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01. Nov. 2012

Vorbild oder Vorprescher?

Peter Altmaier und Günther Oettinger über Europas Energiewende

Die EU will ihr Versorgungsnetz modernisieren, eine integrierte Energieinfrastruktur schaffen und den Sprung ins Zeitalter der Erneuerbaren wagen. Ist Europa auf Kurs? Wie kann es gelingen, 27 Energiewenden miteinander zu vereinbaren? Und was ist Deutschlands Rolle? Drei Fragen an Bundesumweltminister Peter Altmaier und EU-Energiekommissar Günther Oettinger.

IP: Herr Altmaier, Herr Oettinger, ist Deutschland mit seiner Energiewende zum Vorreiter auf dem Weg ins Zeitalter Erneuerbarer Energien geworden oder zum „bösen Buben“, der ohne Rücksprache mit seinen europäischen Partnern vorprescht?

Peter Altmaier: Deutschland ist ein Vorreiter auf dem Weg in die künftige Wettbewerbsfähigkeit großer Volkswirtschaften. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Wir sind das Labor für die grüne industrielle Revolution. Wir stellen unsere Energieversorgung auf sauberen Strom aus erneuerbaren Quellen und auf Energieeffizienz um. Das macht uns von Energieimporten unabhängiger und vermeidet die enormen Kosten für die Behebung von Klimaschäden. Und das Gelingen der Energiewende wird darüber entscheiden, ob unsere Volkswirtschaft in der Zukunft wettbewerbsfähig bleibt. 2050 wollen wir für eine Einheit unseres Bruttoinlandsprodukts nur noch halb so viel Energie benötigen wie heute. Wenn ich mir anschaue, dass sich die Kosten der Photovoltaik in den vergangenen Jahren mehr als halbiert haben, dann bin ich optimistisch, dass sich dieser Weg mittel- bis langfristig auszahlen wird. Meine internationalen Partner sagen mir, dass sie sehr genau auf uns schauen. Klappt das in Deutschland, werden sie schon sehr bald nachziehen, um den technologischen Anschluss nicht zu verlieren. Ich glaube allerdings auch, dass wir uns insgesamt in Europa besser abstimmen sollten. Wir sind nicht uneingeschränkt begeistert, wenn in unserer Nähe neue Atomkraftwerke entstehen, müssen aber die Souveränität unserer Nachbarstaaten respektieren, wie sie ihre Energieressourcen nutzen wollen. Eine bessere Koordinierung und ein klarer europäischer Rahmen, der die Richtungsentscheidungen vorgibt, können hier helfen.

Günther Oettinger: Die Energiewende betrifft nicht eines oder mehrere Länder, sondern Europa als Ganzes. Darum sollte sich die Diskussion nicht darauf konzentrieren, wer den ersten Schritt in diese Richtung gemacht hat, sondern darauf, auf diesem Weg gemeinsam voranzukommen. Alle Mitgliedstaaten wissen, dass sie ihre Energiesysteme umbauen müssen, um auf lange Sicht zukunftsfähig zu sein und es Europa zu ermöglichen, seine Klimaziele zu erreichen. Und sie wissen auch, dass sie zusammenarbeiten müssen. In einem Binnenmarkt ist das die einzige Möglichkeit, um zu gewährleisten, dass die Wende ein Erfolg wird. Die Integrierung der Erneuerbaren Energien in das Netz etwa wird nur innerhalb eines vollständig vernetzten Marktes möglich sein. In einem fragmentierten Markt würden die dafür notwendigen Investitionen mangels Rentabilität gar nicht erst stattfinden. Und eins ist sicher: Eine Entscheidung, die von einem EU-Mitgliedstaat getroffen wird, hat direkte Auswirkungen auf andere europäische Länder. Das gilt besonders für Deutschland, einem Land mit neun direkten Nachbarn. Entscheidend ist es, einen europäischen Ansatz zu verfolgen, um sicherzustellen, dass nationale Entscheidungen in Abstimmung getroffen und umgesetzt werden. Darum befindet sich Deutschland derzeit im intensiven Austausch mit seinen europäischen Partnern.

IP: Der Zeitplan für die europäische Energiewende ist ehrgeizig: Bis zum Jahr 2020 sollen 20 Prozent der Energie aus erneuerbaren Quellen stammen, die Energieeffizienz um 20 Prozent gesteigert und Europas Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent reduziert werden. Inwiefern ist das noch realistisch?

