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01. Dez. 2009

Wächter in Ketten

Der IWF kann künftige Finanzkrisen nur verhindern, wenn er gestärkt wird

Im weltweiten Kampf gegen die Folgen der Finanzkrise richten sich die Blicke zunehmend auf den IWF: Kann er die Weltwirtschaft retten? Warum konnte er die Krise nicht verhindern? Und: Wie müsste er reformiert werden, damit sich so ein Zusammenbruch nicht wiederholt? Die Antworten müssen die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit überbrücken.

In einer idealen Welt

Im Idealfall eines reibungslos funktionierenden Währungs- und Finanzsystems, in dem Spannungen frühzeitig erkannt und korrigiert werden, ist die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) einfach zu erklären: Er ist die prädestinierte Institution für internationale währungs- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit. Er verfügt über eine nahezu universelle Mitgliedschaft, verbindliche Regelungen zur Kooperation und volle Legitimität nach internationalem und national anerkanntem Recht. Der Mitarbeiterstab ist exzellent, seine Arbeit von hoher Qualität und wirtschaftspolitischer Relevanz. Der Stab analysiert fortlaufend internationale wirtschaftliche Zusammenhänge, erstellt regelmäßige Berichte zur globalen Finanzstabilität und hat bereits das Finanzsystem vieler Länder eingehend untersucht. Sobald in einem oder mehreren Mitgliedsländern ein wirtschaftliches Problem erkennbar wird, soll der IWF-Stab warnen. Das Direktorium kann Empfehlungen aussprechen und die Wirtschaftspolitik in den betroffenen Ländern sich ändern. Warum konnte dann aber der IWF die Finanzkrise nicht verhindern, und warum stand er nach ihrem Ausbruch nicht gleich im Mittelpunkt der Versuche ihrer Bewältigung?

In einer realen Welt

Auf dem Boden der Wirklichkeit erleben wir die tatsächliche Rolle des IWF im internationalen Währungs- und Finanzsystem allerdings anders als oben beschrieben. Die wichtigste Einschränkung ist: Der IWF ist keine unabhängige Institution. Er kann nur das tun, was ihn die Mitgliedsländer machen lassen. Sie treffen faktisch die Entscheidungen, denn das Direktorium wird von Ländervertretern besetzt, die miteinander verhandeln und dann gemeinsam beschließen. Der IWF kann nur unmittelbar die Wirtschaftspolitik eines Landes beeinflussen, wenn er mit wirtschaftspolitischen Auflagen verbundene Finanzhilfen bereitstellt. Die Industriestaaten und großen Schwellenländer sind aber allesamt nicht mehr auf den IWF angewiesen. Für sie ist die Beobachtung durch den IWF im Wesentlichen ein mehr oder minder offener Dialog, der nicht unbedingt oder nur sehr selten zu einer Änderung ihrer Politik führt. Dies gilt auch für das größte Mitgliedsland USA, dessen Stimmenanteil am IWF fast dreimal so groß ist wie der des zweitgrößten Landes Japan. Die USA sind das einzige große Industrieland, das sich noch keiner systematischen Untersuchung seines Finanzsystems unterzogen hat, und als einziges Mitglied haben sie aufgrund ihres hohen Stimmenanteils ein Vetorecht bei Grundsatzentscheidungen. Aus internationaler Perspektive auf nationale Wirtschaftspolitik einzuwirken ist zudem problematisch, weil diese einer nationalen Rechenschaftspflicht unterliegt. Die zentrale Frage ist, wie national ausgerichtete Wirtschaftspolitik sich im Hinblick auf internationale Auswirkungen verantwortungsvoll gestalten und im internationalen Währungs- und Finanzsystem in Einklang bringen lässt.

