Völkerrecht und internationale Politik
Ein ambivalentes Verhältnis
Was kann, was muss das Völkerrecht heute, in Zeiten der Globalisierung, überhaupt leisten? Welche Bedeutung hat es? Wie kann demokratisches und effektives Regieren jenseits des Nationalstaats möglich sein? Die
Meinungen darüber gehen weit auseinander. An die Vereinten Nationen werden hohe Erwartungen gestellt; es kommt jetzt darauf an, was die Mitgliedstaaten aus diesem so wichtigen Rahmen machen.
Die Organisation der Vereinten Nationen (UN) macht – wie so oft in ihrer 60-jährigen Geschichte – Sprünge auf der Beliebtheitsskala wie sonst kaum eine internationale Organisation. Den „UN-Enthusiasten“, bei denen die Organisation für alles Gute und Schöne dieser Welt verantwortlich zu sein scheint und Defizite immer nur den Mitgliedstaaten angelastet werden, stehen die Fundamentalkritiker gegenüber, die kein gutes Haar am vermeintlichen Zentralorgan des Multilateralismus lassen und die die UN in wichtigen Fragen der internationalen Politik für irrelevant halten.
Mit der Realität haben diese politischen Extrempositionen wenig gemein. Dennoch besteht in der internationalen Politik weitgehender Konsens darüber, dass die Organisation reformiert werden muss, weil Strukturen und Verfahren nicht mehr den weltpolitischen Realitäten entsprechen. Das weitgehende Scheitern der UN-Reform auf dem Gipfeltreffen Mitte September in New York macht es aber notwendig, auch jenseits der Tagesaktualität sehr viel grundsätzlicher über einige zentrale Fragen des internationalen Systems nachzudenken. Neben wichtigen inhaltlichen Fragen, die am East River zum 60. Geburtstag der Weltorganisation einstweilen vertagt worden sind (dazu zählen Herausforderungen wie die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, aber auch institutionelle Aspekte wie die Reformunfähigkeit des Sicherheitsrats), muss auch ein strukturelles Element der internationalen Ordnung zunehmend kritisch in den Blick genommen werden: das ambivalente Verhältnis zwischen Völkerrecht und internationaler Politik.
Hinsichtlich der Geltung des Völkerrechts lassen sich sehr unterschiedliche Begründungszusammenhänge aufzeigen. Eine politikwissenschaftliche Betrachtung muss mit der Beantwortung einiger grundlegender Fragen nach der Ordnung des internationalen Systems beginnen:
- Bis zu welchem Grad kann den Staaten die Erosion ihrer Souveränität zugunsten kollektiver Mechanismen zugemutet werden?
- Inwieweit halten sich die Staaten an gemeinsam verabredete Beschlüsse und in welchem Maße ist deren Verletzung, Missachtung oder mangelnde Unterstützung hinnehmbar?
- Wie können Macht und Recht in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht und widerstreitende Interessen in konstruktiver Weise ausgeglichen werden?
Auf diese Fragen lassen sich verschiedene Antworten formulieren, die dann jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die daraus ableitbare Rolle der UN in der interna-tionalen Politik haben. Einerseits wird ihr lediglich eine untergeordnete Rolle beigemessen und Reformbemühungen sollen sich darauf beschränken, die Effizienz der Organisation in den Bereichen zu erhöhen, in denen sich die Mitgliedstaaten einig sind, dass sie die UN als Forum, Akteur oder Instrument nutzen wollen. Andererseits werden hohe Erwartungen an die UN gestellt, die bis hin zu der Hoffnung reichen, mit Hilfe der UN ein internationales Milieu zu formen bzw. zu stabilisieren, in dem Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden und die Zusammenarbeit zwischen Staaten norm- und regelgeleitet abläuft.
Dabei ist das Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlichen Grundsätzen – wie sie etwa in der Charta der Vereinten Nationen festgelegt sind – auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite offenkundig. Wesentliche völkerrechtliche Grundsätze basieren mithin auf Regeln, die in der Praxis internationaler Politik immer aufs Neue relativiert, verändert oder schlichtweg systematisch missachtet werden: Der souveränen Gleichheit aller Staaten steht ein ausgeprägtes Machtgefälle, der Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung allgegenwärtige Gewalt im internationalen System gegenüber, und trotz des Allgemeinen Gewaltverbots nehmen sich Staaten immer wieder das Recht auf unilaterale Gewaltanwendung.
