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01. Mai 2004

Verschenkte Chancen

Handlungsspielräume für die Bildungspolitik

Die PISA-Ergebnisse zeigen: Deutschland ist vom Vorbild zum Problemfall in der Ausbildung
geworden. Insbesondere Kinder aus bildungsfernen Schichten und ausländischer Herkunft leiden
unter den Schwächen des deutschen Bildungssystems, das durch eine frühe Auslese und ein
rigides Modell der Lebensphasen das Bildungspotenzial der Bürger unerfüllt lässt. Um dieses Potenzial
zu nutzen, darf lebenslanges Lernen keine leere Formel bleiben, sondern muss eine Institution
werden.

Bewundernd richtete sich einst der Blick von außen auf
das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem, auf die
Humboldtsche Universität, die vielen berühmten
Gelehrten, das duale System, das blühende Handwerk usw. Es
waren Konzeptionen mit Vorbildcharakter, um deren
offensichtliche Erfolge Deutschland von Ländern wie
England und den USA beneidet wurde – im 19. Jahrhundert.
Seit einiger Zeit bleibt die Bewunderung aus. Die
PISA-Ergebnisse1 führten zu heller Aufregung, obgleich die
Ergebnisse der Forschung nicht überraschen konnten: der
präzise OECD-Nachweis eines sehr geringen Anteils von
Personen im tertiären Bildungssystem, die vielen
ausbildungsfremd eingesetzten Personen, das Versagen des
deutschen Ausbildungssystems angesichts einer immer
kürzeren Halbwertzeit des Wissens; die vielen versteckten
Bildungsarmen und die nicht zu findende Elite, die, wo sie sich
zeigt, auch schon im Ausland ist und bleibt; das Scheitern von
Chancengleichheit, bezogen auf das soziale Herkunftsmilieu und,
noch gesteigert, auf die Benachteiligung von Personen mit
Migrationshintergrund. Das sind alles  keine Neuigkeiten
– doch nun ist der Blick international geschärft,
und wir können davon profitieren.

Wir profitieren davon, weil sich zeigt, dass nichts so sein
und bleiben muss. Institutionelle und gesellschaftliche
Rahmenbedingungen bewirken das ihre, und sie lassen sich
ändern. Der Blick auf Veränderungs- und
Reformpotenziale wird frei. Andere Länder bilden keine
Bildungsarmen aus, aber sie bilden stattdessen Eliten. Sie
tradieren nicht die soziale Schicht des Elternhauses, sie
integrieren auch Migranten. Die Bereiche von Bildung und
Ausbildung sind gestaltbar – und zwar schneller und
einfacher als der Arbeitsmarkt –, und durch ihre
Gestaltung können vernachlässigte
Handlungsspielräume erschlossen werden. Es gilt, die
Potenziale zu identifizieren und Ansätze zu ihrer
Förderung aufzuzeigen.

Die Ausgangslage

Das Bildungssystem hat eine Phase der Expansion durchlaufen.
Betrachtet man die Entwicklung zwischen 1952 und 2003 für
Schülerinnen und Schüler im 8. Schuljahr (in einem
Alter also, in dem in Deutschland die wesentliche
Weichenstellung, die Zuordnung zu einer der drei
Bildungsstufen, in allen Bundesländern erfolgt ist), dann
fällt Folgendes auf: Der Anteil von Hauptschülern
sinkt zwischen 1952 und 2003 um 54Prozentpunkte (von 78 auf
24%). Im gleichen Zeitraum steigt der Anteil von Gymnasiasten
um 16 Prozentpunkte (von 15 auf 31 %) und der Anteil von
Realschülern um 19 Prozentpunkte (von 7 auf 26%). Bis in
die neunziger Jahre war die Hauptschule somit der am meisten
besuchte Schultyp, Mitte der neunziger Jahre wird sie vom
Gymnasium abgelöst. Diese Verschiebungen werden in der
Soziologie häufig als Niveaueffekte bezeichnet: Das
Bildungsniveau von Schülerinnen und Schülern 2003 ist
wesentlich höher als das Bildungsniveau im Jahr 
1952. Damit hat die Ungleichheit in den
Bildungsabschlüssen über die Zeit zugenommen, da der
vormals starken Konzentration auf den Hauptschulabschluss eine
Streuung über eine Vielfalt von unterschiedlichen
Bildungsabschlüssen gefolgt ist.

