Interview

„Von europäischer Souveränität zu reden, ist vermessen“

Welche Rolle soll die EU in der Welt spielen? Christoph Heusgen, Deutschlands ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen, rät zu einem selbstbewussten Realismus.

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Bild: Porträt von Christoph Heusgen
Dr. Christoph Heusgen wird der nächste Chef der Münchner Sicherheitskonferenz; derzeit ist er Vorsitzender ihres Stifterkreises. Von 2017 bis 2021 vertrat Heusgen Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York, von 2005 bis 2017 war er außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
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IP: Herr Heusgen, wir möchten mit Ihnen über europäische Souveränität sprechen. Wann ist Ihnen der Begriff zuerst begegnet, und in welchem Kontext?

Christoph Heusgen: Ich erinnere mich nicht genau, wann das war, aber der Gedanke dahinter steht seit Anfang der 1990er Jahre und dem Vertrag von Maastricht im Raum, wo man Zuständigkeiten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in die europäischen Verträge aufgenommen hat. Das hat sich dann von Maastricht über Amsterdam bis Lissabon weiter konkretisiert.

 

Wie würden Sie diesen Gedanken formulieren?

Zunächst ging es bei der europäischen Integration um die Wirtschaft. Nach und nach wurden weitere Politikbereiche einbezogen, darunter die Außen- und Sicherheitspolitik. Allerdings gab es unter den EU-Mitgliedstaaten stets unterschiedliche Ansichten, inwieweit die USA als dominierender Sicherheitsfaktor in Europa eine Rolle spielen sollten. Für die Franzosen war traditionell das wichtig, was man europäische Eigenständigkeit, Autonomie oder eben Souveränität nennen kann. Den Deutschen war Europas Integration ebenfalls ein Anliegen – aber nie auf Kosten des transatlantischen Verhältnisses.

 

Was wäre Ihre Position?

Ich glaube, dass wir alles tun müssen, auch und gerade als Deutsche, um die transatlantischen Beziehungen lebendig zu halten. Wir brauchen Amerikas Engagement in Europa, den Schutzschirm, dem Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg seine Existenz und später seine Wiedervereinigung zu verdanken hatte. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag die Bedeutung des NATO-Bündnisses unterstrichen. Dennoch müssen wir als Europäer daran arbeiten, dass wir in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterkommen. Angesichts eines Amerika, das sich aus internationalen Aufgaben zurückzieht, wird Europa in gewissen Krisen und bei bestimmten Operationen ohne die USA auskommen müssen. Ich bin nur gegen den Begriff der „europäischen Souveränität“, insbesondere wenn er sich auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik bezieht. Er gaukelt etwas vor, das wir jedenfalls auf absehbare Zeit nicht liefern können. Ohne die Amerikaner wären wir nicht in der Lage gewesen, einen Flughafen wie Kabul zu sichern, um unsere Bürger zu evakuieren, geschweige denn, dass wir größere militärische Operationen hätten übernehmen können. Deswegen ist es aus meiner Sicht vermessen, von europäischer Souveränität zu reden.

 

Sie haben einmal gefordert, dass Deutschland und die EU aus dem Windschatten der USA heraustreten sollten. Voraussetzung dafür wäre zumindest eine gewisse militärische Eigenständigkeit. Wie müsste die aussehen?

Die vertragliche Grundlage ist ja schon vorhanden. Wir haben uns vor fast 20 Jahren in der EU über die Aufstellung von Kampfgruppen geeinigt. Allerdings sind diese „Battlegroups“ Papiertiger geblieben. Statt an neuen europäischen Verträgen zu arbeiten, sollten wir jetzt zunächst einmal ernst damit machen, eine europäische Eingreiftruppe aufzustellen, die in der Lage wäre, mit kurzem Vorlauf Einsätze zu unternehmen, wie sie die Amerikaner in Kabul durchgeführt haben.

 

Im Sondierungspapier der Ampelkoalition war nicht von einer eng gefassten europäischen Souveränität die Rede, sondern von einer „strategischen Souveränität Europas“. Macht das aus Ihrer Sicht einen Unterschied?

