Essay

28. Okt. 2011

Volksrepublik und Volksherrschaft

Wie traditionelle chinesische Kultur und liberale Demokratie zusammenpassen

Chinas Wirtschaft wächst rasch und konstant – und damit auch die politische Bedeutung des Reichs der Mitte. Wird China zu einer Bedrohung für die vielzitierte „freie Welt“, wenn es sein autoritäres Regime beibehält und seine ökonomische Macht ausbaut? Oder kann das Land, sollte sich sein Autoritarismus in eine liberale Demokratie umwandeln, einen entscheidenden Beitrag zu Freiheit und Demokratie leisten?

Die liberale Demokratie, sei es als Wert oder als Institution, ist nicht nur für China, sondern für die gesamte Welt ein vergleichsweise junges Phänomen. Wenn wir die englische Revolution 1640 als Ausgangspunkt nehmen, existiert sie seit knapp 400 Jahren. Die Geschichte der Verbreitung der liberalen Demokratie zeigt, dass Erfolg oder Scheitern beim „Import“ von Werten und Institutionen davon abhängt, ob sie mit lokalen traditionellen Werten vereinbar sind.

Nun ist eine ganze Reihe von Experten sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas der Auffassung, dass traditionelle chinesische Kultur und liberale Demokratie sich wie Öl und Wasser verhielten und eine Synthese zwischen ihnen nicht möglich sei. Aber: Ist das wirklich so?

Leben in Würde und Respekt

Als maßgebliche traditionelle Philosophie in China gilt im Allgemeinen der Konfuzianismus. Eine Fehlinterpretation. Es sind gleich drei Modelle, aus denen sich das chinesische Denken zusammensetzt. Neben dem Konfuzianismus sind das der Taoismus und der Buddhismus, und gerade diese beiden Lehren bieten eine Reihe von Anknüpfungspunkten an das Konzept der liberalen Demokratie.

Konfuzianismus und Taoismus entwickelten sich zwischen 500 und 1000 vor Christus. Der Buddhismus gelangte während der Han-Dynastie (206 v. bis 220 n. Chr.) von Indien nach China. Nach Jahrhunderten der Interpretation und Debatte, aber auch der Verfolgung wurde der Buddhismus letztendlich in der Sui-Tang-Dynastie, zwischen dem 5. und dem 8. Jahrhundert, offiziell als Religion anerkannt. Die Tatsache, dass einer der wichtigsten buddhistischen Lehrtexte, die „Mahayana-Sutras“, zum Teil von einem chinesischen Mönch im späten 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts verfasst wurde, zeigt, dass der Buddhismus in China zu dieser Zeit vollständig akzeptiert war.

Im Laufe der historischen Entwicklung der chinesischen Kultur kam es immer wieder zu Annäherungsversuchen zwischen Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus. Aus Elementen des Konfuzianismus und des Taoismus erschufen Buddhisten den Zen-Buddhismus. Der Neo-Konfuzianismus entstand während der Song-Dynastie (960 bis 1279) aus Teilen des Buddhismus und des Taoismus. Was alle diese Quellen der chinesischen Philosophie verbindet, ist die Frage, wie sich der Mensch verhalten sollte, um ein Leben in Würde und Respekt zu führen.

Für Anhänger des Konfuzianismus ist ein solches Leben notwendig und möglich, doch um es zu erreichen, muss man sich aktiv darum bemühen. Im Zentrum der Lehre stehen nicht so sehr die Umgebung oder Natur, in der das Individuum lebt, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen. Moral, -Hierarchie, Gehorsam und die Bereitschaft, Abgaben fürs Gemeinwohl zu leisten, sind essenziell für eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung und für den Einzelnen in seinem Bemühen, ein Leben in Würde und Respekt zu führen. Wie der Konfuzianismus strebt auch der Taoismus nach einem solchen Leben, doch empfiehlt er einen anderen Weg dorthin: Ihm zufolge ist es oft kontraproduktiv, aktiv danach zu streben. Zu unberechenbar seien die sozialen Kräfte und die Launen der Natur, als dass sie anders als in Demut hinzunehmen seien. Die Buddhisten schließlich halten alles, was wir sehen und fühlen, für eine Illusion, seien es Respekt, Kränkungen, Macht, Ruhm, Geld oder Verlangen. Ihren inneren Frieden können die Menschen nur finden, wenn sie einsehen, dass all das eben nur Illusionen sind, und sich so von ihrer geradezu obsessiven Abhängigkeit befreiten.

