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01. Mai 2015

Vom Ziehen roter Linien

Um für hybride Kriege gerüstet zu sein, muss die NATO mehr tun

Zunächst geht es um analytische Klarheit: Der „Vorteil“ des hybriden Krieges liegt im Verwischen der Grenzen. Wird es möglich sein, einen Angriff auf ein NATO-Mitglied klar als Bündnisfall zu identifizieren? Nicht wirklich. Deshalb muss die NATO geeignete Indikatoren für ein Frühwarnsystem finden.

Über den Begriff „hybride Kriegführung“ wird derzeit viel diskutiert. Er beschreibt die Mischung aus konventionellen und unkonventionellen Formen der Aggression, die Moskau in der Ukraine als Reaktion auf den Sturz des Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014 eingesetzt hat. Für die westlichen Regierungen, die recht ratlos nach passenden Antworten suchten, war ein derartiges Handeln Russlands neu und alarmierend; es schuf neue Realitäten, denen sich Europa nun stellen muss.      

Die erste dieser Realitäten ist: Der Ansatz, Moskau als Partner für die euro-atlantische Sicherheitspolitik zu gewinnen, ist gescheitert. Der optimistische Ton der NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der es heißt, „die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner“, wurde von Misstrauen, Sanktionen und der Befürchtung abgelöst, dass in der Ostukraine ein eingefrorener Konflikt entstehen könnte.

Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist ein möglicher NATO-Beitritt der Ukraine oder eine Annäherung an die EU eine Bedrohung lebenswichtiger russischer Interessen. Aus westlicher Perspektive dagegen erscheinen Russlands Reaktionen anachronistisch: der Einsatz von Spezialeinheiten; die Annexion der Krim; das Anfachen einer Rebellion im Donbass; die schnelle Mobilisierung etlicher Truppenverbände; der Einsatz klassischer Instrumente des Informationskriegs; Propaganda und Subversion, abgestimmt mit moderner elek­tronischer Kriegführung und Cyber-Aktivitäten – und all das unterlegt mit kontinuierlichem Leugnen und Gegendarstellungen, dass Moskau militärisch involviert sei, obwohl diese Beteuerungen immer unglaubwürdiger wurden. In den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen betreten damit beide Seiten Neuland – und „kollektive Verteidigung“ ist wieder zentrales Element der NATO.

Die zweite Realität: Die Reaktionsfähigkeit des Atlantischen Bündnisses musste überprüft werden. Das soll nicht bedeuten, dass der Umgang des Westens mit der Ukraine-Krise ein Misserfolg gewesen ist. Vielmehr zeigten die westlichen Regierungen bemerkenswerte Einigkeit – in ihrer Rhetorik, beim Beschluss von Wirtschaftssanktionen gegen Moskau und bei der Unterstützung der neuen Regierung in Kiew. Von Beginn an waren die Reaktionen genau dosiert, da der Westen keinesfalls militärisch in der Ukraine intervenieren wollte. Stattdessen nutzte er seine strategische Stärke und setzte seine ökonomische und politische Schlagkraft ein, um die russische Führung unter Druck zu setzen.

Die Reaktionen der NATO

Diese beiden Wahrnehmungen prägten im September 2014 den NATO-Gipfel in Wales. In der Abschlusserklärung heißt es: „Wir beobachten eine zwischen Russland und den von Russland unterstützten Separatisten abgestimmte Kampagne der Gewalt, die zum Ziel hat, die Ukraine als souveränen Staat zu destabilisieren.“ Als wichtigste Entscheidung des Gipfels genehmigten die Staats- und Regierungschefs einen Aktionsplan zur Reaktionsfähigkeit („Readiness Action Plan“) als Antwort „auf Russlands Herausforderungen und ihre strategischen Auswirkungen“ sowie auf Bedrohungen aus dem Nahen Osten und Nordafrika.

