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01. Jan. 2016

Vernetzt statt verwurzelt

Wie soziale Medien Wanderungsbewegungen fördern können

Welche Einreisebestimmungen hat mein Wunsch-Migrationsland, wie komme ich dahin? Soziale Netzwerke liefern diese Informationen und helfen auch, die Beziehungen zu den Menschen in der Heimat aufrechtzuerhalten. Die Kehrseite der neuen Medienherrlichkeit sind falsche Versprechungen und überzogene Erwartungen.

1 Jahrhunderte lang bedeutete Migration vor allem eines: die völlige Loslösung von der Gemeinschaft, der Einwanderer im Heimatland angehört hatten. Migranten galten als „entwurzelt“, abgeschnitten von ihren sozialen Kontakten. Neue Formen der Kommunikation aber haben es ermöglicht, weite Distanzen kostengünstig und technisch anspruchsvoll zu überbrücken.

In den vergangenen Jahren ist das Internet in rasantem Tempo zu einem sozialen Medium geworden, das eben nicht nur eine „One-to-one-Kommunikation“ herstellen kann. Es führt Beiträge von Millionen Nutzern zusammen, die nicht mehr nur Konsumenten, sondern auch aktive Produzenten von Inhalten sind. Soziale Medien sind nicht nur Kommunikationsmittel einzelner Benutzer, sondern wichtige Instrumente der netzwerkartigen Informationsverteilung. Die transnationalen Netzwerke, die mit Hilfe sozialer Medien aufgebaut werden können, erlauben Migranten den Aufbau von „sozialem Kapital“ durch den dauerhaften Kontakt mit anderen Migranten, aber auch mit den Zuhausgebliebenen. Der „Tod der Distanz“ senkt die Kosten und Risiken von Migration.

Netzwerke der Wanderung

Um die Dynamik gegenwärtiger Migration zu verstehen, ist es unerlässlich, die Migrationsnetzwerke zu analysieren: Gruppen von Menschen, zwischen denen verwandtschaftliche, freundschaftliche oder berufliche Bindungen bestehen. Es sind solche global geknüpfte Netzwerke, die Migrationsbewegungen anstoßen und dauerhaft aufrechterhalten. Aufgebaut werden diese Netzwerke oft durch „Pionier-Migranten“; bestehen sie dann erst einmal, folgen häufig weitere Migranten diesen „Pionierpfaden“. Viele Migranten bevorzugen es, in Regionen zu ziehen, in denen sie bereits über Kontakte verfügen. Zuweilen kann die Existenz eines solchen Migrationsnetzwerks sogar der einzige Grund sein, tatsächlich auszuwandern – selbst dann, wenn die ursprünglichen Auswanderungsgründe womöglich hinfällig geworden oder nicht mehr so wichtig sind. Sind Migrationsbewegungen erst einmal in Gang gesetzt, erhalten und erneuern sie sich quasi selbst.

Die Grundlage eines jeden Migrationsprozesses ist ein mehrdimensionaler Informationsfluss. Über das „soziale Kapital“ solcher Verbindungen werden Informationen über das Zielland und über Organisationsfragen ausgetauscht. Soziale Medien haben eine enträumlichte soziale Sphäre geschaffen, die die Kommunikation zwischen geografisch weit voneinander entfernt lebenden Menschen erleichtert. Sie ermöglichen es, auf eine „One to one-Kommunikation“ zu verzichten und ganze Gruppen zu organisieren, zu denen keine familiäre oder freundschaftliche Bindung besteht, sondern eher eine „Brückenbindung“, die auf dem Austausch von Informationen beruht.

Virtuelle Hinterzimmer

Viele Menschen sind heute nicht mehr Teil einer traditionellen, eng miteinander verwobenen Gemeinschaft, sondern mehrerer loser und schnell wechselnder Netzwerke. Bindungen innerhalb eines solchen Netzwerks sind generell schwach – was aber durchaus von Vorteil für die Migranten ist, da es ja nicht darum geht, tiefe emotionale Bindungen herzustellen, sondern darum, Informationen zu verbreiten und neue Ideen einzuspeisen.

Zusätzlich schaffen die Plattformen des Web 2.0 (wie Facebook, Youtube, Skype oder Weblogs) eine Infrastruktur „latenter“ Bindungen, die zwar technisch vorhanden sind, aber noch nicht aktiviert wurden. Die grundsätzlich offene Struktur der sozialen Medien ermöglicht es den Nutzern, selektiv Gemeinschaften zu bilden, die auf gemeinsamen Interessen statt auf persönlicher Bekanntschaft aufbauen. Dadurch entsteht ein Raum, der offen zugänglich ist und in dem Migranten Informationen aus nicht-offiziellen Quellen (wie persönliche Erfahrungen oder Tipps) über nicht-offizielle Kanäle zeitnah und aktuell austauschen können.