Gingen in der Kaiserzeit die meisten der Gesetze und Regeln, die den Staat oder das alltägliche Miteinander betreffen, auf konfuzianisches Gedankengut zurück, so spielen Taoismus und Buddhismus heute eine immer wichtigere Rolle im geistigen Leben Chinas. Wenn man die Lehren des Buddhismus und des Taoismus verstanden hat, wird man sie überall wiederfinden: in der Literatur, der Malerei, der Musik. In den meisten dieser Künste bildet der Wunsch nach einem Rückzug aus den Aufregungen und Frustrationen des Alltags und nach einer Befreiung von Begierden das bestimmende Motiv.

Das Böse im Menschen

Inwieweit sind diese Denkschulen mit liberaler Demokratie vereinbar? Der Ausgangspunkt der liberalen Demokratie ist die grundsätzliche Unvollkommenheit des Menschen, und, daraus folgend, seine Begrenztheit in der Ausübung von Macht. Aus dieser Einsicht in die menschliche Natur ergibt sich die Notwendigkeit, Institutionen zur Kontrolle und Begrenzung der Macht zu schaffen: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, freie und gleiche Wahlen, Pressefreiheit, Gesetze zum Schutz der Menschenrechte und so weiter. Das Hauptziel dieser Institutionen und Verfahren ist es, Diktatur und Tyrannei zu verhindern. Ein typisch westliches intellektuelles Konstrukt ist der Gesellschaftsvertrag. Der Theorie von John Locke zufolge schwören Mitglieder der Gesellschaft bestimmten Freiheiten zum Wohle der Sicherheit ab, behalten jedoch andere unveräußerliche Rechte bei, die kein Herrscher aufheben kann. Versucht er es dennoch, so gilt das als Bruch des Gesellschaftsvertrags und rechtfertigt Widerstand.

In der traditionellen chinesischen Philosophie dagegen, so die verbreitete Lesart, werde die menschliche Natur grundsätzlich als gut erachtet. Im Wesentlichen seien alle Menschen, ungeachtet unterschiedlicher Gewohnheiten und Verhaltensweisen, gleich, und so bestehe keine Notwendigkeit einer Gewaltenteilung. Diese Auffassung entspricht allerdings nur in Teilen der Wahrheit. Im Taoismus etwa ist davon nicht viel zu merken, besonders mit Blick auf die Herrscher. Laotse sagt: „Die heilige Person ist nicht gütig, sie behandelt Menschen wie Abschaum.“ Zhuangzi, ein anderer Denker des Taoismus, drückt das etwas nüchterner aus. Als der König von Song zwei Beamte zu ihm schickt, um ihn zu bitten, Gerichtsdiener zu werden, erklärt Zhuangzi, dass er lieber eine Schildkröte wäre, die ihren Schwanz durch den Schlamm zieht, als ein Beamter, der dazu bestimmt ist, an seiner eigenen Macht zugrunde zu gehen. Und auch im Konfuzianismus finden wir an einigen Stellen die Erkenntnis, dass der Mensch, und damit auch die Politik, nicht vor moralischem Verfall gefeit sind. „Versuche ein Beamter zu sein“, heißt es da, „wenn Politik vernünftig (oder moralisch) ist, versuche ein Einsiedler zu sein, wenn Politik unvernünftig (oder unmoralisch) ist.“