Zudem erzwingt die Globalisierung grundlegender Problembereiche eine Erosion staatlicher Souveränität, die aber gemäß der UN-Charta und dem festgeschriebenen Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten untersagt ist. So ist es nicht verwunderlich, dass es in der Wissenschaft, aber auch in der Politik der Staaten sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen hinsichtlich der Bedeutung des Völkerrechts gibt. Die beiden Extrempositionen lassen sich wie folgt zuspitzen:
- Eine – insbesondere in Deutschland weit verbreitete – „legalistische Schule“ sieht in völkerrechtlichen Arrangements ein extrem hohes Gut, dem politische Erwägungen unterzuordnen sind. Wenn Staaten Verpflichtungen eingegangen sind, dann müssen sie sich auch an diese halten, weil andernfalls eine Grundvoraussetzung internationaler Kooperation beschädigt wird. Es wird akzeptiert, dass durch völkerrechtliche Arrangements die staatliche Souveränität insofern beschnitten wird, als dass diese staatliches Verhalten determinieren.
- Eine „politikorientierte Schule“ stellt völkerrechtliche Arrangements stärker in einen politischen Kontext und betont, dass es letztlich politischen Entscheidungen der Regierungen vorbehalten bleiben soll und muss, ob sich diese an überstaatliche Regelungen halten oder nicht. Völkerrechtliche Regelungen sind ein Abwägungsfaktor unter vielen anderen und dürften demnach nicht den Anspruch erheben, maßgeblich handlungsleitend zu sein.
Internationales System und völkerrechtliche Arrangements
Völkerrecht wird vorwiegend als das Recht verstanden, das die zwischenstaatlichen Beziehungen regelt, und bezieht sich mithin auf den Umgang von souveränen Staaten miteinander. Seit geraumer Zeit ist allerdings der Bereich der internationalen Organisationen hinzugekommen, so dass Völkerrecht heute als das Recht betrachtet werden kann, das das Verhalten von Staaten und internationalen Organisationen betrifft. Die im englischsprachigen Raum gebräuchliche Bezeichnung Internationales Recht (International Law bzw. Internationales Öffentliches Recht) bezeichnet in erster Linie die Regelung von Rechtsbeziehungen, die über das Gebiet eines einzelnen Staates hinauswirken (u.a. Internationales Privat-, Prozess-, Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits- oder Sozialrecht). Nach einer gängigen rechtswissenschaftlichen Definition lässt sich Völkerrecht bzw. Internationales Öffentliches Recht wie folgt definieren: Es „umfasst zum einen die Prinzipien und Verhaltensregeln, an die sich Staaten gebunden fühlen und die sie deshalb in ihren gegenseitigen Beziehungen beachten, sowie solche Rechtsregeln, die sich auf die Funktionsweise internationaler Institutionen und Organisationen sowie deren Beziehungen zueinander und ihre Beziehungen zu Staaten und Individuen beziehen und schließlich einige Regeln, die auf Individuen und nichtstaatliche Einheiten insoweit Bezug nehmen, als diese Einheiten in den Kreis der internationalen Rechtsgemeinschaft einbezogen sind.“1
Die wichtigsten Völkerrechtsquellen, wie sie in Artikel 38 Absatz 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH) beschrieben werden, sind Verträge und Übereinkünfte, allgemeine Rechtsgrundsätze sowie das so genannte Völkergewohnheitsrecht. Mit Völkergewohnheitsrecht ist die allgemeine, freiwillige und beständige Praxis der Staaten gemeint, aus eigener Überzeugung einer rechtlichen Verpflichtung nachzukommen. Dies setzt voraus, dass die Staaten das Gewohnheitsrecht in der Praxis beachten. Im Falle der Missachtung seitens einzelner Staaten steht – und das ist Kern der Aussage vom Völkerrecht als politischem Recht – nicht wie im nationalen Recht ein wirksames und für alle Betroffenen gleiches Instrumentarium im Sinne eines Strafverfolgungssystems zur Verfügung, sondern es liegt im Ermessen der Staaten selbst, wie reagiert werden soll. Dieses Ermessen wird durch politische Kategorien und Interessen bestimmt, die mit den rechtlichen Aspekten nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen. Der wichtigste Unterschied zum nationalen Recht ist mithin, dass es keine wirksame Instanz gibt, das Recht auch durchzusetzen. Wer diesen Unterschied nicht hinreichend zur Kenntnis nimmt, wird zu falschen Schlussfolgerungen kommen.