Was genau hier „strategische Souveränität“ bedeutet, müssten Sie diejenigen fragen, die das in den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Ich finde, dass alles, was wir in der Außen- und Europapolitik tun, strategisch angelegt sein muss – also langfristig und ein breites Spektrum abdeckend. Das heißt, in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur den militärischen Aspekt zu sehen, sondern verschiedene Politikgebiete aufeinander abzustimmen. Ein Beispiel: Wolfgang Ischinger und ich haben in der FAZ gefordert, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und das Auswärtige Amt zusammenzulegen, damit wir im globalen Wettbewerb strategisch operieren können. Wir sollten unsere Politikinstrumente strategisch aufeinander abgestimmt einsetzen.

 

Sie haben Europas Auftreten über viele Jahre von der anderen Seite des Atlantiks wahrgenommen. Spricht die Europäische Union da mit einer Stimme?

Ich war beeindruckt, wie gut die EU in New York auftritt – mit einem sehr starken Botschafter, mit einer intensiven Kommunikation der Botschafter der Mitgliedstaaten untereinander und mit einer hervorragenden Abstimmung in vielen Bereichen der UN-Politik. Es gibt aber einen Bereich, in dem sich Europas Leistung und Außendarstellung noch verbessern lassen, und das ist die Außen- und Sicherheitspolitik. Da würde ich mir wünschen, dass man den Worten auch Taten folgen lässt.

 

Inwiefern?

Das betrifft vor allem unsere französischen Freunde, die ja in vielen Bereichen Vorreiter der europäischen Integration sind, die das Wort von der europäischen Souveränität geprägt haben und über einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat verfügen. Ich finde, dass sie gemeinsame europäische Positionen, so es sie gibt, im Sicherheitsrat vortragen müssten. Sie müssten auch zustimmen, dass die europäischen Mitglieder im Sicherheitsrat mit einer Stimme sprechen. Was die afrikanischen Länder können, sollten wir auch hinbekommen.

 

Eine wieder etwas andere Formulierung zur Rolle der EU kommt vom Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel. Europa solle „unabhängiger“ werden, sagt er. Unabhängiger von wem und wie?

Ich verstehe unter Unabhängigkeit, dass Europas Stimme im globalen Wettbewerb stärker wird. Schauen Sie auf das Thema Klima: Eine unabhängige Klimapolitik ist gar nicht möglich; man ist stets auf das Handeln der Mitspieler angewiesen. Wenn man aber „unabhängig“ so interpretiert, dass die EU in der Klimapolitik, der Wettbewerbspolitik oder der Außen- und Sicherheitspolitik stärker mit einer Stimme spricht, dann fände ich das sehr begrüßenswert. Ich wünschte mir, wir hätten z.B. einen regelrechten europäischen Außenminister, idealerweise einen Ex-Staats- oder Regierungschef, der mit Erfahrung und Autorität als Vertreter einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auftritt und sich im Krisenmanagement profiliert.

 

Ist denn Europa ansonsten institutionell gut aufgestellt?

Grundsätzlich glaube ich, dass der Integrationsprozess so weitergehen sollte, wie er in den vergangenen Jahrzehnten verlaufen ist – vertragliche Änderungen sollten möglich bleiben, die zu einer Neugewichtung zwischen den EU-Institutionen oder zwischen den Mitgliedern und „Brüssel“ führen. Wir dürfen uns aber keine Illusionen machen: Mit 27 Staaten und einem mittlerweile sehr weiten EU-Zuständigkeitsbereich wird es schwierig sein, zu tiefgreifenden Änderungen zu kommen. Wir sollten weiter daran arbeiten, aber auch die Instrumente nutzen, die wir bereits haben. Denn da bieten die europäischen Verträge einiges.

 

Was heißt das konkret?

Die Verträge erlauben es, dass man für die Position des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik anstelle eines Ex-Außenministers einen ehemaligen Staats- oder Regierungschef auswählt, der schon qua Person eine größere Autorität hätte. Im Übrigen glaube ich, dass der Europäische Auswärtige Dienst stark durch Diplomaten der Mitgliedstaaten geprägt sein sollte. Dadurch ließen sich die Mitglieder noch enger an die Union anbinden. Außerdem sollte man sich bei all solchen Überlegungen an einem der meines Erachtens größten europäischen Erfolge orientieren: dem Nukleardeal mit dem Iran. Drei EU-Mitglieder, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, haben da zusammen mit dem Hohen Vertreter für die EU-Außenpolitik einen sehr weitgehenden und fundierten Vertrag hinbekommen; Mitgliedstaaten und EU traten gemeinsam auf. Solche Modelle sollte man weiterverfolgen. Es gibt dafür einen in Brüssel geprägten Ausdruck, der mir gefällt: Team Europe.