Diese Skepsis spiegelt sich auch in der institutionellen Praxis wider. In allen Dynastien, die vom konfuzianischen Denkmodell geprägt waren, finden wir Institutionen, deren Zweck es war, die Staatsbeamten und sogar die Macht der Herrscher zu kontrollieren. Und es kam durchaus vor, dass ein Herrscher an die Grenzen seines Einflusses gegenüber den Beamten stieß. Kaiser Wanli etwa, ein Herrscher aus der Ming-Dynastie im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, scheiterte am Widerstand der von ihm ernannten Beamten, als er versuchte, die Frau, die er liebte, zur Kaiserin zu machen. Auch seine Bemühungen, seinen Sohn zum Thronfolger zu ernennen oder bestimmte politische Richtlinien einzuführen, blieben vergeblich. Er war so frustriert, dass er sich über 20 Jahre lang weigerte, seine Pflichten als Herrscher wahrzunehmen.
Mit anderen Worten: In der traditionellen chinesischen Kultur ist man sich des Bösen im menschlichen Wesen durchaus bewusst und offen für die Einführung von Institutionen zur Kontrolle der Macht. Das Problem war dabei jedoch stets, dass die Kontrollen innerhalb der durch Fraktionskämpfe zerrissenen Höfe stattfanden. Weder existierte ein Kontrollsystem „von unten“ noch eine Trennung der administrativen von der judikativen und legislativen Gewalt. Einer der Gründe, warum keine Kontrollen existierten, liegt in dem Glauben, dass die Herrschaft der Dynastie vom Himmel legitimiert und der Kaiser der Sohn des Himmels sei – also in etwa das, was im Westen die von Gott legitimierte Herrschaft des Monarchen war. Folglich war es undenkbar, dass es eine Kontrolle von unten nach oben geben könnte oder eine Gewaltenteilung. Das änderte sich mit der Xinhai-Revolution von 1911, die mit der Gründung der Republik China -endete. Nunmehr wurde die Vorstellung vom Kaiser als „Sohn des Himmels“ nicht mehr von der Bevölkerung akzeptiert. Und sogleich gab es keinen Grund mehr, warum Gewaltenteilung, Kontrolle von unten und ähnliche Institutionen nicht mit der chinesischen Kultur vereinbar sein sollten.

Liberalismus auf Chinesisch

Wenn wir uns eine Vorstellung davon machen wollen, wie ein chinesischer Liberalismus aussehen könnte, müssen wir uns nur den Taoismus näher anschauen. Die Vertreter dieser Lehre gehen davon aus, dass Rationalität begrenzt ist: Wir wissen viel weniger als wir nicht wissen. Die Welt ist unvorhersehbar und das Leben unvollkommen. Eine zentrale Lehre des Taoismus ist das hohe Lied der Passivität: Der Herrscher darf zur Durchsetzung seiner Politik nicht die Initiative ergreifen. Die beste Regierung ist eine Regierung, die ihrer Bevölkerung erlaubt zu tun, was sie möchte. Egal, wie intelligent ein Herrscher ist, sein Verstand bleibt begrenzt. Indem er seine Programme und Reformen durchsetzt, schränkt er Intelligenz und Aktivität anderer auf das Maß seiner eigenen Intelligenz ein und verbaut sich so den Weg zu einem durchschlagenden Erfolg. Nur wenn er es unterlässt zu handeln, werden die Menschen imstande sein zu tun, was sie wollen. So können viele verschiedene Denker große Erfolge erreichen.

Gewalt und Zwang lehnt der Taoismus ab. Zwangsherrschaft wird nicht auf Dauer erfolgreich sein: „Ein starker Regenschauer wird nicht den ganzen Tag dauern, noch wird ein starker Wind den ganzen Tag anhalten.“ Demzufolge ist es am besten, sich so zu verhalten „wie das Wasser, das allem nützt, aber mit niemandem wetteifert“. Es ist für den Herrscher am besten, dazu beizutragen, den Arbeitsprozess zu erleichtern anstatt anderen seinen Willen aufzuzwingen. Diese Denkansätze kommen dem westlichen wirtschaftsliberalen Konzept des Laisser-faire und dem von liberalen Vordenkern wie Friedrich August von Hayek ausgearbeiteten Gedanken der „spontanen Ordnung“ sehr nahe.

Chinesische Herrscher nahmen das Konzept des Nicht-Handelns nicht weniger ernst als die Lehren des Konfuzius. Das chinesische Wort für „Nicht-Handeln“ war in den Kopfbalken über dem Thron vieler chinesischer Herrscher eingraviert. Nun ist es bekanntlich eines der Hauptziele der liberalen Demokratie, die Machthaber zu kontrollieren und sie davon abzuhalten, ihr Volk zu unterdrücken – nichts sei nutzloser als der Versuch, Macht und Wohlstand auf Kosten von Moral, innerem Frieden und Gesundheit zu besitzen. Auch dem Taoismus zufolge schaden Macht und Wohlstand demjenigen, der sie besitzt – fraglos Gedanken, die mit den Zielen der liberalen Demokratie übereinstimmen.