Staatensouveränität und Globalisierung
Zwar bleibt das Prinzip der Staaten-souveränität im Kern weiterhin unbestritten, doch sind die „domaines reservées“ der Staaten deutlich kleiner geworden. Es bleibt offen, ob diese Entwicklung bereits als eine Veränderung der Grundsätze hin zu einer „Weltinnenpolitik“ angesehen werden kann. Die seit mehr als zehn Jahren praktizierte, weitreichende Auslegung insbesondere des in Artikel 2 Absatz 7 der UN-Charta festgelegten Verbots der Einmischung in „Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ verweist aber auf eine voranschreitende Erosion staatlicher Souveränität vor allem in humanitären Belangen und bei der Anwendung innerstaatlicher Gewalt.
Einen großen Teil des gegenwärtigen Weltordnungsdiskurses macht zudem die Frage aus, ob im Zeitalter der Globalisierung und der zunehmenden Interdependenz über zwischenstaatliche Politik hinaus verbindliche Regelungen geschaffen werden können und müssen, die die in zahlreichen Politikfeldern erodierende nationale Souveränität im globalen Interesse relativieren und gleichzeitig die Fähigkeit zur Steuerung grenz-überschreitender Probleme zurückgewinnen. Wie unter diesen Voraussetzungen demokratisches und effektives Regieren jenseits des Nationalstaats möglich sein kann, gehört zu den offenen Fragen der Politikwissenschaft. In einer kleiner werdenden Welt existiert ein Bedarf an Leistungen, die traditionell durch den Staat erbracht worden sind und heute nicht mehr durch diesen übernommen werden können. „Eine wachsende Zahl von grenzüberschreitend tätigen Akteuren benötigt allgemein verbindliche Regeln und andere öffentliche Leistungen, die sie in den Stand versetzen, ihre jeweils eigenen ebenso wie gemeinsame Interessen zu verfolgen, und die verhindern, dass Interessenskonflikte in einer für die Beteiligten wie für Dritte destruktiven Weise ausgetragen werden“.2
Wie dies zu erreichen ist, wird kontrovers diskutiert. Vertreter der so genannten „realistischen Schule“ sehen insofern keinen Handlungsbedarf, als Globalisierung zwar das ökonomische, soziale und kulturelle Leben erheblich verändern mag, der Nationalstaat aber zentrale Instanz in der internationalen Politik bleibt. Vertreter der so genannten „idealistischen Schule“ bewerten diesen Befund anders. Für sie bedeutet Globalisierung eine fundamentale Transformation weltpolitischer Prozesse, die realistische Vorstellungen zunehmend obsolet erscheinen lassen. Internationale Beziehungen stellen sich für sie als Spinnwebmodell dar, bei dem der Staat als ein (wichtiger) Akteur unter vielen verstanden wird, aber nicht mehr in der Lage ist, das Geschehen auf seinem Territorium isoliert zu bestimmen. Da aber gleichwohl hoher Regelungsbedarf für grenzüberschreitende Probleme gesehen wird, wird nach alternativen Steuerungsmodellen in der globalisierten Welt gesucht.
Ein Versuch zur Bewältigung der globalen Herausforderungen wird unter dem Schlagwort Global Governance diskutiert. Darunter wird ein alternatives Steuerungsmodell des internationalen Systems verstanden, das sowohl internationale Organisationen als auch informelle Regelungen und Normen umfasst. Das Konzept ist ausdrücklich nicht mit gelegentlich anzutreffenden Vorstellungen von einer Art Weltregierung (Global Government) zu verwechseln, sondern ist am besten mit dem Begriff Weltordnungspolitik zu übersetzen. Somit meint Global Governance, verstanden im Sinne der deutschen Übersetzung als „Weltordnungspolitik“:
- die Neudefinition staatlicher Souveränität, mit der die Basisprinzipien des Souveränitätskonzepts (Unverletzbarkeit der Grenzen, Verbot der Einmischung in „innere“ Angelegenheiten, alleinige Verfügungsgewalt des Staates über gesellschaftliche Verhältnisse) in Frage gestellt werden;
- die Verdichtung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch internationale Organisationen und Regime, die als institutionalisierte Formen des norm- und regelgeleiteten Verhaltens bei der politischen Bearbeitung von Konflikten in unterschiedlichen Sachbereichen verstanden werden und die auf gemeinsamen Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren aufbauen sowie
- die Fokussierung auf die Erweiterung des Kreises der Akteure über die Staaten und klassische internationale Organisationen hinaus und die Entwicklung eines neuen Politikstils.3