Solche „virtuellen Hinterzimmer“ oder geschützte Bereiche können auch dazu dienen, den immer restriktiver werdenden Einwanderungsbestimmungen vor allem in den Industrieländern durch eigene, nah an den Wirklich- und Möglichkeiten orientierte Informationen etwas entgegen zu setzen. So können in diesen Netzwerken Informationen über Gesetzesänderungen, Zugänge zu Jobs oder Unterkünften oder auch illegale Einwanderungsrouten schnell verbreitet werden und damit Migrationsstrategien beeinflussen. Soziale Medien erleichtern nicht nur den Migrationsprozess. Sie verstärken auch den Wunsch nach Auswanderung. Der Zugang zu sozialen Medien und Netzwerken sorgt dafür, dass künftige Migranten besser informiert sind; in einigen Fällen ermuntert das zur Auswanderung, aber in anderen Fällen bewegt es die Menschen dazu, ihre Pläne zu überprüfen oder sie ganz aufzugeben.

Soziale Medien haben folglich eine Reihe von positiven Funktionen für Migrationsnetzwerke und individuelle Migranten. Sie stärken den Zusammenhalt und das soziale Kapital von Migranten und ihren Zugriff auf Informationen. Dieser Zugriff auf „informellere Informationen“ kann Hürden für eine Auswanderung und damit auch Probleme reduzieren. Zudem haben soziale Medien zu einem Umdenken in der Forschung über internationale Migration und soziale Netzwerke geführt. Potenzielle Migranten sind in Zukunft vermutlich weniger abhängig von starken traditionellen Migrationsetzwerken, um ihre Reise zu organisieren und sich im Zielland einzufügen.

Allerdings besteht auch hier noch das, was wir eine „digitale Kluft“ nennen. Global sind die Zugangsmöglichkeiten zum Internet noch höchst unterschiedlich. Im Jahr 2015 nutzten in den Niederlanden 95,0 Prozent der Bevölkerung das Internet. (In Deutschland waren es 80,4 Prozent). In Brasilien, Marokko und der Ukraine betrugen die Zahlen im gleichen Jahr 40,65 Prozent, 49,0 Prozent und 45 Prozent. Auch die Intensität, Art und Effizienz der Benutzung ist abhängig von Alter, sozialer Klasse, Wohnort und Geschlecht. Weniger qualifizierte Arbeitsmigranten verfügen über eher geringe Internetkompetenzen. Diese Gruppen nutzen stattdessen traditionelle Kommunikationswege. Einige Migranten haben erst in ihrem Zielland den Umgang mit dem Computer gelernt. Nun profitieren sie davon, weil sie in Kontakt mit Freunden und Familie in ihrem Heimatland bleiben können:

Während viele Einwanderer in ihren Gastländern Internetzugang über eigene Computer, Smartphones oder Tablets haben, haben das die Menschen in ihren Heimatländern häufig nicht. Sie müssen Internet-Cafés in den Städten aufsuchen und verfügen generell über geringere Computerkenntnisse.

Zudem können über soziale Netzwerke auch falsche oder unrealistische „Informationen“ verbreitet werden und damit überzogene Erwartungen zu Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder sogar zur Partnersuche geweckt werden.

In weiter Ferne, so nah

Unsere Daten ergeben vier Haupteinflüsse sozialer Medien auf Migrationsnetzwerke: Sie resutieren in einem Punkt aus der Aktivierung und Reaktivierung von „sozialem Kapital“ in Migrationsnetzwerken. Die anderen drei Punkte haben mit den Möglichkeiten des Austauschs von nützlichen, lokalen Informationen über Migrationspolitik und -prozesse zu tun. Diese vier Funktionen sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Migrationsprozess wichtig. Einige der für unsere Studie Befragten nutzen soziale Medien noch in ihrem Heimatland, um Informationen über Auswanderungsmöglichkeiten zu erhalten. Andere beschrieben, wie soziale Medien ihnen kurz nach der Immigration ins Zielland und während der Eingewöhnungsphase halfen. Soziale Medien sind für die Migranten und die Daheimgebliebenen ein Mittel, um auch Jahre nach der Ein- bzw Auswanderung soziale Beziehungen zu erhalten.

Eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung von sozialen Bindungen in Familien- und Freundschaftsnetzwerken, die geographisch oft sehr weit voneinander getrennt liegen, spielen erstens Online-Medien. Dank der Synchronisierung und medialen Vielfalt sozialer Medien ist – neben den traditionellen Kommunikationsformen – zum Beispiel per Skype-Gespräch oder Gruppenchat ein virtuelles Beisammensein möglich. Dies erzeugt Gefühle der Intimität und Nähe in der Kommunikation mit Menschen, die tausende von Meilen entfern sind. Einigte Befragte in unserer Studie gaben sogar an, dass sie über Skype, Facebook oder per E-Mail engere Beziehungen zu Menschen pflegten, von denen sie geographisch weit entfernt leben, als zu jenen in ihrer direkten Umgebung.

Die von uns Befragten bestätigten, dass neue Kommunikationstechnologien die Beziehungen zu entfernt lebenden Verwandten und Freunden signifikant beeinflusst haben. Dabei hat die Veränderung des Mediums auch die Kommunikation selbst verändert. Über soziale Medien ist es möglich, unmittelbarer und vielfältiger, etwa durch das Verschicken von Bildern oder per Videochat, zu kommunizieren. Natürlich kann ein Foto oder ein Videochat die geografische Distanz nicht oder eben nur virtuell aufheben. Doch ist Kommunikation über lange Distanzen hinweg bedeutend intimer und greifbarer geworden. Das Web 2.0. macht starke soziale Bindungen zum Herkunftsland zu einem integralen Teil des täglichen Lebens im Einwanderungsland. Hierdurch verringern sich der emotionale und soziale Preis und damit auch die Hemmschwelle bei der Auswanderung.

Oberflächliche Kontakte als Pioniere

Zweitens bieten soziale Medien die Möglichkeit, wichtige„schwache“ Bindungen zu pflegen und dabei soziales Kapital zu erwerben. Computerbasierte Medien eignen sich besonders gut dazu, oberflächliche, geografisch verstreute und nur schwach zusammengehalten Netzwerke zu stärken und aufrecht zu erhalten. Für Migranten sind Informationen über neue Reiserouten oder Zielländer über derartige Netzwerke leichter erhältlich als durch enge Kontakte. Oberflächliche Kontakte im Zielland können oft als „Pioniere“ fungieren, die Neuankömmlingen Informationen und Hilfe anbieten, um beispielsweise eine Unterkunft oder einen Arbeitsplatz zu finden. In einigen Fällen entwickeln sich diese Kontakte zu engeren, freundschaftlichen Bindungen. So beschrieben einige der Befragten, dass sie selbst von weit entfernten Bekannten oder sogar völlig Fremden aus ihrem Herkunftsland kontaktiert wurden, um Informationen über die Auswanderung und das Leben im Zielland zu bekommen.

Drittens eröffnen soziale Medien die Möglichkeit, bestehende Kontakte zu vertiefen und neue zu knüpfen, die durch das Internet als soziales Medium bereitstehen. So kontaktierten Neuankömmlinge ihnen unbekannte Migranten, die sich schon länger im Einwanderungsland befanden und sammelten so auch über informelle und diskrete Wege Informationen über Eingewöhnungs- und Integrationsprozesse.

Derlei Informationen sind besonders für potenzielle Migranten extrem wertvoll, wenn sie nicht auf regulären oder legalen Wegen einwandern. Sie würden oder können sich nicht an reguläre Informations- und Beratungsstellen wenden, um Auskunft über die Möglichkeit von Unterkünften oder Erwerbsmöglichkeiten zu finden. Soziale Medien bieten für die Kommunikation eine „Hinterzimmer“-Plattform für Kommunikation und Informationsaustausch, auf der, wie aus manchen unserer Gespräche hervorgeht, nicht danach gefragt wird, ob jemand als legaler Migrant im Land ist oder nicht. Soziale Medien bieten also eine Infrastruktur, die aus starken, oberflächlichen sowie potenziellen Kontakten entstehen, und sie sind eine Quelle strategischer Informationen. Soziale Medien haben nicht nur neue Informationswege in Migrationsnetzwerken geschaffen. Die virtuelle Infrastruktur einer vielfältigen, synchronen und relativ offenen Kommunikation hat die Charakteristika von Migrationsnetzwerken verändert und dadurch die Migration erleichtert.

Rianne Dekker ist Doktorandin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Erasmus-Universität Rotterdam.

Prof. Dr. Godfried Engbersen lehrt Soziologie an der Erasmus-Universität Rotterdam.

  • 1Dekker, R., & Engbersen, G. (2014). How social media transform migrant networks and facilitate migration. Global Networks, 14(4), 401-418.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 21-25

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