Der IWF hatte durchaus vor einer Krise gewarnt. Er hatte darauf hingewiesen, dass die „globalen Ungleichgewichte“ mit einem extremen amerikanischen Handelsbilanzdefizit sowie rasch ansteigenden Überschüssen in China und anderen Schwellenländern beträchtliche Risiken für die globalen Handels- und Kapitalströme bedeuten. In seinen Berichten zur Finanzstabilität hatte er zudem gewarnt, dass die Finanzmärkte in den letzten Jahren Risiken extrem gering beurteilt hatten und sich diese Einschätzung eines Tages plötzlich umkehren könnte. Es gab allerdings im IWF auch Gegenstimmen, vielfach von hochrangigen Ökonomen. Sie argumentierten, die Ungleichgewichte seien eine natürliche Begleiterscheinung der globalen Integration, und mit dem wachsenden Finanzsektor weltweit sei es zunehmend leichter, massive internationale Vermögens- beziehungsweise Verschuldungspositionen zu tragen. Und überhaupt: Die letzten Jahre waren geradezu eine goldene Epoche weltweit dynamischen Wirtschaftswachstums. In einer solchen Phase nun zu bremsen und auf eine Umkehr des nationalen und internationalen Finanzgebarens zu drängen, sei nicht einfach.

Viele Beobachter halten den Mitarbeiterstab mit ihrem Geschäftsführenden Direktor für „den IWF“. Die eigentliche Institution ist jedoch das Direktorium. Dort findet der Abschluss der Konsultationen, zu denen die IWF-Mitgliedsländer jährlich zur Überprüfung ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik verpflichtet sind, statt. Das Direktorium besteht aus 24 Mitgliedern, von denen acht einzelne Länder vertreten und 16 Ländergruppen. Die acht Länder sind in der Reihenfolge ihres Stimmengewichts: USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China, Saudi-Arabien und Russland. Die restlichen der 185 Mitgliedsstaaten müssen sich die verbleibenden 16 Sitze teilen. Das Direktorium arbeitet nahezu permanent. Es gibt pro Jahr über 200 Sitzungen, in denen sich das Direktorium mit jedem Land mindestens einmal pro Jahr befasst. Dies nimmt aber nur rund die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch; im Übrigen bestimmt das Direktorium die allgemeine Politik des IWF, befasst sich mit den existierenden Finanzprogrammen, mit Statistik, Berichtswesen, rechtlichen Fragen in Bezug auf die Mitgliedschaft und berät über internationale Wirtschafts- und Währungsfragen.

Das interne, aber unabhängige Evaluierungsbüro des IWF hat in diesem Jahr einen Bericht zur internen Governance vorgelegt. Die Ergebnisse sind deutlich: 53 Prozent der Direktoren halten das Direktorium für zu groß, 74 Prozent meinen, die Abschlussempfehlungen seien „oft vage und/oder widersprüchlich“, und 80 Prozent der Direktoren sind der Auffassung, dass sie „keinen oder nur bescheidenen Einfluss“ in der Überwachung der Länder und der globalen wirtschaftlichen Lage haben.

Ein Problem, welches das Direktorium seit langem plagt, ist die Stimmenverteilung unter den Mitgliedsländern. In einer dynamischen Weltwirtschaft verschiebt sich die relative Bedeutung der einzelnen Volkswirtschaften. Dies gilt insbesondere für die aufstrebenden Schwellenländer, deren wirtschaftliches Gewicht in den vergangenen zwei Dekaden stark zugenommen hat. Trotz verschiedener Anpassungen, die zumeist nur graduell erfolgen, besteht für viele Länder eine Lücke zwischen berechnetem und tatsächlichem Anteil am IWF. Zurzeit hat Schweden einen höheren Anteil als Korea, Belgien einen höheren Anteil als Brasilien, zusammen mit den Niederlanden sogar einen höheren Anteil als China.

Ein weiteres Thema ist die Rolle Europas: Von den 24 Direktorenposten sind – je nach Vorsitz – acht bis zehn von Europäern besetzt. Damit sehen sich die Vertreter der übrigen rund 160 Länder einer Phalanx der Europäer gegenüber, die aus ihrer Sicht zusammenrücken sollten, da sie über die Europäische Union sowie den Euro auch in wirtschafts- und währungspolitischer Sicht verbunden sind. Allerdings ist eine Veränderung hier nicht einfach, denn der IWF bleibt eine Institution, deren Mitgliedschaft auf Länder beschränkt ist und nicht auf Wirtschaftsräume und Regionen. Die EU ist demnach kein Mitglied des IWF. Und auch die Europäische Zentralbank hat zwar einen ständigen Vertreter im IWF, aber nur mit Beobachterstatus und ohne Sitz im Direktorium.