Bildungsverteilung

Die Bildungsverteilung einer Gesellschaft sagt viel
über deren Innovationskraft und wirtschaftlichen Erfolg
aus. Sie stellt aber auch einen individuellen Schutz vor
Arbeitslosigkeit und Deprivationslagen dar, und dies geschieht,
obwohl es immer mehr Personen mit höherer Bildung gibt.
Die empirische Forschung zeigt: Personen mit höherem
Schulabschluss erzielen auch heute noch ein wesentlich
höheres Einkommen als Personen mit niedrigem Abschluss.
Ebenso eindeutig unterscheidet sich das Risiko, arbeitslos zu
werden, nach schulischer Bildung. In den alten
Bundesländern sind im Jahr 2002 19,8% aller Arbeitslosen
ohne Berufsabschluss, in den neuen Bundesländern indes
liegt ihr Anteil bei 49,1% – und mithin deutlich
über dem Anteil der Unqualifizierten an den
Erwerbspersonen insgesamt. Im Vergleich hierzu haben unter den
Arbeitslosen im Jahr 2002 3,3% in den alten und 5,5% in den
neuen Bundesländern einen Hochschul- oder
Fachhochschulabschluss.2 In den neuesten Berechnungen haben
sich diese Werte in den letzten Jahren zwar stabilisiert, von
einer Entwarnung kann aber angesichts des hohen Risikos,
arbeitslos zu werden, keine Rede sein.3

Der Arbeitsmarkt absorbiert somit Personen mit höherer
Bildung und schließt zunehmend Personen mit niedriger
Bildung aus. Dies liegt an zunehmend anspruchsvoller werdenden
Tätigkeitsstrukturen.4

Dennoch stagniert die Bildungsexpansion seit zehn Jahren:
Der Anteil von Personen, die das Gymnasium verlassen, nimmt
nicht mehr zu. Am unteren Ende des Spektrums bleibt es dabei,
dass zehn Prozent jedes Jahrgangs ganz ohne jeden Abschluss von
der Schule abgehen. Deutschland hat damit im Vergleich zu
anderen Ländern noch immer ein hochgradig stratifiziertes
Bildungssystem.5 Lediglich ein Drittel eines Jahrgangs kann den
höchsten Bildungsabschluss erreichen, welcher innerhalb
des deutschen Bildungssystems zur Verfügung gestellt wird.
In anderen Ländern liegen diese Anteile wesentlich
höher – die meisten anderen europäischen
Länder, auch die USA, entwickelten weit weniger
stratifizierte Systeme. Konnte man bislang argumentieren, dass
Stratifizierung über ein Korrespondenzprinzip mit
unterschiedlichen Tätigkeitsstrukturen in einem ebenfalls
stratifizierten Arbeitsmarkt verbunden sind, so steht auf Grund
der veränderten Tätigkeitsstrukturen und dem damit
einhergehenden „upgrading“ genau diese
Korrespondenz in Frage, da Personen mit niedriger Bildung dann
kaum noch Tätigkeiten mit einem entsprechenden
Tätigkeitsprofil finden können.6

Wie sieht es nun mit den gruppenspezifischen Zugangschancen
aus? Hat der Anstieg des Bildungsniveaus auch Schülerinnen
und Schüler erfasst, die aus bildungsfernen
Elternhäusern oder anderen Ländern stammen?