Der Herrscher als Hirte

Nun gibt es natürlich auch Elemente der traditionellen chinesischen Kultur, die nicht mit liberaler Demokratie kompatibel sind. Als größte Hürde erweist sich dabei der Paternalismus. Im Konfuzianismus ist der einfache Bürger dem Herrscher eindeutig untergeordnet: Der Herrscher ist der Hirte, die Untertanen sind seine Schäfchen. Während der Han-Dynastie hießen die Provinzgouverneure sogar ausdrücklich „Hirten“. Nach der konfuzianischen Lehre sind die einfachen Menschen nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Sie müssen von Herrschern angeleitet werden, die ihnen höher gestellt sind. Mengzi, der bedeutendste konfuzianische Philosoph nach Konfuzius selbst, schrieb: „Wer mit dem Hirn arbeitet, herrscht über andere. Wer mit den Muskeln arbeitet, wird von anderen beherrscht.“ Dies war nicht nur eine empirische Beobachtung, sondern eine Norm. Machthaber sollten sich so um ihre Untertanen kümmern, wie Eltern sich um ihre Kinder sorgen. Diese Mentalität ist tief verankert – sowohl im Bewusstsein der Herrscher als auch in dem der Beherrschten.

Auch die Tatsache, dass der Individualismus in der traditionellen chinesischen Kultur keine Rolle spielt, macht die Anknüpfung an die liberale Demokratie schwierig. Danach ist jeder Chinese Teil eines größeren Ganzen: Teil der Familie, der Gemeinde, der ethnischen Gruppe und – in neueren Zeiten – Teil der Nation. Ein aufschlussreiches Beispiel ist die gängige Begrüßung eines Fremden in China: Es wird nicht einfach nach seinem Namen gefragt, sondern nach „Ihrem hoch geschätzten Familiennamen“.

Hinzu kommt, dass man in der traditionellen chinesischen Kultur nach einer Wertschätzung des menschlichen Lebens vergeblich suchen wird. Weder im Konfuzianismus noch im Taoismus oder Buddhismus wird viel über den besonderen Wert des Lebens gesprochen, ganz zu schweigen von einer Überlegenheit oder Heiligkeit des menschlichen Lebens. Im Buddhismus gibt es keinen Unterschied zwischen Leben und Tod. Das Leben hat nicht mehr Wert als der Tod: Beide sind Illusionen. Der Taoismus sieht das menschliche Leben sehr nüchtern: Für Zhuangzi ist das Leben eines Menschen nichts anderes als das eines Tieres oder einer Pflanze. Es ist kein Zufall, dass heutzutage die Todesstrafe weltweit am häufigsten in China vollstreckt wird. Nicht nur, weil Rache eine wichtigere Rolle bei der Bestrafung spielt als Gerechtigkeit, sondern eben auch, weil in der traditionellen chinesischen Kultur der einzelne Mensch keinen besonderen Wert besitzt.

Überhaupt ist Chinas Sinn für Gerechtigkeit ein anderer als der des Westens. In der chinesischen Geschichte hat es immer wieder Ereignisse gegeben, bei denen viele Tausende Menschen getötet wurden. Doch der Einzelne neigt dazu, dem dafür verantwortlichen Herrscher zu verzeihen und dann zu vergessen. Ein Chinese wird sich hüten, so energisch auf Gerechtigkeit zu pochen wie jemand aus dem Westen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass es lange Zeit in China gar nicht möglich war, absolute „reine“ Gerechtigkeit zu erfahren. Diese Unmöglichkeit spiegelt sich auch in buddhistischen und taoistischen Lehren. Jeder Chinese kennt das Sprichwort: „Es gibt keine Fische, wenn das Wasser absolut rein ist. Man hat keine Freunde, wenn man absolute Reinheit in seinen Beziehungen zu anderen sucht.“ Dieses Verständnis von Gerechtigkeit hält Menschen davon ab, leidenschaftlich für liberale Demokratie und für Eigenverantwortung einzustehen. Umgekehrt aber bedeutet es, dass, wenn die Demokratisierung erst einmal erreicht ist, die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft nicht wirklich groß ist. Denn die Gesellschaft sucht keine Rechenschaft für vergangene Ereignisse, sie vergibt und vergisst.