Gemäß des Planes sollen damit auf Rotationsbasis „eine regelmäßige Präsenz und militärische Aktivitäten von Luft-, Land- und Seestreitkräften im östlichen Teil des Bündnisses“ sichergestellt werden. Außerdem einigte sich die NATO auf die Aufstellung einer „Speerspitze“, der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF). Die erste Übung dieser neuen Eingreiftruppe fand Anfang April 2015 statt. Neben einer steigenden Zahl von Manövern beschloss das Bündnis, Führungs- und Kontrollstrukturen sowie so genannte Unterstützungselemente in den östlichen Mitgliedstaaten einzurichten. Bei Bedarf können diese Strukturen schnell mittels andernorts bereitgehaltenen Materials sowie Ausrüstungs- und Infrastrukturgütern verstärkt werden. Des Weiteren müsse sichergestellt werden, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen, bei dem eine große Bandbreite offener und verdeckter militärischer, paramilitärischer und ziviler Maßnahmen auf stark abgestimmte Weise eingesetzt wird“.

Diese militärischen Schritte waren bedeutsam. Erstens waren sie ein wichtiges Signal der Solidarität und ein Bekenntnis zum Prinzip der kollektiven Verteidigung. Ohne ein solches Bekenntnis hätte sich der frühere Beitrittsenthusiasmus ehemaliger sowjetischer Blockstaaten als verfehlt erwiesen – und die Raison d’être der NATO wäre infrage gestellt. Zweitens stärkte der Readiness Action Plan die Abschreckung gegenüber Russland sig­nifikant, sollte es wie in der Ukraine gegen Bündnismitglieder verdeckte Militäroperationen in Erwägung ziehen. Es ist eine Sache, wenn Soldaten ohne Hoheitsabzeichen oder „im Urlaub“ auf ukrainische Truppen treffen – eine Konfrontation mit der NATO wäre eine andere.  

Militärische Grauzonen

Doch sind die getroffenen Maßnahmen überzeugend, aus Moskauer Sicht ebenso wie aus der der östlichen NATO-Mitgliedstaaten? Würden sie ausreichen, um ein russisches Vorgehen abzuschrecken oder zu konterkarieren, beispielsweise in den baltischen Staaten, wo bedeutende russischsprachige Minderheiten leben? Letztlich bildet gerade die synchronisierte Mischung aus militärischem Druck, Spezialeinsätzen und Geheimdienstoperationen zusammen mit ziviler Revolte, feindseliger Propaganda, Informationsoperationen, Cyber-Attacken und ökonomischem Zwang den Schlüsselaspekt der neuen „hybriden“ Taktiken. Mit der Kombination dieser Aktivitäten, die in einer Grauzone zwischen Krieg und Frieden anzusiedeln sind, könnten potenzielle Feinde die politischen Nahtstellen der Allianz oder die Stabilität eines einzelnen NATO-Mitglieds angreifen – indem sie etwa innergesellschaftliche Spannungen ausnutzen.

Sollte die Souveränität eines ­NATO-Mitglieds auf diese Weise untergraben werden, wäre die Sicherheit der Allianz ebenso auf die Probe gestellt wie das Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung. Es besteht die Befürchtung, dass Russland versucht sein könnte, militärische Interventionen mit vermeintlichen Ungerechtigkeiten zu begründen – vielleicht sogar explizit unter Verweis auf die früheren NATO-Einsätze in Bosnien, im Kosovo oder in Libyen.

Während eine russische Militär­intervention in einem NATO-Staat zweifellos den Bündnisfall auslösen würde, ist weiterhin unklar, an welchem Punkt einer heraufziehenden hybriden Krise dies der Fall sein würde. Die zuvor beschriebene hybride Vorgehensweise ist so angelegt, dass sie nur schwer als solche zu erkennen ist. Zudem macht die nichtmilitärische Natur vieler Aktionen eine klare Zuordnung zu ihrem Verursacher schwierig. All das verkompliziert die Frage, wo, von konventionellen Interventionen abgesehen, die roten Linien verlaufen sollten.

Im Falle einer versuchten Destabilisierung eines Mitgliedstaats läge es im starken Interesse der NATO, auf die hybriden Taktiken zu reagieren, bevor diese roten Linien erreicht werden. Dafür muss sie geeignete Indikatoren für ein Frühwarnsystem entwickeln – und dabei besonderen Wert auf Geheimdienstkapazitäten legen.   

Ganzheitliche Fähigkeiten

Die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer regierungs- und bündnisübergreifenden Politik können entmutigend sein – erst recht, sie in jene schnellen, flexiblen Reaktionen umzusetzen, die besondere Situationen erfordern. Welche Schlüsselelemente des Ansatzes müssen die Mitglieder der NATO aufnehmen, um sich auf die skizzierten Bedrohungen vorzubereiten?