Soziale Herkunft

Zuächst muss die Rolle des Elternhauses für die
Bildungschancen der Kinder und das Ausmaß der
Ungleichheit nach sozialer Herkunft untersucht werden.
Aussagekräftig dafür sind die Schwelle des
Übergangs in eine weiterführende Schule
(Klassenstufen 11 bis 13) und die Schwelle der Aufnahme eines
Studiums an einer Fach- oder einer Hochschule –
Schwellen, die immer schon als besonders selektiv und als durch
soziale Herkunft bestimmt angesehen wurden. Die Ergebnisse sind
ernüchternd: Von 100 Arbeiterkindern überwinden 28
Kinder die erste Schwelle, und sechs Kinder schaffen den
Schritt an eine Universität. Im Vergleich dazu nehmen 73
Beamtenkinder die erste Schwelle und 49 die zweite. Die Chance
eines Beamtenkinds, die Universität zu besuchen, ist damit
sieben Mal so hoch wie die eines Arbeiterkinds.

Dieses Ergebnis könnte nun eine einfache Interpretation
erfahren: Institutionelle Veränderungen sind erfolgt, mehr
Plätze in den weiterführenden Schulen und den
Universitäten sind eingerichtet worden. Man hat gehandelt.
Die verbleibende soziale Ungleichheit im Zugang zu diesen
Bildungseinrichtungen wäre somit den Einzelnen und nicht
den Institutionen anzulasten. Sie wäre dann meritokratisch
begründbar: Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern
fehlen eben die kognitiven Voraussetzungen, sie sind
dümmer, weniger leistungsfähig als die
„höheren“ Töchter und Söhne. Der
Handlungs- und Reformspielraum wäre damit aus biologischen
Gründen verengt bzw. eigentlich gar nicht erst
gegeben.

Dem ist allerdings nicht so. Das kann an einem Beispiel
verdeutlicht werden, welches die über Leistungstests
ermittelte „reine“ Leistung mit den Empfehlungen
von Lehrern verbindet, ein Gymnasium zu besuchen. Insgesamt
haben 40% aller befragten Schülerinnen und Schüler
eine Empfehlung für den Besuch eines Gymnasiums erhalten.
Betrachtet man nun die Empfehlungen nach der sozialen Herkunft
der Kinder, zeigen sich die erwarteten und bekannten
Unterschiede. Nur 16% der Kinder, deren Väter keinen
Schulabschluss haben, erhalten eine Empfehlung für das
Gymnasium, bei Kindern von Vätern mit Abitur liegt der
Anteil bei 70%. Verbindet man aber diese Empfehlungen mit den
Ergebnissen der Leistungstests, so zeigen sich sehr
unterschiedliche Anforderungen nach sozialer Herkunft. Die
Mehrheit der Schülerinnen und Schüler erhält bei
78 erreichten Punkten eine Empfehlung für das Gymnasium.
Kinder, deren Väter selbst das Gymnasium erfolgreich
abgeschlossen haben, brauchen im Mittel gerade 65 Punkte,
Kinder von Vätern ohne Schulabschluss erhalten im
allgemeinen diese Empfehlung erst bei einer Testleistung von
über 98 Punkten.7

Dies bestätigt auch die kürzlich erschienene
IGLU-Studie.8 Sie zeigt, dass Kinder aus bildungsfernen
Schichten durchaus über Kompetenzen verfügen, diese
aber unentdeckt bleiben oder ignoriert werden – die
Potenziale dieser Kinder liegen brach. Das Ausmaß der
Chancenungleichheit wird damit nicht durch die
Leistungsfähigkeit der jungen Menschen selbst verursacht,
es ist vielmehr institutionell vorgeprägt.

