IP Special

29. Apr. 2024

Wahlverwandtschaft in Gefahr

Im Juni wird in Europa gewählt, im November 
in Amerika. In Brüssel wäre man gut beraten, sehr genau nach Washington zu schauen und Alternativ­pläne für den Fall zu machen, dass dort jemand gewinnt, der keine Verwandten kennt.

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Bild: Viktor Orbán und Donald Trump
Europa spalten: Mit Viktor Orbán (li.) hat Donald Trump schon seit Längerem einen Verbündeten in der EU. Nach Trumps Amtsübernahme Anfang 2025 sollen neue Alliierte auf dem Alten Kontinent hinzukommen.
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Sie wollen nicht hören, die Amerikaner – jedenfalls nicht die Republikaner. Seit Anfang des Jahres pilgern nervöse europäische Regierungs-Reisegruppen nach Washington. Doch weder die Leistungen der „europäischen Säule“ der NATO, die Generalsekretär Jens Stoltenberg im Januar mit Hinweis auf die Erweiterung um Finnland und Schweden vor der konservativen Denkfabrik ­Heritage Foundatioon pries, noch Plädoyers des deutschen Bundeskanzlers beim Botschaftsabendessen scheinen zu wirken. Lediglich drei Republikaner wollten im Februar die Vorsitzenden der Auswärtigen Ausschüsse der Parlamente der nordischen Länder treffen – auch wenn die Botschaft des litauischen Repräsentanten deutlicher nicht hätte sein können: „Wenn ihr kein zweites Pearl Harbor wollt, dann müsst ihr uns zuhören.“ 

Warum, fragte sich unlängst auf der Münchner Sicherheitskonferenz J.D. Vance, sollten die amerikanischen Steuerzahler weiter für die Versäumnisse der Europäer einspringen? Und in der Financial Times legte der Senator aus Ohio nach: Nicht die Amerikaner sollten sich schämen, wie der polnische Ministerpräsident Donald Tusk auf Twitter/X geschrieben hatte, die Europäer sollten das tun. Auch der Schachzug des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, sich beim USA-Besuch im Trump-kritischen Wall Street Journal direkt an die republikanischen Wähler zu wenden, sollte sich nicht auszahlen: 48 Prozent der Republikaner und immer mehr Unabhängige, die im November wahlentscheidend sein werden, empfinden die US-Ukraine-Hilfe als zu hoch oder, mehr noch, als ungleiche „Steuer“ für Amerikaner – Tendenz steigend.

Im Februar befürworteten nur noch 22 Republikaner im Senat ein Hilfspaket für die Ukraine, Israel und Taiwan – sie wurden prompt in der Presse als „Abweichler“ bezeichnet. Kaum noch einer, der sich traut, mit dem Mann zu brechen, der in Richtung Russland rief: „Macht mit ihnen, was ihr wollt“, wenn Putin einen „säumigen“ NATO-Staat angreifen würde: Donald Trump. Wenn doch noch im Frühjahr amerikanische Hilfe vom US-Kongress kommen sollte, dann würde es diese Mittel nur noch „as long as we can“ geben, also auf beschränkte Zeit – egal, wer ab Januar 2025 im Weißen Haus sitzt. Denn auch bei einer Wiederwahl Joe Bidens werden weder im Kongress noch im Senat große Mehrheiten für die jeweiligen Parteien herauskommen – und die Unterstützung der Ukraine durch amerikanische Wähler scheint ohnehin zu schwinden. 


Alles muss auf den Tisch

Wenn an der Front mit Russland auf ukrainischer Seite bis spätestens Ende 2024 doch noch ein Durchbruch gelingen soll, dann müssen nun die Europäer dafür einstehen. Über die „Kriegstüchtigkeit“ hinaus müssen sie anfangen, auf ihre Version einer Kriegswirtschaft umzustellen. Russland hat genau das getan und nicht zuletzt durch Sanktionsflucht ein Wirtschaftswachstum von über 3 Prozent erreicht. Auch in den Prognosen für 2024 steht Russland stabil da, während für Deutschland ein Wachstum von 0,2 Prozent vorhergesagt wird. In einem europäischen Wahljahr bedarf es daher einer neuen Ehrlichkeit – und schwieriger Entscheidungen, um den europäischen Wirtschafts- und Verteidigungsraum resilient zu machen. 

Es ist an der Zeit, dass ­Europa damit beginnt, auf seine Version einer Kriegswirtschaft umzustellen 

Über die Flexibilität öffentlicher Gelder muss neu nachgedacht werden: Gemeinsame Schulden, Steuererhöhungen, Ausgabenlimitierungen, gesteigerte Innovationsausgaben – alles muss auf den Tisch. Schon aus wohlverstandenem Eigen­interesse müssen sich die Europäer auf zwei geoökonomische und geopolitische Unsicherheitspole auf einmal einrichten. Auf der einen Seite die „autoritären Koalitionäre“ Russland, China, Nordkorea und Iran, die gemeinsam die Konflikte in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan und anderswo in Afrika weiter aufheizen. Und auf der anderen Seite eine volatile Macht Amerika, deren demokratische Festigkeit im November auf dem Spiel steht. 