In diesem mühsamen Prozess der Weltordnungspolitik spielen völkerrechtliche Arrangements – mit den Vereinten Nationen als institutionellem Zentrum – eine tragende Rolle. Dieser Struktur- und Funktionswandel des internationalen Systems hat aber wiederum Rückwirkungen auf das Völkerrecht. Während es traditionell hauptsächlich um die Koordinierung zwischenstaatlicher Beziehungen ging (Koordinationsvölkerrecht), entwickelte es sich in den vergangenen Jahrzehnten aus sachlogischen Gründen zunehmend zu einem „Kooperationsvölkerrecht“. Der Bedeutungswandel des Staates in der internationalen Politik und die zunehmende transnationale Vernetzung verschiedenartiger Akteure werfen wiederum neue Fragen für das Völkerrecht auf. Möglicherweise wird nach Koordinierung und Kooperation eine dritte Etappe unter dem Zeichen der Globalisierung das Völkerrecht und die internationale Politik nachhaltig verändern.4
Völkerrechtsordnung im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik
Letztlich sind seit jeher zwei Herangehensweisen an das Verhältnis von Völkerrecht und internationaler Politik feststellbar, die sich als Dissens zwischen den children of light und den children of darkness umschreiben lassen. Aus der europäischen Aufklärung stammt eine Vorstellung, die auf das Gute, die Vernunft und die Lernfähigkeit des Menschen setzt. In dieser Interpretation sind in einer zunehmenden Zahl an Politikbereichen völkerrechtliche Regelungen nicht nur sinnvoll – das würde wohl ernsthaft niemand bestreiten – sondern vielmehr auch machbar.
Der Gegenentwurf sieht die Welt hingegen durch das Schlechte beherrscht und anarchisch strukturiert. Nur eigene Stärke und das Prinzip der Selbsthilfe könnten Konflikte verhindern. Einer multilateralen Sichtweise, in der Verhandlungen, Überzeugung, Konsenssuche und diplomatische Lösungen dominieren, steht eine unilaterale Perspektive gegenüber, in der auf internationale Regelungen letztendlich kein Verlass ist und in der im Extremfall Zwang vor Überzeugung geht.5 Damit ist die grundlegende Frage nach der Machbarkeit tragfähiger übernationaler Vereinbarungen gestellt. Ganz offenbar gibt es jedenfalls international keinen Konsens darüber, ob das Völkerrecht zunehmend bindend sein soll.
Wenn über eine Reform der Völkerrechtsordnung nachgedacht wird, meint dies gleichwohl nicht, dass „das“ Völkerrecht insgesamt gescheitert sei oder in Frage gestellt würde. Die Reformdiskussion bezieht sich vielmehr auf die Frage, wie im sicherheitspolitischen Bereich mit gefährlichen Risikokombinationen der Zukunft umgegangen werden soll, ohne – wie etwa im Fall des Irak-Krieges 2003 geschehen – die UN-Charta zu missachten. Gleichwohl wurde auch durch die heftigen Auseinandersetzungen im Sicherheitsrat über den Krieg im Irak im Jahr 2002/03 die bestehende Völkerrechtsordnung nicht zerstört. Sie und ihr institutionelles Zentrum, die Vereinten Nationen, stecken aber – jedenfalls im Bereich der Friedenssicherung – in einer tiefen Krise, in die führende Mitglieder sie gebracht haben und aus der sie nur durch eine neue pragmatische Zusammenarbeit eben dieser Staaten herausfinden können.
Auch für künftig erforderlich werdende neue Initiativen und Reaktionsweisen bei der Vorsorge bzw. Abwehr komplexer Risiken bleibt der UN-Sicherheitsrat ein entscheidender Partner der Staaten, weil er – zumindest in der Sichtweise der überwiegenden Mehrheit der Staaten – ein gerade im strategischen Bereich kostbares Gut zu vergeben hat: Legitimität. Die weltweite Perzeption der in der US-Sicherheitsstrategie formulierten Analysen und Antworten hätte wohl deutlich weniger bedrohlich ausfallen können, wenn sie unter Einbeziehung der Vereinten Nationen und deren unbestrittene Kompetenzen bei der Herausbildung von Kriterien und Maßstäben für eine legitime und weithin akzeptable Implementierung einer neuen Sicherheitskonzeption erfolgt wäre. Die zweifellos erforderlichen Anpassungen völkerrechtlicher Normen und institutioneller Vorkehrungen können nicht mit Aussicht auf Erfolg einseitig diktiert werden, sondern bedürfen zu ihrer weltweiten Akzeptanz einer breiten Basis, die die UN zu bieten haben. Der Ausgang der jüngsten Reformbemühungen im UN-Bereich, insbesondere die Sicherheitsratsreform, wird zeigen, ob eine Anpassung an die politische Realität gelingen wird.