Nationale Herkunft

Zu diesen herkömmlichen Achsen gruppenspezifisch
ungleicher Zugangschancen ist heute prominent die
Nationalität der Kinder hinzugekommen. Die 1,2 Millionen
ausländischen Kinder und Jugendliche, die 1998 über
neun Prozent aller Schülerinnen und Schüler in
Deutschlands Schulen stellen, sind in Sonder- und Hauptschulen
weit überrepräsentiert,9 aber unterproportional in
Realschulen, Gymnasien und Hochschulen vertreten,10 wobei
große Unterschiede zwischen einzelnen
Herkunftsländern bestehen.11 Bildungsbeteiligungsquoten
zeigen diese Zusammenhänge deutlich: Im Jahre 1998
erreichte die Bildungsbeteiligung junger Ausländer im
Alter von 15 bis unter 20 Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland 64% und liegt damit deutlich unter der Beteiligung
gleichaltriger Deutscher mit 93%. In der Altersgruppe von 25
bis unter 30 Jahren sind die Unterschiede noch deutlicher, sie
liegt bei Deutschen bei 17%, bei Ausländern bei vier
Prozent.12 Im Zeitverlauf zeigt sich zudem, dass die
Integration junger Ausländer in das deutsche
Bildungssystem kaum noch vorankommt.

Auch in diesem Bereich finden sich schnell Erklärungen:
Kinder mit Migrationshintergrund, so eine oft zu lesende
Annahme, sind Kinder bildungsarmer Eltern, da Migration und
Bildungsarmut miteinander Hand in Hand gingen. Damit sind wir
wieder bei der eben diskutierten und auch hier zu verwerfenden
These, diesen Kindern fehle es an den kognitiven
Voraussetzungen. Dem ist jedoch nicht so – ihnen fehlt es
an Förderung und vor allem an Vertrauen in ihre
Leistungsfähigkeit. Ungenutzte intellektuelle Potenziale
und vor allem unerschlossene Handlungs- und
Reformspielräume finden sich auch hier.

Internationaler Vergleich

Weitergehend und die optimistische Argumentation
unterstützend kann auf internationale Vergleiche
zurückgegriffen werden. Durch die PISA-Ergebnisse sind
erstmals nationale Handlungsspielräume für jeden klar
sichtbar geworden. PISA hat die Bildungsforschung dadurch
bereichert, dass nun internationale Vergleiche nicht mehr
allein über Bildungsabschlüsse vorgenommen werden
müssen, sondern auch Kompetenzverteilungen direkt
international miteinander verglichen werden können. PISA
berichtet über das Verteilungsspektrum von
Schülerleistungen in Leseverständnis, Mathematik,
Naturwissenschaften und fächerübergreifenden
Kompetenzen. Niedrige Bildung kann als Nichterreichen der
untersten von insgesamt fünf Kompetenzstufen definiert
werden, die mit funktionalemAnalphabetismus gleichzusetzen ist.
Empirisch ergibt sich: Die absoluteBildungsarmut beläuft
sich nach PISA 2000 auf 10%. Mehr als ein Drittel (36%) dieser
Bildungsarmen sind im Ausland geboren. Wenn Armut relativim
Gesamtgefüge der Kompetenzverteilung verortet wird,
fällt sie weitgehend mit absolut gemessener Armut
zusammen. Die relativKompetenzarmen sind auch
absolutkompetenzarm, da der untere Rand der Verteilung
unterhalb der Kompetenzstufe I von PISA liegt.

International verglichen ist das Ausmaß der
Kompetenzarmut noch deutlicher: Im OECD-Durchschnitt umfasst
der untere Rand der Verteilung nur wenige unterhalb der
Kompetenzstufe I: „In Deutschland erreichten die
fünf Prozent leistungsschwächsten Schüler(innen)
maximal 284 Punkte im Gesamttest. Das sind 51 Punkte weniger,
als für Kompetenzstufe I erforderlich sind. In 14
Teilnehmerstaaten liegt der entsprechende Wert dagegen
innerhalb der Grenzen der Kompetenzstufe I. In diesen Staaten
… sind also die fünf Prozent
leistungsschwächsten Schüler(innen) zumindest in der
Lage, Anforderungen zu bewältigen, die mit Kompetenzstufe
I verknüpft sind. In Deutschland liegt erst das unterste
Zehntel im Durchschnitt innerhalb der Kompetenzstufe I, und
zwar genau auf der unteren Grenze des mit dieser Stufe
abgesteckten Leistungsbereichs.“13