Altmaier: Beim Ausbau der Erneuerbaren Energien in Europa sind wir auf einem guten Weg. Die EU-Mitgliedstaaten haben in ihren so genannten Nationalen Aktionsplänen für Erneuerbare Energien ihre Strategie dargelegt, wie sie diese Ziele bis 2020 erreichen wollen. Mit diesem Rahmen können wir die europäischen Erneuerbaren-Ziele erreichen und sogar übererfüllen. Dennoch müssen wir mit Blick auf die enorme Technologieentwicklung die Kosteneffizienz bei der Förderung weiter steigern und die Erneuerbaren schrittweise stärker und so schnell wie möglich in den Markt integrieren. Gerade erst hat die EU-Kommission darauf hingewiesen, dass die aktuelle Erneuerbaren-Richtlinie den Rahmen zur Förderung Erneuerbarer Energien in Europa bietet, dass es allerdings auch nötig ist, die nationalen Fördersysteme ständig weiter zu verbessern. Mit der so genannten „automatischen ausbauabhängigen Tarifdegression“ bei der Photovoltaik oder der Einführung der „optionalen Marktprämie“ haben wir hier bereits wichtige Schritte getan. Was die Treibhausgas-Emissionen angeht, so haben wir nach vorläufigen Berechnungen der EU für das Jahr 2011 EU-weit bereits eine Minderung von 17,6 Prozent gegenüber 1990 erreicht. Projektionen der EU-Emissionen bis 2020 zeigen: Mit schon beschlossenen nationalen Maßnahmen werden wir unser Ziel einer 20-prozentigen Reduktion gegenüber 1990 bis 2020 erreichen. Und auch bei der Energieeffizienz sind wir auf einem guten Weg. Das Europäische Parlament hat am 11. September die EU-Energieeffizienzrichtlinie verabschiedet. Indem die Europäische Union den Mitgliedstaaten verbindliche Maßnahmen vorgibt, hat sie gezeigt, dass sie zu einer zukunftsweisenden Energie- und Klimapolitik entschlossen ist. Wichtig ist nun, dass auf europäischer und nationaler Ebene klare Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie getroffen werden. Um hier das 20-Prozent-Ziel zu erreichen, sind allerdings noch erhebliche Anstrengungen nötig.

Oettinger: Die Frage ist nicht, ob das gesetzte Ziel realistisch ist, sondern eher, ob alle Mitgliedstaaten sich in den kommenden Jahren an diese ehrgeizigen Ziele halten werden. Die Erreichung des 20/20/20-Ziels ist in der Tat noch realistisch. Das ist ja ein Übereinkommen, das einstimmig beschlossen wurde und jetzt über verschiedene legislative Initiativen auf EU- und nationaler Ebene umgesetzt wird. Bei der Emissionsreduzierung und der Steigerung des Anteils der Erneuerbaren sind wir auf dem richtigen Weg. Nehmen wir einmal die Erneuerbaren: Die im Jahre 2010 vorgelegten nationalen Pläne zeigen an, dass die Mitgliedstaaten alle ihre Ziele für 2020 erreichen werden, wenn sie auf Kurs bleiben – obgleich die jüngsten Entwicklungen in der Finanzierung und bei den Subventionen Zweifel in Bezug auf die kommenden sieben Jahre geschürt haben. Es ist die Aufgabe der Europäischen Kommission, die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtung zu erinnern und ihnen die optimalen Lösungen je nach den jeweiligen Umständen vorzuschlagen.

IP: Wie kann es gelingen, die Interessen von 27 EU-Mitgliedsländern unter einen Hut zu bringen, wenn man sich vor Augen hält, dass es selbst in Deutschland nach Aussage des scheidenden Vorstands­chefs von EnBW Hans-Peter Villis „16 verschiedene Energiewenden“ gibt?