Wenn EU und europäische NATO-Partner nun nicht abgestimmt und mit neuer finanzieller, institutioneller und diplomatischer Energie handeln, dann könnte die EU zu einem immer irrelevanteren Binnenmarkt werden, während die NATO von Trump in den Schlafmodus geschickt wird. 


„Literally – but not seriously“

In der ersten Amtszeit Donald Trumps ging die Empfehlung an die Europäer, sie sollten ihn wörtlich, aber nicht ernst nehmen („take him literally, but not seriously“). Das schien sich auch größtenteils zu bewahrheiten: Aus dem angedrohten Truppenabzug aus Europa wurde nichts, der angedachte NATO-Austritt wurde von einer neuen Kongressregel mit Zweidrittel-Mehrheitsauflage blockiert, und die EU machte im Handelskrieg genauso ernst wie die Amerikaner – Wert und Arbeitsplätze wurden auf beiden Seiten zerstört. Initiativen wie das US-Militärprogramm European Deterrence Initiative (2014) oder das Sanktionsinstrument CAATSA (2017), die beide nach dem russischen Angriff zum Einsatz kamen, wurden unter Trump sogar noch ausgebaut.

Während Trumps Präsidentschaft ging es Europa darum, die Washingtoner Irrationalitäten in ihrer Wirkung einzuhegen und Attacken in der Handels- und Sicherheitspolitik so gut wie möglich sofort zu erwidern. Ermüdet von Pandemiemanagement, Wirtschaftsrettung, steigender Inflation und später Krieg und Energiekrise blieb wenig Zeit oder Energie, sich strukturell und realpolitisch neu zu positionieren. Dazu kam eine wachsende Angst vor den Wählern, denen man nicht zutraute, mit der Komplexität der Krisen klarzukommen; implizit nahm man so eine Stärkung populistischer Parteien in Kauf. 

Als dann mit Joe Biden ein trotz aller Meinungsverschiedenheiten – Stichwort Afghanistan – deutlich umgänglicherer Präsident ins Weiße Haus einzog, waren die Europäer bereits zermürbt vom Dauerclinch mit der Trump-Regierung und erschöpft von den Auswirkungen der Polykrise. Es wurden neue Strategien entworfen – zu China, zur Wirtschaftssicherheit, zur europäischen Verteidigungsindus­trie – und große Gesetzespakete zur Technologieregulierung und zur industriellen und „grünen“ Transformation geschnürt; aber all das steht noch am Anfang seiner Umsetzung. Werden diese Instrumente ausreichen, um eine entfesselte amerikanische Exekutive in Schach zu halten.


Revolution mit Ansage

Sein erratisches Verhalten machte Trump in seiner ersten Amtszeit schwer berechenbar. Nun soll sich das mit Hilfe eines groß angelegten strategischen Planes ändern. Wie damals für Ronald Reagan hat es sich eine konservative Koalition um die Heritage Foundation zum Ziel gesetzt, die institutionellen Weichenstellungen und die politische Stoßrichtung einer „neuen konservativen Bewegung“ zu formulieren und die Umsetzung dieses Vorhabens finanziell und strukturell abzusichern: eine Revolution mit Ansage. Europäer sollten diese strategischen Aussagen so wörtlich wie ernst nehmen – es nicht zu tun, wäre grob fahrlässig. 

Wurde Trump in seiner ersten Amtszeit von Beratern, Kongress und Beamtenstab in seinen schlimmsten Impulsen ausgebremst, so setzt das „Manifest for Leader­ship“ in allen Kapiteln hier an: Berater und Beamtenapparat sollen schnell auf ideologische Linie gebracht und letzterer gar entkernt werden. 54 000 bereits ausgewählte „Loyalisten“ sollen schnellstmöglich an die Schaltstellen einer neuen Regierung gebracht werden, Botschafter hauptsächlich „politisch“ sein, und sowohl das Außen- als auch das Entwicklungshilfeministerium sollen strukturell stark beschnitten werden. Der „institutionalisierte Trumpismus“ werde natürlich „Jobs kosten“, so Kevin Roberts, Chef der Heritage Foundation in der New York Times, und setzt zynisch nach: „Hoffentlich können ihre Karrieren anderswo aufblühen.“ 

54­ 000 Loyalisten sollen  an die Schaltstellen der neuen Regierung Trump gebracht werden

Allein diese antidemokratischen Strategien sollten Europäern klar machen, dass man mit dem „Dealmaker“ Trump nicht mehr so wird verfahren können wie 2017 ff. Damals sorgten die unterschiedlichen Ansätze, sich mit Trump zu arrangieren, für erhebliche Zerwürfnisse in der EU, was der Trump-Regierung bei ihren Versuchen, die Europäer gegeneinander auszuspielen, sehr in die Karten spielte. Nun soll das Strategie werden: Auf Seite 188 des Manifests wird empfohlen, „neue Alliierte innerhalb der EU zu identifizieren, mit besonderem Blick auf Osteuropa“. 