Auch für Bildungsreichtum lassen sich einfache
Maßzahlen bestimmen. Absoluter Bildungsreichtum ist mit
dem Erreichen der Kompetenzstufe V gegeben, relativer
Bildungsreichtum, wenn sich Personen zwischen 90 und 95% in der
nationalen Verteilung befinden. In Deutschland
überschreiten die absolut Kompetenzreichen (etwa acht
Prozent der 15-Jährigen) die Kompetenzstufe V kaum, und
unter den relativ Kompetenzreichen befinden sich auch Personen,
die absolut betrachtet nicht kompetenzreich sind. Bei uns geht
also im OECD-Vergleich ausgeprägte Bildungsarmut mit eher
durchschnittlichem Bildungsreichtum einher: „Es gelingt
nicht, leistungsschwache Schüler heranzuführen, aber
auch nicht, eine Elite zu bilden“.14

Da nicht davon auszugehen ist, dass deutsche
Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt dümmer
auf die Welt kommen als die Kinder in vielen anderen
Ländern, sind die international unterschiedlichen
Verteilungen von Kompetenzwerten als Hinweise auf
unterschiedliche Strukturen und Inhalte der Bildungssysteme
sowie auf abweichende gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu
verstehen. Wir wissen nun also auch anhand des internationalen
Vergleichs, dass wir unser Bildungssystem so umbauen
können, dass es, wie in 14 anderen OECD-Ländern auch,
alle Kinder über die Kompetenzstufe I hebt (also
Bildungsarmut abschafft) und dass es weit mehr Kinder über
die Kompetenzstufe V heben kann (also Bildungsreichtum
vermehrt).

Handlungsfelder

Lange Zeit hat die deutsche Soziologie die Rolle der
institutionellen Ausgestaltung der Bildungssysteme für
Bildungserfolg, für den Übergang zwischen Bildung und
Arbeitsmarkt und für Mobilitätsprozesse im
Arbeitsmarkt unterschätzt. Während in den USA schon
früh Arbeiten von James Coleman15 und seinen Mitarbeitern
entstanden, die sich mit institutionellen Merkmalen der Schulen
und deren Folgen für die Integration von „Black
Americans“ beschäftigten – und dort liefert
auch heute die Literatur zahlreiche empirische Studien zu
Fragen der Homogenität und Heterogenität von Schulen
nach Leistung, Rasse und Geschlecht –, wurde die Rolle
von Bildungssystemen in der deutschen Soziologie bislang nur
stiefmütterlich behandelt. PISA und die anderen
vergleichenden Studien haben daran wenig geändert.
Verstärkt wird gegenwärtig hauptsächlich die
Standardisierung der Bildungsziele über die
Bundesländer hinweg, obgleich argumentiert werden
könnte, dass diese im Vergleich zu anderen Ländern
bereits eher hoch war und ist.16 Gerade der Blick von
außen auf das deutsche Bildungssystem verweist auf einige
Handlungsfelder, die gleichermaßen als Stellschrauben
für die notwendige Weiterentwicklung der deutschen
Bildungslandschaft dienen können.

Bildung als Sozialpolitik

In Deutschland werden zwischen (Aus-)Bildung und
Sozialpolitik noch immer kaum Bezüge hergestellt.17 In den
angelsächsischen Ländern dagegen wurde unter
„social policy“ immer schon gleichermaßen
„education“ und „social security“
verstanden. Diese integrierte Sichtweise stand Pate für
die angelsächsische Reform des Wohlfahrtsstaats nach dem
Zweiten Weltkrieg, die dort in erheblichem Umfang auch eine
Bildungsreform war. In manchen dieser Länder, etwa in den
Vereinigten Staaten, hatte sich zudem schon im 19. Jahrhundert
das Bildungswesen weit stärker, gewissermaßen als
Sozialstaatsersatz, entwickelt. Das kann sich dort heute als
bildungspolitischer Standortvorteil auswirken. In Deutschland
werden zudem beide Bereiche weiterhin ressortgebunden
getrennt.