Altmaier: Die Energiewende ist kein Projekt der Autarkie. Wir müssen darauf hinwirken, dass der Umbau der europäischen Energieversorgung und die deutsche Energiewende zusammenpassen, auch wenn nicht jeder in Europa genau unseren Weg gehen wird. Deshalb unterstützen wir einen verbesserten europäischen Rahmen für Klimaschutz, Erneuerbare und Effizienz, der die Richtung und die entscheidenden Eckpfeiler vorgibt, der den Mitgliedstaaten aber auch genügend Spielraum lässt, um unterschiedliche Wege beim Umbau ihrer Energieversorgung zu gehen. So ist es utopisch anzunehmen, wir könnten unseren Nachbarn Frankreich davon überzeugen, im gleichen Tempo wie wir aus der Kernenergie auszusteigen. Gleichzeitig sind wir selbst für das Gelingen unserer Energiewende darauf angewiesen, dass wir bei den Erneuerbaren Energien mehr machen können als andere, die einen anderen Weg gehen wollen. Wir müssen den gemeinsamen Nenner in Europa suchen – und das ist für mich der konsequente Ausbau der Erneuerbaren und der Energieeffizienz. Die EU-Energy Roadmap 2050 hat gezeigt, dass wir unsere langfristigen Klimaziele, also bis 2050 die Emissionen um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 zu senken, nur erreichen können, wenn wir in Europa bis 2030 einen Anteil der Erneuerbaren an der Energieversorgung von mindestens 30 Prozent erreichen, die Netze ausbauen und die Energieeffizienz konsequent erhöhen. Ein klarer Zielpfad ist auch wichtig, um der Industrie die notwendige Investitionssicherheit zu geben. Ich halte es allerdings nicht für richtig, die Erneuerbaren Energien nur an den besten Standorten in Europa auszubauen, auch wenn das auf den ersten Blick günstiger scheinen mag, weil die Sonne im Süden öfter scheint oder der Wind im Norden stärker weht. Wenn man auf die Gesamtsystemkosten schaut, ist das Bild ein anderes als bei Orangenbäumen. Da spielen die Machbarkeit und die Kosten für den Netzausbau, für Speicher und Reservekraftwerke eine entscheidende Rolle, denn auch an den günstigsten Standorten weht der Wind nicht immer. Müsste ein Land wie Deutschland 30 Prozent seines Stroms importieren, wäre nach einer Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts Köln eine Verdopplung des europäischen und deutschen Netzes notwendig.

Oettinger: Ich glaube, es geht gar nicht darum, die Interessen der 27 EU-Mitgliedstaaten miteinander in Einklang zu bringen. Ihr wichtigstes gemeinsames Interesse ist es, die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Sicherheit des europäischen Energiesystems zu gewährleisten. Sie alle wissen, dass Europa nur mit einer wirklichen Energiewende die wachsenden globalen Herausforderungen bewältigen kann. Die Tatsache, dass es verschiedene Energiewenden gibt, verhindert nicht die Wende selbst, solange die Mitgliedstaaten miteinander sprechen und kooperieren. Es wird so viele verschiedene Energiemixe geben, wie es Länder gibt, denn der ideale Mix hängt von verschiedenen Faktoren ab: die Entscheidungen des Landes in der Vergangenheit, seine natürlichen Ressourcen, seine geografische Lage, die öffentliche Akzeptanz. Der Weg eines Landes wie Griechenland wird anders aussehen als der Belgiens oder Schwedens. Wir können also keinen idealen Energiemix von Brüssel aus definieren. Eins ist allerdings klar: Die Perspektiven aller Länder werden sich mehr und mehr einander annähern, weil sie sich denselben Herausforderungen werden stellen müssen. Es ist also von immenser Bedeutung, dass sie sich abstimmen, ohne dabei ihre nationalen Energiesysteme und -produktionen aufzugeben. Dementsprechend heißt es auch in der Energy Roadmap: In einem gemeinsamen Energiemarkt werden die Energiekosten weit niedriger sein. Die Roadmap schreibt keinen speziellen Energiemix vor, aber sie schafft die Basis für eine Debatte, die es allen Mitgliedstaaten erlaubt, gemeinsam die besten Lösungen zu finden. Dekarbonisierung, Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit: Das sind die Themen, die einer Debatte und einer Strategie auf europäischer Ebene bedürfen, nicht der Energiemix oder die jeweils spezifischen Vorgehensweisen bei der Energiewende. Kein Land wird diese Herausforderungen allein bewältigen können.

Die Fragen stellte Joachim Staron

Peter Altmaier ist Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Günther Oettinger ist EU-Kommissar für Energie.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 44-48

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