Das Völkerrecht insgesamt ist zwar alles andere als perfekt, es hat sich aber in den vergangenen Jahrzehnten und insbesondere seit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs äußerst dynamisch entwickelt. Das vorherrschende völkerrechtliche Paradigma ist nicht mehr die „ungebundene staatliche Souveränität“, die nur punktuell durch Einzelregelungen abgeschwächt wird. Die „Westfälische Ordnung“ ist insofern kräftig durchlöchert worden. So wird die Vielzahl völkerrechtlicher Verträge, die die Grundlage des internationalen Verkehrs, des Wirtschaftsaustauschs, aber auch des internationalen Menschenrechtsschutzes betreffen, von der Debatte um das Allgemeine Gewaltverbot nicht berührt. Jeder Kundige weiß, „dass der größte Teil der völkerrechtlichen Regelungen von den daran gebundenen Staaten ganz unproblematisch befolgt wird und, ebenso wie das für das nationale Recht gilt, einen sicheren Ordnungsrahmen für weltweite Aktivitäten darstellt“.6 Es ist mithin schlicht „ein Faktum, dass die Staaten tagtäglich in unzähligen Fällen völkerrechtliche Regelungen beachten bzw. nach Gründen für die Rechtfertigung für die von diesen Regeln abweichendes Verhalten suchen“.7
Auf der anderen Seite bleiben weite Bereiche des Völkerrechts politisches Recht, das in erster Linie von den Interessen und Überzeugungen der Staaten abhängt, sich diesem Recht freiwillig zu unterwerfen und es als handlungsleitend anzuerkennen. Eine „Supranationalisierung des Völkerrechts“ – also die Herausbildung von verbindlichen und sanktionierbaren Regelungen – mag normativ wünschenswert sein, geht aber an der politischen Realität vorbei. Zudem gilt für das Völkerrecht, wie für alles Recht, „dass es seine Rechtfertigung nicht in sich selbst trägt, sondern ein Mittel zur effektiven Verwirklichung menschlicher und gemeinschaftlicher Werte darstellt“.8 An diesem Maßstab muss sich das Völkerrecht in allen Einzelbereichen stärker als bisher messen lassen.
Was bedeutet dies nun für die eingangs konstatierte Krise der Vereinten Nationen, die nach dem Scheitern des Jubiläumsgipfels ganz offensichtlich ist?9 Dass die Kraft zu einem großen Reformschritt aufgebracht wird, steht nicht zu erwarten. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen in den Mitgliedstaaten darüber, was die Organisation in welchen Politikfeldern leisten und wie intensiv sich ihres Instrumentariums bedient werden soll. Die Weltorganisation war in ihrer Geschichte stets abhängig von den wechselhaften politischen Konjunkturen für multilaterale Zusammenarbeit und der Reformprozess dürfte sich auch weiterhin vornehmlich in kleinen Schritten vollziehen.
Multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der UN ist oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Andererseits sind andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von „wishful thinking“ eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen und die Weltorganisation nicht zu überfordern oder gar von ihr Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen kann. Multilateralismus ist kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll, wenn damit Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der internationalen Sicherheit, wo mitunter schnelles und effizientes Handeln unerlässlich ist. Aber auch in anderen Bereichen ist nüchtern über ein „downsizing“ der UN nachzudenken und zu überlegen, wo der Vorteil einer globalen Organisation gegenüber anderen bi- oder multilateralen Foren liegt. Viel gewonnen wäre bereits, wenn sich die Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen gemeinsamer Handlungsbedarf definiert wurde, intensiver engagierten.
Kritisch zu fragen ist, ob die zunehmende Floskelisierung der internationalen Politik (also der Trend, permanent vollmundige Versprechungen ohne realistische Umsetzungsstrategien zu machen) nicht zu einem erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust der UN wie auch zur Diskreditierung multilateraler Zusammenarbeit führen muss. Die Chancen für einen „großen Wurf“ beim Thema UN-Reform sind mithin gering und die Weltorganisation dürfte auch zukünftig nicht in der Lage sein, die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen.
Der anhaltende Reformbedarf sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Weltorganisation für die Stabilität des internationalen Systems unverzichtbar ist. Sie hat sich, trotz aller Schwächen, als eine Institution erwiesen, mit der flexibel auf neue (und alte) Herausforderungen reagiert werden kann. Es kommt wie so oft darauf an, was die Mitgliedstaaten aus diesem Rahmen machen.
Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 115 - 121.