Bildungs- und Sozialpolitik könnten und sollten auch in
Deutschland weit stärker miteinander verbunden werden.
Gelder wären dann verstärkt in die präventive
Förderung von Schülerinnen und Schülern zu
investieren, um so für retrospektiv zugreifende
Maßnahmen, etwa die Kompensation über Arbeitslosen-
oder Sozialhilfe, weniger ausgeben zu müssen. Daher ist
die starke Ressorttrennung in Deutschland zu überwinden,
die zudem noch föderalistisch verfestigt ist.

Finanzierung

Die unterschiedlichen nationalen Prioritätsmuster
zeigen eindrucksvoll die Studien von Manfred G. Schmidt18 auf.
Dort werden vergangenheitslastige Sozialpolitikaufgaben mit
zukunftsgerichteten Bildungs- und Forschungsaufgaben anhand der
Staatsausgaben verglichen. In den USA wird, im OECD-Vergleich,
weit mehr an öffentlichen Geldern in Bildung investiert
als in Sozialpolitik. In der skandinavischen Ländergruppe
wird auf höherem Niveau in die klassische Sozialpolitik
investiert, gleichzeitig wird aber das  amerikanische
Niveau in der Bildungspolitik mitgehalten. Demgegenüber
kultiviert Deutschland eine Position, die spiegelverkehrt zu
den USA ausfällt: Seit langem investiert es erheblich
weniger in Bildungs- und Forschungspolitik als die USA, leistet
sich aber, wie Skandinavien, eine Sozialpolitik auf hohem
Niveau. Kurzum, Zukunft wird in Deutschland systematisch
zugunsten von Vergangenheitslastigkeit vernachlässigt.

Die öffentlichkeitswirksame Thematisierung von
Bildungsarmut und die nötigen Reformen stehen aber vor der
föderalen Hürde. Der Bund müsste soziale
Kohäsion bei der Bildungsarmut gerade dort als Perspektive
einbringen, wo er selbst nicht direkt tätig werden kann.
Wir könnten aber auf einen koordinierten
Bildungsföderalismus zusteuern, der die Abhängigkeit
der Sachausstattung von den Gemeindefinanzen, der
Personalausstattung von den Ländern und die diversen
Strukturtrennungen – Dreigliedrigkeit, Bildung gegen
Betreuung (Kindergarten usw.) – deutlich und
nachvollziehbar relativiert. Es ginge also um die Schonung und
Einhegung des deutschen Föderalismus – eine weitere
Herausforderung für die Föderalismuskommission.19

Bildung im Lebensverlauf

Die deutsche Umwelt, das ist vor allem das dreigliedrige
Schulsystem mit seiner frühen, schwer revidierbaren
Selektion von 10-Jährigen in drei unterschiedliche
Bildungsklassen. Bildungsferne, sprachferne und
kompetenzschwache Schüler können dann nicht mehr in
einem Lehr- und Lernzusammenhang mit ihrem starken
Gegenüber wachsen. Die zeitliche Beschränkung des
Unterrichts auf wenige Stunden am Tag betont Rezeption und
Abstraktion. Deutsche Kindergärten verstehen sich meist
als rein gärtnerische Kinderpflege, nicht als
Bildungsstätten mit curricularem Auftrag. Das
Nichtöffnen des „Schulfensters“ am Tag und die
Vernachlässigung des Kindergartens als Lernherausforderung
lassen der sozialen Differenzierung früh ihren
„natürlichen“ Herkunftslauf.

