Versprochen, gebrochen
Technologie
Genforschung und Gentherapie sollen in Zukunft Großes bewirken. Doch bereits ihre Gegenwart steckt voller Probleme
Das Jahrtausend hatte kaum begonnen, da sanken sich notorisch verfeindete Wissenschaftler in die Arme. Feuilletonisten gerieten in Wallung, stammelten vom größten Ding seit der Druckerpresse. Ja selbst Politiker suchten plötzlich die schmückende Nähe der Wissenschaft, bildeten bedeutungsschwere Sätze, voll von Wörtern wie Menschheit, Genie und Zukunft. Was war geschehen? Das menschliche Genom war entschlüsselt worden. Ein Riesenberg Code lag auf dem Tisch. Seltsame Buchstabenfolgen. Die große Stunde der Genforschung schlug. Korken knallten. Geld floss in Strömen. Und manch Kranker schöpfte leise Hoffnung auf Genesung.
Höchste Zeit für eine kleine Zwischenbilanz. Wobei einmal nicht von den stets spektakulären Klonern, Fälschern und Menschenzüchtern die Rede sein soll, sondern vom harten Wissenschaftsalltag. Auch vom Geschäft. Geforscht wird überall. Billionen von Basen stecken schon in den gewaltigen Datenbanken der Genetiker. Über tausend Studien sind angelaufen. Wie geht es dieser so hoffnungsfrohen Branche? Wohin des Weges? Wo sind die Erfolge, die Helden, die Gewinne?
Schon vor der Entschlüsselung des Genoms anno 2001 hat es Gentherapieversuche gegeben. Die Pioniere, erkennt man aus heutiger Sicht, waren oft ebenso euphorisch wie ahnungslos. Es wäre ja auch wirklich wunderbar, wenn Menschen mit Erbkrankheiten, die ihnen das Leben zur Hölle machen und sie schließlich umbringen, einen Ausweg fänden; wenn die Medizin einen Trick parat hätte, das defekte Gen auszuschalten, zu reparieren, zu ersetzen. Wenn sich gar die großen Killer mittels Gentherapie eindämmen ließen. Und daher wird viel geforscht: neben den „monogenen“, also von einem Gendefekt verursachten Erbkrankheiten vor allem in den Bereichen Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen und Infektionskrankheiten wie HIV. Viele Claims sind abgesteckt. Über 4000 Gene, rund 20 Prozent der menschlichen Erbinformation, sind mittlerweile durch Patente geschützt, die vor allem US-Firmen und -Universitäten innehalten. Kritiker nennen das „intellektuellen Landraub“.
Was ist überhaupt Gentherapie? Es ist der Versuch, durch die Veränderung von Genen in den Zellen eines Menschen eine Krankheit zu heilen oder doch zu lindern. Das kann durch Verabreichung genetischen Materials in den Körper geschehen (in vivo) oder durch Veränderung entnommener Zellen im Labor (ex vivo / in vitro), die sodann in den Körper zurückbefördert werden müssen. Trotz tausender Projekte und jahrelanger Versuche, resümiert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in einer frischen Studie zur „Entwicklung der Gentherapie“, sei der Zweig noch immer in einem „Pilotstadium“. Auch das Wissenschaftsmagazin The Scientist kommt zu dem Schluss, Genforschung sei noch immer „hochgradig experimentell“. Und nur wenige seltene genetisch bedingte Krankheiten seien bislang überhaupt Kandidaten für eine Gentherapie. Die Branche, klagen amerikanische Venture-Kapitalisten, habe „overpromised and underdelivered“. Zu viel versprochen, zu wenig eingelöst.
Man kann es auch anders herum sehen: Die Erwartungen waren viel zu groß. Denn die Arbeit, da scheinen sich alle einig, ist weit komplizierter, als man im ersten Begeisterungsschwung ahnen konnte. Das richtige Gen muss zur richtigen Zeit in die richtige Zelle. Es gibt viele Risiken: Abwehrreaktionen und andere unschöne Nebenwirkungen. Die Forscher wissen viele Details und ahnen trotzdem nur, was vor sich geht. Denn die Biochemie ist hochkomplex.
Zumal es schwere Rückschläge gab. Etwa bei der zunächst besonders erfolgversprechenden Behandlung von Kindern mit der Immunschwächekrankheit X-SCID am Pariser Necker-Hospital. Die Immunschwäche ist bei X-SCID derart ausgeprägt, dass Menschen mit diesem Gendefekt nur unter einem sterilen Plastikzelt überleben können. Die meisten per Gentherapie behandelten Kinder dagegen konnten zuhause leben. Plötzlich aber hatten drei Kinder Leukämie. Ein Junge starb. Der Versuch wurde abgebrochen, dazu ähnliche Versuche in den USA. Schon 1999 war ein Patient des Institute of Human Gene Therapy der University of Pennsylvania gestorben. Daraufhin wurde das Reglement gründlich überprüft. 2006 meldete ein deutsch-schweizerisches Team gentherapeutische Erfolge bei der Behandlung von Septischer Granulomatose, einer anderen seltenen Immunerkrankung. Doch auch hier gab es kurz darauf einen Todesfall.
Problematisch scheinen vor allem die Vehikel, mit denen das Erbmaterial vor Ort transportiert wird. So genannte Vektoren oder „Genfähren“ übernehmen den Lieferantenjob. Oft sind es umgebaute Retroviren. Doch wie genau sich diese Viren am Zielort verhalten, wo sie sich einnisten, ist schwer zu steuern. Bei den Pariser Fällen vermutet man, dass die Transportviren ein nahe gelegenes Gen LMO2 aktiviert und so die Leukämie ausgelöst haben. Kein Wunder also, dass etwa die DFG die „Verbesserung von Effizienz und Sicherheit der Gentransfer-Vektoren“ für besonders vorrangig hält. Und das Zusammenspiel von Grundlagenforschung und klinischer Praxis verbessern will. China meldet derweil die Zulassung von zwei Gentherapien zur Tumor-Behandlung. Die Gentherapie wird kommen. Doch sie braucht viel, viel mehr Zeit.
TOM SCHIMMECK, geb.1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.
Internationale Politik 2, Februar 2007, S. 136 - 137.