Und schließlich befinden sich all diese Werte im Wandel. So ist die konfuzianische Norm, wonach „der Herrscher seinen Untertanen führt, der Vater seinen Sohn und der Ehemann seine Frau“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast vollständig verschwunden. Die chinesische Kultur hat einige grundlegende Veränderungen durchgemacht. Wie wirken sich diese Wandlungen auf eine Synthese traditioneller chinesischer Kultur und liberaler Demokratie aus?

Erschütterter Glaube

Nachdem die Engländer durch den Ersten Opiumkrieg (1839/42) Chinas Tore zur Welt weit aufgestoßen hatten, begann das Reich der Mitte, seinen Austausch mit der westlichen Welt zu intensivieren. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Während der ersten, bis 1898 währenden Phase war China befremdet von westlichen Werten und Institutionen, insbesondere von liberaler Demokratie. Für einen Chinesen war es undenkbar, den Herrscher und seine Untertanen als moralisch, intellektuell und politisch gleichrangig zu betrachten – welch eine unbegreifliche und angsteinflößende Welt, in der eine solche Gleichstellung möglich ist! Werte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit waren unbekannt. Dass es überhaupt freie Meinungsäußerung und Zusammenkünfte gab, lag nur daran, dass der Herrscher einen kleinen Spielraum für günstig erachtete.

Auch nachdem China in mehreren Kriegen empfindliche Niederlagen gegen westliche Mächte einstecken musste, erkannte das Reich der Mitte die Vorzüge der liberalen Demokratie zunächst nicht. 1840/42 verloren die Chinesen gegen England, 1856/60 gegen England und Frankreich und 1884/85 gegen Frankreich. Aus diesen Niederlagen nahm China die Erkenntnis mit, dass seine Waffentechnik veraltet war. Der Glaube, dass das eigene politische und wirtschaftliche System dem westlichen überlegen sei, blieb unerschüttert. Erst als man von Japan, bis 1894 eher als Juniorpartner erachtet, gedemütigt wurde, erkannten die Chinesen fundamentale politische und wirtschaftliche Probleme in ihrem Land. Vier Jahre später verkündete der junge Kaiser Guangxu eine Reform hin zu einer konstitutionellen Monarchie. Obwohl dieser Reformversuch rasch abgewürgt wurde, markiert er einen Wendepunkt. Seitdem ist China auf dem langen und steinigen Weg zur liberalen Demokratie – allen Rückschlägen zum Trotz.

Zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden diverse Versuche unternommen, eine demokratische Republik zu errichten, gleichzeitig traten aber auch die Verfechter einer absolutistischen Monarchie auf den Plan. Dabei taten sich die Chinesen schwer, liberaldemokratische Institutionen anzunehmen und zu verinnerlichen. Es zeigte sich, dass es Elemente in ihrer Kultur gibt, die mit den Werten und Normen der liberalen Demokratie nicht kompatibel sind.

Das Ende der Akzeptanz

Die Kritik an der traditionellen chinesischen Kultur fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Forum in der „Neuen Kulturbewegung“. Diese Bewegung war in mancherlei Hinsicht ein Meilenstein in der Synthese zwischen chinesischer Kultur und liberaler Demokratie: von der Idee der Gleichstellung (daher die Abschaffung von Hierarchien und blindem Gehorsam) über die Einführung der Volkssouveränität (daher die Ablehnung der Vorstellung, der Kaiser sei der Sohn des Himmels) bis hin zur Gewaltenteilung (daher die Aufhebung der zentralen Machtausübung).