Allein auf Grund der Dreigliedrigkeit und hohen
Selektionsfunktion des Bildungssystems vergeben Schulen
Chancen, die den gesamten weiteren Lebensverlauf prägen.
Noch immer gehen wir in Deutschland – anders als etwa in
den USA und der gesamten angelsächsischen Welt –
davon aus, dass schulische Bildung und Ausbildung in jungen
Jahren für viele Jahrzehnte hält. Das folgt der Logik
von „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans
nimmermehr“. Schulen und duale Ausbildungssysteme
öffnen sich in Deutschland kaum für das viel
beschworene lebenslange Lernen, von dessen
Institutionalisierung wir weit entfernt sind. Eine solche
Öffnung passt auch nicht zu den sozial- und
bildungspolitisch institutionalisierten Routinen, die seit den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufgebaut
worden sind. Solche Pfadabhängigkeit hält lange vor,
weil die gegebenen Strukturen zu gewissermaßen
vorbewussten DIN-Normen geronnen sind.

Die zeitliche Einordnung von Bildung in den Lebensverlauf
muss sich ändern. Bereits Vorschulkindern müssen
Angebote gemacht werden, die weit über eine spielerische
Betreuung hinausgehen; Bildung muss früher ansetzen. Die
klare Zuweisung in jungem Alter zu einem der drei
Bildungszüge ist zumindest stark zu lockern und
durchlässiger zu gestalten. Als Kriterien sollten
darüber hinaus nicht nur der schulisch über Noten und
Verhalten gemessene Erfolg, sondern auch die Kompetenzen der
Kinder herangezogen und dann systematisch gefördert
werden. Der Wechsel zwischen Bildung, Ausbildung,
Erwerbstätigkeit und Familienarbeit muss flexibler
gestaltet werden. Die höhere Lebenserwartung, oft auch bei
guter Gesundheit, eröffnet hier sowohl die
Möglichkeit als auch die Notwendigkeit lebenslanger
Bildung. Diesbezüglich leben wir in Deutschland noch in
der Welt von gestern: Phasen der Bildung und Ausbildung, der
Familiengründung, der Erwerbstätigkeit werden durch
institutionelle und normative Vorgaben künstlich und ohne
Not verengt. Die intensive Suche nach der gewonnenen –
aber nicht genutzten – Zeit muss endlich beginnen.20

Internationalisierung

Die Inter- bzw. Supranationalisierung des Bildungssystems,
etwa durch EU-weite Programme des Schulaustauschs, der
Qualifikation, des Studiums und der beruflichen Förderung
sollte weiter ausgebaut werden. Allerdings ist auch hier zu
beachten, dass Bildungsabschlüsse in einem besonderen
nationalen Kontext erworben werden: Sie zertifizieren
Kenntnisse und Qualifikationen, drücken aber gleichzeitig
auch eine Selektionsleistung für die regimetypische
Zuordnung auf berufliche Positionen aus.

Die von der Europäschen Union vorgeschriebene
wechselseitige Anerkennung von Abschlüssen21 kann zwar den
Gebrauchswert der Qualifikation zum Ausdruck bringen. Sie kann
aber nicht den Selektionswert der Bildungssysteme zwischen
insoweit deutlich ungleich strukturierten Gesellschaften
„portabel“ machen. Auch die neue globalisierte Welt
fordert und fördert hoffentlichein Überarbeiten von
Strukturen und eine Flexibilisierung von
Lebensverläufen.

Anmerkungen

1Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000.
Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im
internationalen Vergleich, Opladen 2001; OECD (Hrsg.),
Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der
internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000, Paris
2001.

2Vgl. Alexander Reinberg/Franziska Schreyer,
Arbeitsmarkt für AkademikerInnen: Studieren lohnt sich
auch in Zukunft, IAB-Kurzbericht Nr. 20, Nürnberg
2003.

3Vgl. ders./Markus Hummel, Geringqualifizierte: In der
Krise verdrängt, sogar im Boom vergessen,
IAB-Kurzbericht Nr. 19, Nürnberg 2003.

