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01. Nov. 2012

Vom Schmuddelkind zum Mitspieler

Mit Kernkraft gegen den Klimawandel: die Diskussion in Polen

Einst als Unruhestifter in der Energie- und Klimapolitik verschrien, signalisiert Warschau heute deutlich, dass es in die europäische Debatte eingebunden werden möchte. Und obgleich gerade Deutschland und Polen teils sehr unterschiedliche energie- und klimapolitische Vorstellungen pflegen, fehlt es nicht an guten Gründen für eine enge Zusammenarbeit.

Die Erkenntnis, dass man früher oder später gezwungen sein dürfte, sich energiepolitisch von seiner ­Kohleabhängigkeit zu verabschieden, ist in Polen noch vergleichsweise jung – und sie dürfte wohl in erster Linie den Emissionssenkungsvor­gaben der Europäischen Union zu verdanken sein. Hinzu kommt, dass der Kohlebergbau in Polen immer teurer wird und neue technologische Entwicklungen wie die Nutzung von Schiefergas den Energiemarkt von Grund auf verändern.

Natürlich wägt man in Warschau Kosten und Nutzen der verschiedenen Energieversorgungsoptionen genau ab, bevor man Entscheidungen zur zukünftigen Energiestrategie des Landes trifft. Dass man allerdings immer ernsthafter über eine Energiewende nachdenkt, zeigt, dass sich das Land gegenüber der EU-Energie- und Klimapolitik als starker Partner mit eigener energiepolitischer Vision positionieren will.

Die polnische Energiestrategie bis 2030 wurde im November 2009 verabschiedet. Sie basiert auf den Vorgaben des Energie- und Klimapakets der EU und nennt sechs Ziele: Steigerung der Energieeffizienz, Sicherung der Energieversorgung, Diversifizierung des Energiemixes, verstärkte Nutzung Erneuerbarer Energien, Wettbewerb auf dem Energiemarkt und Umweltschutz. Zur Sicherung der Energieversorgung wird eine effektive Nutzung der verbleibenden Kohlevorkommen empfohlen. Dabei stützt man sich auf die Annahme, dass neue polnische Kohlevorkommen erschlossen werden können und die Entwicklung sauberer Verbrennungstechnologien voranschreiten wird.

Zählebiges Auslaufmodell Kohle

Weil die EU betont, dass „saubere Kohle“ und CO2-Abscheidungs- und Speicherungssysteme (Carbon Dioxide Capture and Storage, kurz CCS) die Zukunftslösung für kohleabhängige Staaten sind – weil sie geeignet sind, CO2-Emissionen zu senken und einen sanfteren Übergang von der Kohle­industrie hin zu Erneuerbaren Energien zu gewährleisten – entschied sich Polen dafür, der „sauberen“ Nutzung von Kohle mehr Aufmerksamkeit zu schenken und eine der ersten CCS-­Pilotanlagen in Bełchatów zu bauen.

Kohle wird auch in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle für die polnische Energieversorgung spielen. Sie wird allerdings sukzessive an Bedeutung verlieren – auch weil Polens Infrastruktur für die Energieerzeugung zusehends veraltet. In Zukunft wird diese Struktur entweder modernisiert oder grunderneuert werden müssen. 43 Prozent der Anlagen des Landes sind älter als 30 Jahre, 37 Prozent sind zwischen 20 und 30 Jahre alt und nur 8 Prozent der polnischen Energieinfrastruktur ist in den vergangenen zehn Jahren entstanden.
Die Regierungsentscheidung vom Januar 2009, die Polens Weg in Richtung Kernenergie ebnete, war zunächst eine Reaktion auf die Notwendigkeit, die von der EU vorgegebenen Ziele zur Senkung der CO2-Emissionen einzuhalten. Derzeit sind die Beauftragten des staatlichen Energiebetriebs Polish Energy Group auf der Suche nach Kooperationspartnern und einem geeigneten Standort für das erste Kernkraftwerk. Dabei lotet man auch aus, welche infrastrukturellen Anforderungen erfüllt werden müssen, um die produzierte Energie auf den Markt zu bringen. Das erste Kernkraftwerk Polens soll 2021 die Produktion aufnehmen.