 

Sie sagen, es gehe darum, die Stimme Europas im globalen Wettbewerb zu stärken. Wo sehen Sie denn Europas Platz? Traditionell, an der Seite der Vereinigten Staaten?

Aus meiner Sicht geht es gar nicht so sehr darum, uns irgendwo anzulehnen, sondern eher darum, dass wir als Europäer das Selbstbewusstsein haben müssen zu sagen: „Wir stehen für unser Europa.“ Gerade für uns Deutsche ist es immer wichtig, sich darauf zurückzubesinnen, wo Europa herkommt. Europa ist auf den Trümmern dessen entstanden, was das Dritte Reich angerichtet hat, und heute haben wir Europa zu einem Kontinent gemacht, wo Konflikte vor dem Europäischen Gerichtshof und nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden. Dafür sollten wir uns auch außerhalb der EU einsetzen: für die Stärke des Rechts, für die Charta der Vereinten Nationen, für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, für eine regelbasierte internationale Ordnung.

 

Und das ohne weitere Partner?

Nein, wir sollten zusehen, dass wir so viele Mitstreiter wie möglich haben. Und da sind natürlich die USA der wichtigste und stärkste Partner. Aber wir müssen realistisch sein. Es ist gut möglich, dass die Republikaner die Kongresswahlen im Herbst gewinnen, und keineswegs ausgeschlossen, dass 2024 Donald Trump oder ein Gleichgesinnter die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Als Europäer haben wir stets ein Interesse, mit Amerika zusammenzuarbeiten, unabhängig davon, ob die jeweilige US-Regierung meint, dass eine Koopera­tion mit uns im amerikanischen Interesse liege. Aber in unserer Außenpolitik sollten wir uns letztlich von den Prinzipien, auf denen die EU beruht, leiten lassen.

 

Wie soll Europa damit umgehen, wenn autokratische Herrscher oder autokratisch geprägte Staaten sich nicht an ­internationales Recht halten? Reichen Appelle oder braucht man doch noch etwas mehr als Werte und Prinzipien?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass wir die Prinzipien im Inneren befolgen. Deshalb ist es ein so schwerwiegendes Problem, wenn mit Ungarn und Polen zwei Mitgliedstaaten das Fundament der EU infrage stellen – nämlich, dass wir uns in dem, was wir tun, an die europäischen Verträge halten. Unser Auftreten nach außen muss natürlich ebenfalls durch unsere Werte geprägt sein. Und wenn andere Staaten dem zuwiderhandeln, dann müssen wir situationsbezogen darauf reagieren. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine etwa wäre es falsch gewesen, sich auf Appelle zu beschränken; da musste man zu Sanktionen greifen. Das haben wir getan und uns dabei eng mit den USA abgestimmt.

 

Sehen Sie die EU ausreichend gewappnet gegen die vielgestaltigen, auch hybriden Attacken von Ländern wie Russland?

Moskau beschränkt sich in der Tat nicht auf die offene militärische Konfronta­tion wie in der Ukraine. Es provoziert uns durch Morde, wie hier in Berlin im Tiergarten, oder durch Hackerangriffe gegen den Bundestag. EU und NATO werden immer besser darin, sich auf Bedrohungen wie Cyberwarfare einzustellen, aber daran muss man kontinuierlich arbeiten. Daneben gibt es die sozialen Medien, wo Russia Today, andere staatlich gelenkte Medien und Tausende Trolle in Diensten Moskaus versuchen, Europas Meinungsbildung zu beeinflussen. Wir sind stolz auf unsere Meinungs-und Pressefreiheit. Wenn diese Freiheit aber zur Schwächung unserer staatlichen Souveränität und der Strukturen unseres Landes ausgenutzt wird, dann muss man entsprechende Maßnahmen ergreifen. Russland, aber auch China haben ein Interesse daran, das, wofür wir stehen – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus – zu unterminieren.

 

Aus Angst vor der eigenen Bevölkerung?

Natürlich. Wenn die Menschen fordern: „Wir hätten gerne auch wirkliche, freie Wahlen, wir hätten gerne das Recht auf freie Meinungsäußerung, wir wollen eine starke Zivilgesellschaft“, dann kann das den Regierenden nicht recht sein. Russland versucht immer wieder, unsere Demokratie anzugreifen und Reaktionen zu provozieren, die rechtsstaatlichen Kriterien nicht genügen. Wenn ihm das gelingt, kann es uns vorwerfen, dass wir uns an die von uns proklamierten Werte selbst nicht halten.