Militärische Kräfte spielen eine zentrale Rolle, aber nicht die alleinige. Denn auch das Schlachtfeld der Wahrnehmung ist umkämpft. Hier ist Effektivität gefragt: Militärische Aktionen müssen in umfassendere Maßnahmen eingebettet werden. Zu den Antworten auf hybride Kriegführung zählen also nicht nur die Entsendung von Truppen und Material, sondern auch Cyber- und Informationsopera­tionen, strategische Kommunikation, der versierte Umgang mit sozialen Medien sowie das Heranziehen von Expertise aus anderen Regierungs­ressorts. Das kann dabei helfen, antizipierende Aufklärungskapazitäten zu entwickeln.

Möglicherweise erfordern diese „kontrollierenden“ Kapazitäten in Zukunft neben der eher traditionellen Einschätzung der militärischen Fähigkeiten eines Gegners neue Überwachungstechnologien. Aber auch nuancierte Fachkenntnisse von Personen – die auch Zivilisten sein können – mit einem langjährigen Wissen über Länder, Kulturen und Sprachen gehören dazu. Während sich so genannte „Human Terrain Analysis“-Teams oft auf Einsatzumgebungen spezialisieren, ist deren Fokus breiter. Der Rückgriff auf Mitarbeiter mit solcher Expertise würde es ermöglichen, die Sicherheitsumgebung in fragilen Regionen und in potenziell oder tatsächlich feindseligen Staaten besser zu verstehen. Auch ließen sich Zeichen hybrider Aktivitäten in befreundeten Staaten früher erkennen, was zu schnelleren Reaktionen und einer erhöhten Resilienz führen würde. Sind solche Angriffsflächen – wie zum Beispiel marginalisierte gesellschaftliche Gruppen, die für äußere Einflüsse empfänglich sind, oder Energieabhängigkeiten – erkannt, können auch politische Antworten formuliert werden. Auch dies könnte den Prozess erleichtern, die oben genannten roten Linien zu ziehen.

Allerdings stehen Militärplaner vor dem Problem, dass der Ertrag von Investitionen in solche breit gestreuten Kapazitäten schwer zu bemessen ist. Die Entwicklung solcher „Bewusstseinsfähigkeiten“ erfordern die Beobachtung von Strukturen, die jenseits der derzeitigen politischen Prioritäten liegen; auch sind sie im Vergleich zu traditionellen militärischen Kapazitäten weniger sichtbar. Wenn breiter angelegte Analysen zur Abwendung von Krisen beitragen, macht paradoxerweise gerade dieser Erfolg es schwieriger, ihren Nutzen zu belegen. Seit dem Kalten Krieg wurden derartige Kapazitäten in den westlichen Staaten zurückgefahren. Sie wieder aufzubauen, wird Zeit und politisches Engagement erfordern.
Auch strategische Kommunika­tionsfähigkeiten wurden reduziert. Lange wurden sie von Regierungen eingesetzt, um ihre eigene Geschichte zu schreiben und aus- wie inländische Zielgruppen zu beeinflussen. Solche Kommunikationskapazitäten sind unerlässlich, um feindselige Desinformation und Propaganda effektiv zu kontern. Allerdings sollte der Schwerpunkt auf der Wiedergabe von Fakten und auf unparteiischen Analysen liegen. Bemühungen in diesem Bereich sind eher auf nationaler Ebene angesiedelt, doch kann die NATO hier eine koordinierende Rolle einnehmen. Daneben sollte Wert auf eine agilere Informationspolitik gelegt werden. Zum Beispiel: In welchen Fällen – und wie schnell – sollten die NATO oder ihre Mitglieder Verschlusssachen der Öffentlichkeit zugänglich machen, wenn diese überzeugende Beweise für feindselige Aktivitäten liefern?