Kreative Diplomatie

Wie sollten Europäer also die Kernaus­sagen des Manifests interpretieren? Wie sollten sie sich in den bis zur Wahl verbleibenden Monaten vorbereiten? Die Antwort: vergemeinschaften, multilateralisieren und durch kreative Diplomatie die Errungenschaften der transatlantischen Allianz diversifizieren. 

Trump hat vor, die Europäer zu spalten, die Geheimdienste als „Informationswaffe“ einzusetzen, Sanktionspolitik zu verändern, die NATO faktisch stillzulegen. Auf all diese Punkte hätte es seitens der Europäer auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar Antworten geben können, die auch bereits getroffene Entscheidungen noch einmal ins Scheinwerferlicht gestellt hätten – etwa die neue Rahmenvertragsstruktur zum gemeinsamen Aufkauf von Munition seitens einiger europäischer NATO-Staaten. 

Man stelle sich eine gemeinsame Ankündigung des finanziellen und funktionalen Ausbaus der arg gebeutelten Europäischen Friedensfazilität vor – Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Donald Tusk, Kaja Kallas und Alexander Stubb gemeinsam auf einer Bühne. Oder die Präsentation des Rahmens für ein neues Sanktionspaket gegen inländische und ausländische Unternehmen und Einzelpersonen – mit Verweis auf Beispiele für effiziente europäische Strafverfolgung.

Auch hätte man die verbesserte Verteidigungskooperation und einen engeren geheimdienstlichen Austausch mit Ländern des „erweiterten Westens“ wie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland verkünden können. Dass die gemeinsame „europäische Verteidigungsindustriestrategie“ nicht rechtzeitig zur MSC fertig wurde und ihr Veröffentlichungsdatum vom Februar in den März verschoben werden musste, spricht Bände. Verpasste Chancen der diplomatischen Signalsetzung – und der faktischen Konsolidierung. 

Doch es gibt auch gute Nachrichten für Europäer aus dem Manifest: Donald Trump will die Arktis stärker gegen russische und chinesische Interessen absichern – das will seit Jahren die gesamte NATO. Und: Der „Build Back Better World“-Plan zur Verdrängung der chinesischen Seidenstraße soll vorangetrieben werden. Neue Chancen für die „Global Gateway“-Konnektivitätsinitiative der EU und für Europas Verhältnis zum Globalen Süden unter transatlantischen Vorzeichen? 


Energie, Handel, Klima: raue Zeiten 

In anderen Bereichen wird es deutlich schwieriger werden, den möglichen Plänen einer Trump-II-Regierung Handlungsoptionen mit schneller Wirksamkeit entgegenzustellen. Zu stark sind die Interdependenzen gerade infolge der Ukraine-Krise – und umso härter wurde schon mit der Biden-Regierung gerungen. Energie, Handel, Austritt aus internationalen Organisationen – alles soll im Sinne einer Vergeltung zum Einsatz kommen. Es entstehen „Kriegsräte“ zwischen Handels- und Energieministerium und Pentagon. 

Rache an China, an Europa, am internationalen System will Trump mithilfe seiner Energie- und Handelspolitik üben; moderate Stimmen wird er ignorieren. Mit China, so das Manifest, lohne es sich sowieso nicht zu verhandeln. Eine weitere Abkehr von der Biden-Politik – und Gift für die De-Risking-Vorhaben der Europäischen Union. 


Den Ernstfall vorbereiten

Neben einer Stärkung des Binnenmarkts sollte die EU angesichts möglicher Strafzölle bereits jetzt Branchen und Produkte identifizieren, die auf neue Zölle antworten können, um Schaden von der eigenen Wirtschaft abzuwenden. Apropos Schaden: Experten schätzen schon jetzt, dass die protektionistische Haltung Trumps über 500 000 amerikanische Arbeitsplätze kosten wird.

Ganz in die Hand Chinas spielt das Manifest mit dem geplanten Ausstieg der Vereinigten Staaten aus Weltbank, Internationalem Währungsfonds, OECD und einem möglichen Verlassen der Welthandelsorganisation. Schon in Davos kündigte der chinesische Premier Li Qiang das Ende des westlich geführten Multilateralismus an und bot die bereits existierenden 22 chinesisch geführten Institutionen als Ersatz. 

Die EU-Mitgliedstaaten sollten schon einmal am Reißbrett planen, wie sie trotz leerer Haushaltskassen nachhaltig in westlich geführten Multilateralismus investieren können – mit einer einfachen „Allianz für Multilateralismus“ wird es diesmal nicht getan sein. 

Über die gesamte jüngere Menschheitsgeschichte ist die Demokratie als Staatsform eine Ausnahmeerscheinung, Autokratien bleiben die Norm. Wenn das längste Friedensprojekt der Welt, die Europäische Union, Bestand haben soll, muss sie angesichts der antidemokratischen Verschiebungen wachsam bleiben und gut (zu-)hören, insbesondere in der ältesten verfassungsbasierten Demokratie der Welt – oder sie wird fühlen müssen.    

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 36-40

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Mehr von den Autoren

Cathryn Clüver Ashbrook  ist Senior Advisor im Programm Europas Zukunft bei der Bertelsmann Stiftung.