Natürlich hat es seither eine ganze Reihe von Machthabern in China gegeben, deren Regierungsstile denen der Kaiser ähnelten. Ihre Macht jedoch begründete sich in der Angst des Volkes vor dem Herrscher – und nicht wie zuvor in der bereitwilligen Akzeptanz. Kaiserliche Machtfülle konnte nicht mehr langfristig durch spirituelle Werte gerechtfertigt werden, sondern nur durch kurzfristige materielle Ziele.
Chiang Kai-shek und Chiang Ching-kuo etwa, die zwischen den späten Vierzigern und 1988 zunächst auf dem Festland, später in Taiwan herrschten, legitimierten ihre Macht mit dem Kampf gegen den Kommunismus. Und Mao Zedong rechtfertigte seine nahezu absolutistische Macht umgekehrt mit der Notwendigkeit, die Revolution unter der Diktatur des Proletariats weiterzuführen. Als diese Notwendigkeit nicht mehr gegeben war, gab es auch keine Unterstützung mehr für seine absolutistische Macht.

Repräsentative Institutionen und Gewaltenteilung sind in China bis heute schwach ausgeprägt. Doch die Werte der Gleichheit, der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die chinesische Kultur integriert. Der Übergang zu stärkeren repräsentativen Institutionen und einer Gewaltentrennung wird nicht aufzuhalten sein, auch wenn es zunächst Rückschläge geben mag.

Universelle Menschenrechte sind notwendige Bestandteile einer liberalen Demokratie. Abgesehen von der politischen Partizipation, die im Konzept der Volkssouveränität enthalten ist, etablierten sich diese Werte in China erst in den neunziger Jahren. Das hatte zunächst einmal mit einem intensiveren Austausch mit dem Ausland zu tun, auch auf akademischer, journalistischer und zivilgesellschaftlicher Ebene. Die Debatten um die Ein-Kind-Politik führten dazu, dass das Bewusstsein für den Wert des menschlichen Lebens stieg. Und schließen trugen auch die verbesserten Lebensbedingungen dazu bei, dass es für die Chinesen nicht mehr nur ums bloße Überleben ging, sondern darum, das Leben wertzuschätzen und zu genießen. 2004 wurde der Schutz der Menschenrechte in die Verfassung aufgenommen.

Ein weiterer Eckpfeiler der Neuen Kulturbewegung war der Individualismus, auch wenn er oft als Egoismus missverstanden und kritisiert wurde. Doch die jüngere Generation versteht und akzeptiert diese Idee. Umfragen belegen, dass die Akzeptanz von Werten wie Individualismus bei Chinesen, die nach 1970 geboren sind, im gleichen Maße gestiegen ist wie es seinerseits bei den nach 1950 geborenen Japanern, Südkoreanern und Taiwanesen der Fall war.

Wenn Hierarchien, das Konzept des Herrschers als Sohn des Himmels und die Missachtung des menschlichen Lebens die chinesische Mentalität nicht mehr bestimmen, steht einer Synthese zwischen traditioneller chinesischer Kultur und liberaler Demokratie kaum mehr etwas im Weg. Das wird noch deutlicher, wenn wir den Vergleich mit anderen ostasiatischen Ländern wagen. Taiwan ist seit den neunziger Jahren eine liberale Demokratie; in welchem Maße das in Hongkong gelingt, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Singapur befindet sich irgendwo in der Mitte zwischen Demokratie und Autokratie, wobei die Chancen für eine Demokratisierung gestiegen sind, nachdem die Gründungsväter abgetreten sind. Japan wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Demokratie, Südkorea in den neunziger Jahren. In allen Fällen wurde liberale Demokratie von außen importiert; anfangs war das Konzept der jeweiligen Kultur völlig fremd. Über Jahrhunderte jedoch hatte sich eine Synthese aus traditioneller ostasiatischer Kultur und liberaler Demokratie herausgebildet, obwohl einige Unwägbarkeiten bleiben.

Auf dem chinesischen Festland wird die Synthese aus traditioneller Kultur und liberaler Demokratie ganz eigene Institutionen hervorbringen. Das hat mit Chinas Geografie zu tun, seiner Geschichte, Religion, den sozialen und Wirtschaftsstrukturen, den internationalen Beziehungen. Was die Werte betrifft, wird die Synthese jedoch bald zustandekommen – und weitgehend identisch mit jener in den anderen ostasiatischen Ländern ablaufen.

HAIRONG LAI ist Direktor im Center for Overseas Social and Philosophical Theories im ZK der KPCh. Der Text spiegelt seine eigene Meinung wider

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 124-131

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