Doch auch die konventionellen Streitkräfte werden eine wesentliche Rolle spielen müssen. In „The Mili­tary Balance 2015“ des International Institute for Strategic Studies (IISS) haben wir bereits darauf hingewiesen: „Wenn die Kosten einer möglichen Angriffshandlung gegen ein NATO-Mitglied aufgrund dessen leistungsfähiger Streitkräfte hoch sind, könnte Russland (oder ein anderer potenzieller Gegner) durchaus zu dem Schluss kommen, dass seine Ziele auf diesem Weg nicht schnell erreichbar sind.“

Die Entwicklung der VJTF ist wichtig – ebenso wichtig sind die Stärkung militärischer Fähigkeiten an der Peripherie der NATO oder bereitgehaltener Kapazitäten, auf die in den Osten des Bündnisses verlegte Truppen im Ernstfall schnell und unkompliziert zurückgreifen können. Auch ist es nützlich, die eigenen Kapazitäten zu zeigen. Russlands Militärübungen haben diesen demonstrativen Effekt schon allein wegen ihrer schieren Größe. Im Gegensatz dazu haben sich die Übungen der NATO-Mitglieder – angesichts der Art der Operationen in jüngster Zeit wohl nicht zu Unrecht – auf die Befähigung von Bündnispartnern konzentriert. Doch Wahrnehmung ist wichtig, und die Dinge ändern sich: Der Readiness Action Plan sieht einen ambitionierteren Übungsplan vor, und die Hinweise verdichten sich. Die NATO-Mitglieder werden für solche Aktivitäten zusätzliches Geld bereitstellen müssen.

Kein Allheilmittel

Es gibt kein Allheilmittel, um hybride Bedrohungen besser antizipieren und beantworten zu können. In demokratischen Staaten verkomplizieren parlamentarische Verfahren stets die Reaktion; auf internationaler Bühne verstärkt sich dieser Faktor noch. Die Fälle Georgien, Krim und Ostukraine haben gezeigt, dass Russland schneller handeln kann als internationale Organisationen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass weitreichende und flexible Fähigkeiten vorgehalten und wo nötig ausgebaut werden. Abschreckung und Verteidigung gegen hochentwickelte Aggressionsformen erfordern einen umfassenden Ansatz und die Einbindung militärischer, diplomatischer, informationeller und ökonomischer Aktivitäten sowie Cyber- und Strafverfolgungsmaßnahmen.

Kurzum: Kluge Investitionen in militärische Fähigkeiten sind gefordert. Dazu gehören Spezialeinheiten und schnelle Eingreiftruppen, aber auch konventionelle See-, Luft- und Landstreitkräfte. Diese müssen allerdings agil, flexibel und ausbaufähig sein. Landstreitkräfte sollten beispielsweise in der Lage sein, schnell sowohl Angriffs- als auch Verteidigungsmaßnahmen ausführen zu können. Das ist wichtig, weil ein möglicher Bündnisfall nach Artikel V nicht zwangsläufig auf einen Schauplatz begrenzt sein muss. Zudem muss man davon ausgehen, dass potenzielle Feinde auf der ganzen Welt die Situation in der Ukraine genau beobachten und ihre Schlüsse ziehen, welche Taktiken funktionieren und wie die westlichen Regierungen und ihre Armeen auf Bedrohungen reagieren.

Einige andere Akteure wie der „Islamische Staat“ haben bereits hy­bride Taktiken angewandt. Im asiatisch-pazifischen Raum blickt die japanische Regierung mit Sorge auf mögliche „Grauzonen“-Vorkommnisse, die unterhalb der Konfliktschwelle bleiben, die verleugnete oder ostentativ als nichtmilitärische Aktionen deklariert werden könnten.
Folglich sollte die NATO ihr Hauptaugenmerk darauf legen, dass ihr gegenwärtiger Ansatz hybride Taktiken gegen Mitgliedstaaten effektiv abschreckt. Die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder weiter zu fördern, ist für die NATO in diesem Kontext bedeutsam. Angesichts geringer finanzieller Mittel sollten Maßnahmen, die eine bessere Wertschöpfung und eine engere Zusammenarbeit mit der EU versprechen, fortgesetzt werden.

Doch die NATO und ihre Mitgliedstaaten müssen auch die langen Linien im Blick behalten. Es liegt weiterhin im europäischen Interesse, nicht in einen neuen Kalten Krieg zu geraten, sondern – wo möglich – mit Russland zusammenzuarbeiten. Die Abschreckung unmittelbarer Bedrohungen, durch die potenzielle Konflikte rechtzeitig gestoppt werden, bildet eine gute Basis für verbesserte Beziehungen in der Zukunft.

James Hackett ist Herausgeber von „The Military Balance“ und Senior Fellow for Defence and Military Analysis am International Institute for Strategic Studies (IISS) in London.

Alexander Nicoll ist Senior Fellow for Geo-economics and Defence am IISS.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 34-39

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