4Vgl. dies., Bildungspolitik: Steuert Deutschland
langfristig auf einen Fachkräftemangel hin?,
IAB-Kurzbericht Nr. 9, Nürnberg 2003; Walter
Müller, Erwartete und unerwartete Folgen der
Bildungsexpansion, in: Jürgen Friedrichs u. a., Die
Diagnosefähigkeit der Soziologie, in: Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Sonderheft 38, 1998, S.81–118.

5Zur Begrifflichkeit s. Allmendinger, Career Mobility
Dynamics. A Comparative Analysis of the United States,
Norway, and West Germany, Berlin 1989.

6Vgl. dies./Hans Dietrich, Vernachlässigte
Potenziale? Zur Situation von Jugendlichen ohne Bildungs-
und Ausbildungsabschluss, in: Berliner Journal für
Soziologie, 4/2003, S.465– 476.

7Vgl. Rainer H. Lehmann/Rainer Peek/Rüdiger
Gänsfuss, Aspekte der Lernausgangslage und der
Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern,
die im Schuljahr 1996/97 eine fünfte Klasse an
Hamburger Schulen besuchten, 1997,
<http://lbs.hh.schule.de/lau/lau5/&gt;

8Vgl. Wilfried Bos (Hrsg.), IGLU: einige Länder der
Bundesrepublik im nationalen und internationalen Vergleich,
Münster 2004.

9Vgl. Allmendinger/Thomas Hinz, Bildung, in: Bericht zur
sozialen Lage in Bayern, München 1999, S.
239–270.

10Vgl. Deutsches Institut Für Wirtschaftsforschung
(Hrsg.), Die Integration junger Ausländer in das
deutsche Bildungssystem kommt kaum noch voran,
DIW-Wochenbericht Nr. 29, Berlin 2000, S.
466–476.

11Vgl. Richard D. Alba/Johann Handl/Walter Müller,
Ethnische Ungleichheit im deutschen Bildungssystem, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, Heft46,1994, S. 209–238.

12DIW-Wochenbericht Nr. 29, a.a.O. (Anm. 10), hier S.
466 f.

13PISA 2000, a.a.O. (Anm. 1), hier S. 108 f.

14Vgl. OECD, a.a.O. (Anm. 1), hier S.29 f.

15Vgl. James Coleman et al., Equality of Educational
Opportunity, Washington 1966.

16Zur Begrifflichkeit insoweit s. Allmendinger, Career
Mobility Dynamics, a.a.O. (Anm. 6).

17Ausführlich Allmendinger, Bildungsarmut: Zur
Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik, in:
Soziale Welt, Nr.50/1999, S.35–50; auch dies./Stephan
Leibfried, Bildungsarmut im Sozialstaat, in: Günter
Burkart/Jürgen Wolf (Hrsg.),Lebenszeiten. Erkundungen
zur Soziologie der Generationen, Opladen 2001, S.
287–315.

18Vgl. Manfred G. Schmidt, Das politische
Leistungsprofil der Demokratien, in: Michael Th. Greven
(Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens,
Opladen 2001, S.181–200; ders. Warum Mittelmaß?
Deutschlands Bildungsausgaben im Vergleich, in: Politische
Vierteljahresschrift, Jg. 43, Heft 1, 2002,
S.3–19.

19ZurFöderalismus im Falle der Sozialpolitik s.
Herbert Obinger/Stephan Leibfried/ Francis G. Castles
(Hrsg.), Federalism and the Welfare State. New World and
European Experiences, Cambridge (im Erscheinen).

20Vgl. Allmendinger/Kathrin Dressel, Auf der Suche nach
der gewonnenen Zeit. Entzerrung statt Kumulation von
Familie und Beruf, in: Renate Schmidt/Liz Mohn (Hrsg.),
Familie bringt Gewinn, Gütersloh 2004, S.
135–143.

21„Integration through law“ ist immer noch
der wesentliche Modus der europäischen Integration und
wird dies mit der Osterweiterung erst recht bleiben.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 58-66

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