Von Regeln und Role Models
Christine Lagarde über Quote, Qualität und die Schönheit der Vielfalt
Mit einem Frauenanteil von gerade mal einem Prozent auf den Führungspositionen scheint die Finanzwelt eine Bastion gegen die Emanzipation der Frauen zu sein. Mit welchen Folgen? IWF-Chefin Christine Lagarde spricht im Interview mit der IP über Schubladendenken, weibliches Wirtschaften
und ihre eigene Vorbildfunktion.
IP: Frau Lagarde, Sie haben einmal gesagt, Sie wünschten, es gäbe mehr Frauen in der Finanzwelt. Was für einen Unterschied würde das machen?
Christine Lagarde: Ich glaube an Vielfalt, und ich glaube, dass Menschen ohne Vielfalt, ohne dass sie sich kritisch hinterfragen lassen müssen, dazu neigen, sich im Kreis zu drehen. Am Ende sorgt das für einen Tunnelblick, bei dem man keine Alternativen sieht und immer wieder auf die gleichen Lösungsmuster zurückfällt. Vielfalt bringt Unterschiede mit sich, und damit neue Ansichten, neue Reflexionshintergründe, vielleicht auch neue kritische Ansätze. Sie bereichert das Denken und die Suche nach Lösungen. Und daher bin ich fest überzeugt davon, dass es in der Welt der Finanzen, die in so hohem Maße männlich dominiert ist, mehr Vielfalt geben sollte – und damit mehr Frauen, denn Vielfalt basiert auf Geschlechtervielfalt ebenso sehr wie auf regionaler Vielfalt oder Vielfalt in Sachen Erziehung und Bildung.
IP: Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche Haltungen und Ansichten haben, um einen breiteren Denkansatz zu bekommen – war das der Grund, warum Sie die Out-of-the-box-Treffen veranstalten, zu denen Sie Multiplikatoren aus den unterschiedlichsten Bereichen, aus Politik, Wirtschaft und Kultur einladen? Und ist das Schubladendenken in der Finanzwelt besonders stark ausgeprägt?
Lagarde: Ich glaube, dass die Menschen in jedem Arbeitssektor, der auf Vielfalt verzichtet, dazu tendieren, ins Schubladendenken zu verfallen, einfach, weil es praktischer ist – machen wir uns nichts vor. In der Finanzwelt herrscht ein ungleich höherer Zeitdruck als in anderen Branchen, und die Risiken sind weitaus größer. Das führt aber auch dazu, dass die Konsequenzen des Schubladendenkens noch verheerender sind.
IP: Was genau könnten Frauen dazu beitragen, aus diesem Schubladendenken herauszufinden? Vielleicht eine größere Sensibilität, was die Inkaufnahme von Risiken angeht?
Lagarde: Es zeigt sich in der Tat, dass Frauen dazu neigen, einen vorsichtigeren Ansatz etwa im Wertpapiergeschäft zu verfolgen. Ich halte mich in der Regel zurück, was diese Verallgemeinerungen angeht, denn man wird unter den Managern, die riskant spekulieren, auch Frauen finden …
IP: … wo wir schon gerade von Vielfalt sprechen …
Lagarde: Genau. Aber im Großen und Ganzen macht man häufig die Beobachtung, dass Frauen dazu neigen, ein bisschen vorsichtiger zu sein. Ich weiß nicht, ob das mit der Geschichte zu tun hat, mit der Tatsache, dass es die Aufgabe der Frauen war, sich um den „Nestbau“ zu kümmern, aber es ist eine Tatsache.
IP: Also hätten wir die große Wirtschafts- und Finanzkrise verhindern können, wenn es die „Lehman Sisters“ gegeben hätte?
Lagarde: Ich weiß, das habe ich gesagt. Wenn es mehr Lehman-Schwestern gegeben hätte und weniger Lehman-Brüder, dann wäre die Welt ein anderer Ort. Leider Gottes können wir die Geschichte nicht umschreiben. Wir sind da, wo wir sind. Ich bin in letzter Zeit viel gereist, und jedes Mal, wenn ich reise, versuche ich, Unternehmerinnen zu treffen, Bankerinnen, Frauen, die in der Wirtschafts- und Finanzwelt eine Rolle spielen. Sie sind nach wie vor eine Minderheit, und das ist bedauerlich, denn sie könnten eine ganze Menge beitragen. Nehmen wir nur einmal das Thema Kredite: Frauen sind weitaus verlässlichere Rückerstatterinnen von Krediten als Männer. Ein weiterer guter Grund, sie stärker ins Wirtschaftsleben zu integrieren. Jede Institution, die irgendwo auf der Welt Mikrokredite vergibt, wird Ihnen bestätigen, dass Frauen die Kredite zu 80 bis 90 Prozent zurückerstatten. Männer kommen in dieser Hinsicht auf einen deutlich niedrigeren Prozentsatz.
IP: Sie sind eine große Verfechterin einer 30-Prozent-Quote für Frauen, zumindest in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen. Nun sagen ja viele: Wenn man eine bestimmte Quote festsetzt, verstößt man gegen die ungeschriebenen Gesetze des freien Marktes. Was spräche Ihrer Ansicht nach für eine Quote, und wie würden Sie sich ihre Einführung vorstellen, ohne dass man sich in die Märkte einmischt?