Neue Variable Schiefergas

Dann tauchte eine neue energiepolitische Variable auf. Der Faktor „Schiefergas“ – Erdgas, das in dichten Tongesteinen steckt – beeinflusste die polnische Energiedebatte massiv und änderte gleichzeitig die Wahrnehmung der etablierten Energiepolitik. Rasch galt Schiefergas als Energieträger der Zukunft, mit dessen Hilfe sich viele Probleme auf einmal lösen ließen: die Energieversorgung des Landes sichern, seine Treibhausgasemissionen senken, das Wirtschaftswachstum ankurbeln, Auslandsinvestitionen anziehen und schneller (und unkomplizierter) Arbeitsplätze schaffen, als es etwa durch die Erschließung sauberer Kohletechnologien möglich schien.

Bislang wurden 111 Konzessionen für die Schiefergasförderung erteilt und flankierende Maßnahmen vor allem in Sachen Sicherheit und Besteuerung ins Werk gesetzt. Die polnische Regierung plant darüber hinaus die Einsetzung eines Generalbevollmächtigten für Schiefergas, dessen Amt in das Umweltministerium integriert werden soll. Außerdem hat man ein Forschungsprogramm zum Thema Schiefergas im Umfang von 245 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Noch ist nicht geklärt, zu welchem Preis Schiefergas auf den Markt gebracht werden kann – ein Schlüsselfaktor für den Erfolg der polnischen Strategie.

Derweil machen Erneuerbare Energien in Polen nur einen Anteil von 7 Prozent am Bruttoendenergieverbrauch des Landes aus – mit Biomasse als wichtigstem erneuerbaren Energieträger. Gemäß den Vorgaben des EU-Energie- und Klimapakets ist Polen verpflichtet, den Anteil der Erneuer­baren an der Stromversorgung bis 2020 auf 15 Prozent zu erhöhen – eine Vorgabe, die zu einer hitzigen Debatte in Polen geführt hat. Noch macht die polnische Regierung wenig Anstalten, die Umsetzung der Direktive im eigenen Land zu unterstützen.

Abwartend, aber interessiert

In der europäischen Energie- und Klimapolitik war Polen lange als Unruhestifter verschrien. Doch zum einen ändert sich die polnische Rhetorik zu diesem Thema immer wieder, zum anderen wäre es falsch zu behaupten, dass Polen die europäische Klimapolitik per se ablehne. Man bleibt allerdings skeptisch, wie effektiv die von der EU eingesetzten Mechanismen sind und steht auch den neuen Ideen der Europäischen Kommission zur zukünftigen Energie- und Klimapolitik abwartend gegenüber.

Deshalb legte die polnische Regierung gleich zweimal ihr Veto gegen die „Low Carbon Roadmap 2050“ ein – erst im Juli 2011 und dann ein Jahr später im Juli 2012 – und sperrte sich auch im März dieses Jahres gegen die „Energy Road Map 2050“. Doch die taktisch-blockierende Haltung der polnischen Regierung wurde durch ein aktives Engagement Warschaus konterkariert, etwa durch das „Polish policy paper on the future of the ETS up to 2030“. Das zeigt, dass Polen durchaus in die Diskussionen zur Zukunft der europäischen Energie- und Klimapolitik eingebunden werden und einen eigenen Beitrag leisten will. Zudem ist der polnischen Regierung bewusst, dass der Energiemix des Landes breiter angelegt werden muss – und das nicht nur um der europäischen Energiepolitik willen. Die fortdauernde Kohleabhängigkeit des Landes könnte auch die nationale Energiesicherheit gefährden. Kernenergie, Schiefergas und Erneuerbare Energien (letztere in geringerem Maße) werden vor diesem Hintergrund sehr ernst genommen. Zahlreiche öffentliche und private Einrichtungen in Polen sind damit beschäftigt, die zukünftige Energieversorgung Polens zu analysieren. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei Berechnungen zu den Kosten des Übergangs zu einem kohlenstoffarmen und umweltverträglicheren Wirtschaftsmodell ein.
Bereits jetzt liegen Pläne zur Gestaltung einer neuen polnischen Energiepolitik vor, die sowohl die genannten Faktoren berücksichtigt als auch den Anforderungen der Klimapolitik Rechnung trägt. Im Wirtschaftsministerium arbeitet man derzeit an einem nationalen Programm zur Entwicklung einer kohlenstoff­armen Wirtschaft, das 2013 vorliegen soll und verschiedene Szenarien zur zukünftigen Energieversorgung des Landes beleuchten wird.