 

Ist Belarus ein typisches Beispiel dafür, wo Lukaschenko Migranten quasi als Waffen benutzt?

Das ist in der Tat eine der perfidesten Maßnahmen, mit denen Russland und Belarus Europa unter Druck setzen. Belarus besitzt praktisch keine staatliche Souveränität mehr. Wenn es so etwas tut, dann geschieht es unter Duldung, vielleicht sogar Anstiftung Russlands. So wollen die beiden eine Unterminierung und Spaltung der EU erreichen. Und wir erleben ja jetzt den Streit zwischen denjenigen, die für geschlossene Grenzen plädieren, und denen, die sagen: „Wir müssen unseren humanitären Prinzipien Rechnung tragen; wir können nicht zuschauen, wie Menschen sterben.“ Russland und Belarus haben keine Skrupel, mit dem Leben verzweifelter Menschen zu spielen; sie instrumentalisieren sie, um bei uns Streit zu säen.

 

Sie haben sich immer wieder stark für Multilateralismus engagiert. Nun tut Deutschland sich bekanntlich schwer in der Formulierung eigener Interessen und Ziele. Kann man Multilateralismus als Werkzeug zur Erreichung dieser ­Ziele sehen? Oder besteht die Gefahr, dass der Multilateralismus diese Interessen überdeckt und zum Selbstzweck wird?

Das ist ja schon fast eine Frage für einen Politikwissenschaftler. Ich würde sagen, das überschneidet sich. Für uns ist Multilateralismus – auch – in gewisser Weise ein Selbstzweck. Wenn Multilateralismus bedeutet, eine Weltgemeinschaft auf der Grundlage des regelbasierten Zusammenwirkens von Staaten und Institutionen zu organisieren, dann ist es dieses Prinzip, das Deutschland und die EU groß gemacht hat. Es lässt sich dann auch als Interesse interpretieren. Wir haben ein Interesse da­ran, dass sich die Welt an Regeln orientiert, deren Grundlage die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die EU-Grundrechtecharta sind und die in unserem Grundgesetz verankert sind. Denn da geht es ja nicht nur darum, sich für das wirtschaftliche Wohlergehen unserer Bürger einzusetzen, sondern auch um Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit und die Menschenrechte im Allgemeinen.

 

Länder wie China akzeptieren diese Prinzipien nicht und betrachten sie als „westliche“ Werte. Wenn die Idee des Multilateralismus nicht funktioniert, sollten wir uns dann zurückziehen und auf uns selbst konzentrieren?

Nein, ich glaube, das wäre ein Fehler, weil man dadurch letztlich die chinesische Argumentation akzeptierte. Für China ist staatliche Souveränität das Wichtigste: Was Peking auf seinem Staatsgebiet macht, geht niemand anderen etwas an. Das teilen wir insofern, als wir es ablehnen, in die staatliche Souveränität oder territoriale Integrität eines anderen Landes einzugreifen, wie es Russland in der Ukraine getan hat. Gleichzeitig aber haben wir, und das ist gerade für Deutschland vor dem Hintergrund des Holocaust wichtig, gleichsam als zweites Standbein die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das ist nichts „Westliches“, sondern der Respekt vor jedem Leben, die Freiheit des Einzelnen und die Möglichkeit, sich frei auszudrücken. Wir dürfen eine chinesische Logik à la „Asiaten sind nun einmal anders als Europäer“ nicht akzeptieren. Natürlich hat das Gemeinwesen in verschiedenen Gesellschaften einen unterschiedlichen Stellenwert. Ich glaube aber nicht, dass das Einsperren von einer Million Angehörigen einer ethnischen Minderheit in Umerziehungs- und Arbeitslager zu den „asiatischen Werten“ zählt. Deswegen müssen wir uns für die globale Respektierung der Menschenrechte einsetzen, wir haben das bei den UN regelmäßig getan. Und wir müssen gegen das Einspruch erheben, was China mit den Uiguren oder den Tibetern macht. Das ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern die Verteidigung universeller Werte. 

   

Das Interview führten Martin Bialecki, Henning Hoff und Joachim Staron.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 24-29

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