Lagarde: Ich bin eine entschiedene Anhängerin des freien Marktes, aber ich glaube, dass es durchaus zur, wenn Sie so wollen: Schönheit des freien Marktes beiträgt, wenn es Regeln gibt, die Exzesse und Missbrauch verhindern. Und wenn man dann feststellt, dass bei einer Bevölkerung, die zu 50 Prozent oder mehr aus Frauen besteht, der Anteil von Frauen auf den Führungspositionen der Finanzwelt einen so verschwindend geringen Prozentsatz …
IP: … ein Prozent …
Lagarde: ... ja, ein Prozent ausmacht, dann könnte man das meiner Ansicht nach als Missbrauch des Marktes betrachten und daher als etwas, das behoben werden muss. Und wenn man – zeitweise – Quoten einführt, die dafür sorgen, dass der Markt wieder funktioniert, dann würde ich darin keinen Widerspruch zu meiner Haltung zum freien Markt sehen. Als ich jünger war, war ich – vielleicht wie heute Angela Merkel – der Ansicht, dass Frauen so etwas nicht bräuchten …
IP: Qualität, nicht Quote?
Lagarde: Ja, genau. Qualität versus Quote. Aber da habe ich meine Meinung im Laufe der Zeit geändert.
IP: Kommen wir doch noch einmal zurück zum Thema Mikrokredite. Sie haben gesagt, dass Frauen weit zuverlässiger sind, wenn es darum geht, Kredite zu bedienen. Wäre es da nicht sinnvoll, eine globale Initiative zu starten, um gerade Frauen in diesem Fall zu helfen – um sie als Kreditnehmer stärker in den Fokus zu rücken? Gäbe es da vielleicht eine Rolle für den IWF?
Lagarde: Es gibt ja eine ganze Reihe von Initiativen dieser Art. Michelle Bachelet ist quasi als Frauen-Botschafterin von den Vereinten Nationen dafür eingesetzt worden, alle diese Frauen-Initiativen zu lenken. Ich halte viel davon, dass die Beteiligten selbst die Initiative übernehmen. All die Männer und Frauen, die für mehr Vielfalt eintreten, für bessere Chancen beider Geschlechter, auch über das Mittel von zeitweiligen Quoten – die werden letztlich den Unterschied ausmachen. Und daher sehe ich keinen Grund, in diesen Fragen mit meiner Meinung hinterm Berg zu halten. Das mag die Jungs zuweilen irritieren, aber dieser Missstand muss nun einmal beseitigt werden. Wenn das geschafft ist, dann kann das Spiel losgehen. Dann heißt es: „Prima, lasst jeden nach seinen eigenen Fähigkeiten mitspielen.“ Aber solange wir diese riesige Diskrepanz haben, werden sich die bestehenden Role Models verdoppeln, vervielfältigen, verbreiten. Und wenn die Mentoren Männer sind und die Vorbilder auch, an wem sollen sich die jungen Mädchen orientieren?
IP: Welche Instrumente haben wir zur Verfügung, um die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben, von der sie sprechen? Indem man selbst als Frau eine Vorbildfunktion einnimmt oder eher, indem man innerhalb der eigenen Organisation bestimmte Regelungsmechanismen einführt, immer in der Hoffnung, dass andere sie übernehmen?
Lagarde: Ich glaube, das alles spielt eine Rolle. Schauen Sie einmal, was in den nordischen Ländern inzwischen passiert ist, wenn wir beispielsweise den Anteil von Frauen in Aufsichtsräten in norwegischen Unternehmen betrachten. Oder schauen Sie in mein eigenes Land: Seit das Parlament die Gesetze verabschiedet hat, um den Frauenanteil in Stadträten zu vergrößern – und letztlich auch in den Staatskanzleien –, wandelt sich das Bild. Nicht in einem Rutsch, aber es wandelt sich. Doch dafür ist von allem etwas nötig: die richtigen Vorbilder, die richtigen Regeln, eine Kontrolle der Regeln, die Gewährleistung, dass sie eingeführt werden und wirklich alle einschließen. Denn ich bin überzeugt, dass es nicht nur die Frauen sind, die den Weg hin zu einer größeren Geschlechter-Gleichheit unterstützen, es sind die Frauen und Männer. Und letztlich werden wir alle davon profitieren.
IP: Wie wichtig ist Ihre persönliche Rolle dabei, als erste Frau an der Spitze des Internationalen Währungsfonds?
Lagarde: Nun, ich habe in der Tat von anderen gehört, dass ich da eines der wenigen Vorbilder oder Role Models bin. Das gibt mir eine zusätzliche Verantwortung zu versuchen, meine Arbeit gut zu erledigen und mir keine unnötige Zurückhaltung dabei aufzuerlegen, dafür zu werben, wovon wir gerade gesprochen haben.
Das Interview führten Henning Hoff, Joachim Staron und Sylke Tempel
Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 28-31