Der Ruf nach dem IWF als Retter aus der Finanzkrise wirft zudem ein Ressourcenproblem auf: Der Internationale Währungsfonds verfügt über liquide Mittel von rund 200 Milliarden Dollar. Dazu könnten noch rund 50 Milliarden Dollar über spezielle Kreditlinien des IWF mit mehreren Ländern aktiviert werden. Eine Gegenüberstellung mit den Summen der so genannten Rettungspakete Deutschlands (rund 500 Milliarden Euro), der USA (700 Milliarden Dollar) oder auch Schwedens (190 Milliarden Euro), Koreas (130 Milliarden Dollar; sämtliche Angaben Stand Anfang November 2008) zeigt die Begrenztheit seiner finanziellen Mittel, auch wenn in den nationalen Hilfen Eigenkapitalzuschüsse und Garantien gemischt sind. Es wird gerade debattiert, die Mittel des IWF aufzustocken.

Fortschritte in drei Richtungen

Die Kluft zwischen Ideal – definiert als ein internationales Währungs- und Finanzsystem, das Spannungen frühzeitig erkennt und korrigiert – und Wirklichkeit ist beträchtlich. In einer solchen Lage das Ideal aufzugeben, würde bedeuten, die internationale Kooperation zu schwächen. Zudem würde das Risiko steigen, sich verstärkt auf nationale Interessen auszurichten und den politischen Druck für mehr Protektionismus zu erhöhen. Eine solche Stoßrichtung wäre weder kurz- noch langfristig wünschenswert, denn bei allen Problemen bringt die internationale Arbeitsteilung Fortschritte in Wohlstand und Wohlfahrt, die sonst nicht erreichbar wären.

Wie also kann das internationale Währungs- und Finanzsystem gefestigt werden und mit ihm die Rolle internationaler Organisationen, die versuchen, einen Ausgleich zwischen nationaler oder regionaler Politik und globaler Verflechtung zu finden? Dabei sind drei zentrale Fragen zu beantworten:

1. Wie kann für systemisch wichtige Volkswirtschaften eine Wachstumspolitik erreicht werden, die keine massiven internationalen Risiken für andere Teile der Weltwirtschaft mit sich bringt? Hier geht es darum, wie Wirtschaftspolitik mittelfristig auf Stabilität ausgerichtet werden kann, wie notwendige Anpassungen an interne und externe Ungleichgewichte frühzeitiger vorgenommen werden können und wie Wechselkursbindungen ohne große Beeinflussung internationaler Kapitalströme erreicht werden können.

2. Wie kann das internationale Finanzsystem einer besseren Regelung und Aufsicht unterworfen werden, ohne damit seine Effizienz oder internationale Integration abzubremsen? Im Mittelpunkt sollten dabei Anreize für ein besseres Risikomanagement im Finanzsektor stehen, eine umfassende Aufsicht auch über bislang schwach regulierte Akteure und eine international besser aufeinander abgestimmte Finanzaufsicht.

3. Wie sollte die internationale Zusammenarbeit im Währungsfonds verstärkt werden? Vor allem muss es dem IWF gelingen, sich mit seinen wirtschaftspolitischen Empfehlungen auch bei den großen Mitgliedern durchzusetzen und die Schwellenländer im Entscheidungsprozess angemessen einzubeziehen.

Bei der Umsetzung aller Punkte wird man auf große Widerstände stoßen. Aber die vielen Gipfeltreffen auf europäischer und internationaler Ebene unterstreichen die Entschlossenheit. Es bleibt zu hoffen, dass diese Dynamik auch in der Phase der Umsetzung bestehen bleibt. Die aktuelle Krise verlangt nach Fortschritten in allen drei Richtungen.

Dr. CHRISTIAN THIMANN ist Leiter der Abteilung für int. wirtschaftspolitische Analysen in der Europäischen Zentralbank. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 56 - 61

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