerrückgang im Ruhrgebiet würde sich drastisch beschleunigen.

Im Westen nichts Neues

Wie in vielen Teilen Deutschlands findet Bevölkerungsbewegung im Ruhrgebiet hauptsächlich durch Zu- und Abwanderung statt. Ihre tatsächliche quantitative Bedeutung in Bezug auf die Ausgangsbe­völkerung wird jedoch vielfach überschätzt – oder übertrieben dargestellt. Das Gros der Wanderungsgewinne entfällt auf ausländische Staatsbürger.

Im Umgang mit den unterschiedlichsten Kulturen ist die Metropole Ruhr bereits bestens bewandert. Die Region hat eine lange Geschichte als multikulturelle Einwanderungsregion, ist heute Heimat für eine Vielfalt migrantischer Communities und bleibt nach wie vor attraktiv für nichtdeutsche Zuwanderer.

82,4 Millionen Menschen oder etwas mehr als 1 Prozent der Weltbevölkerung waren Ende 2020 weltweit auf der Flucht, doppelt so viele wie noch 2010. Bedingt durch die Covid-19-Pandemie lag die Zahl der Asylanträge zwar unter den Vorausberechnungen, dennoch ist auch in Zukunft aufgrund von Konflikten, Kriegen und schwierigerer Versorgungssituationen durch veränderte klimatische Gegebenheiten mit wachsenden globalen Wanderungsbewegungen zu rechnen.

Während die verstärkte Zuwanderung ausländischer Staatsbürger für viele andere deutsche Regionen ein Novum ist, war das Ruhrgebiet von jeher Anziehungspunkt für unterschiedliche Nationalitäten und Ethnien. Das Zusammenleben vieler Kulturen ist hier kein Ausnahmezustand, sondern Alltag und damit ein wertvoller Erfahrungsschatz im Hinblick auf weiter steigende Zahlen Schutzsuchender.

Ann-Kristin Marx arbeitet im Team Regionale Statistik und Umfragen des Regionalverbandes Ruhr in Essen zu den Schwerpunkten Demografie und Wohnungsmarkt.