Das Programm basiert auf der Annahme, dass eine Umstellung der polnischen Wirtschaft in Richtung Emissionsreduzierung und Kohleunabhängigkeit dazu beitragen kann, dem Klimawandel entgegenzuwirken und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Darüber hinaus soll die Analyse sich nicht nur mit dem Energiesektor befassen, sondern auch den Einfluss der Energiewende auf die Gesamtwirtschaft in den Blick nehmen.

Deutsch-polnische Energiefragen

Laut des Vertrags von Lissabon darf jeder Mitgliedstaat eigenständig über die Zusammenstellung seiner Energieversorgung entscheiden; eine Regelung, von der sowohl Deutschland als auch Polen selbstverständlich Gebrauch machen. Doch obwohl die beiden Länder unterschiedliche Vorstellungen von ihrer künftigen Energieversorgung haben, gibt es eine Grundlage für eine deutsch-polnische Energiekooperation, von der nicht nur Polen, sondern auch Deutschland profitieren würde – und die zur Schaffung eines europäischen Energiebinnenmarkts beitragen könnte.

Einerseits unterscheiden sich Deutschland und Polen in ihrer Position gegenüber der Kernkraft. Fukushima hatte fast keinen Einfluss auf die polnische gesellschaftliche Debatte. Sollte Polen mit seiner Strategie erfolgreich sein und Deutschland seine gegenwärtigen Pläne nicht ändern, dann ist es möglich, dass in Zukunft polnischer Atomstrom ins deutsche und in andere benachbarte Netze eingespeist wird.

Die beiden Länder verfolgen auch unterschiedliche Ansätze beim Thema Erneuerbare Energien. Bezeichnend ist die Diskussion über Windenergie aus Norddeutschland. Da die Trassen Richtung Süddeutschland an stürmischen Tagen mit starkem Stromaufkommen überfordert sind, weicht der Strom dann automatisch in die benachbarten Netze Polens und Tschechiens aus. Die polnische Regierung und die Fernleitungsnetzbetreiber sind besorgt über die Tatsache, dass das polnische Netz durch den in deutschen Windparks erzeugten Strom überlastet wird. Dieses Problem sollte so rasch wie möglich ausgeräumt werden. Die kohlenstoffarme Energie aus deutscher Produktion hilft Polen zwar, die Ziele zur Emissionsreduzierung einzuhalten, aber eine unkontrollierte Überladung des Netzes kann ohne adäquate Überwachung ein Risiko sein.

Andererseits wird die Versorgung mit Gas für Deutschland vor dem Hintergrund des Atomausstiegs kurz- und mittelfristig an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der polnischen Entscheidung, das Potenzial von Schiefergas auszuschöpfen, dürfte überschüssiges Gas für den euro­päischen Energiemarkt frei werden. Dieses Szenario gibt beiden Staaten einen Anlass zur Kooperation sowohl beim Ausbau und bei der Modernisierung des europäischen Stromnetzes als auch beim Krisenmanagement, das potenzielle Energieengpässe innerhalb der EU verhindern kann.

Zudem liegt es im deutschen und polnischen Interesse, stabile politische und juristische Strukturen zu schaffen, die es den Akteuren auf dem europäischen Energiemarkt erlauben, rationale Investitionsentscheidungen zu treffen, die Energie- und Umweltsicherheit miteinander vereinbaren.

Agata Hinc ist Hauptgeschäftsführerin von demosEUROPA – Centre for European Strategy, Warschau.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 50-53

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