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01. Okt. 2006

Vergesst die Seele nicht!

Der Dirigent plädiert für einen lebendigen Kulturaustausch zwischen Indien und dem Westen

Es sind nicht nur die Wirtschaftsinteressen, die Staatsbesuche und die gemeinsamen politischen Ziele, die Verbundenheit schaffen können zwischen zwei Ländern auf zwei Kontinenten – unbedingt notwendig ist auch ein lebendiger, breiter Kulturaustausch.

Wir Musiker sind Weltenbürger. Seit einem halben Jahrhundert dirigiere ich Orchester überall in der Welt, wo meine Liebe zur klassischen Musik geteilt wird. Immer stehe ich vor derselben Aufgabe: das Publikum anzustecken mit meiner Begeisterung, meinem Verständnis der Komponisten und der Werke, die ich aufführe. Das ist nur möglich, weil die Musik eine Sprache jenseits aller Sprachen spricht, eine Sprache, die zu unserem Menschsein gehört wie das Lachen und Weinen. „Dieser Kuss der ganzen Welt“ – erst auf den Flügeln der Musik Beethovens ist Schillers Hymne an die Freude in alle Erdteile getragen und verständlich gemacht worden. Gibt es eine schönere politische Botschaft, als das Gemeinsame zum Ausdruck zu bringen, das die Völker so verbindet?

Ich bin in Indien, in Bombay geboren. Es führt durchaus ein direkter Weg von dort nach Wien, wo ich die Musikakademie besucht habe. Ich bin mit klassischer Musik aufgewachsen, mein Vater Mehli Mehta gründete das Bombay Symphony Orchestra. Bei meinen regelmäßigen Konzerten in meiner Geburtsstadt habe ich erfahren, wie stark das Interesse dort über den eigenständigen Kosmos der indischen klassischen Musik hinausreicht. Und natürlich verstehe ich mich auch selbst als Beleg für dieses Element der Kultur meines Landes.

Musikalische Ereignisse können jedoch noch mehr sein als ein Instrument, unser gemeinsames menschliches Erbe zum Schwingen zu bringen.

Als ich im Spätherbst 1994 zum ersten Mal das Israel Philharmonic Orchestra nach Indien brachte, stellte dies auch ein Politikum in den Beziehungen zweier Staaten dar. Bis Mitte diesen Jahres war ich Musikdirektor des Bayerischen Staatsorchesters und der Bayerischen Staatsoper in München, acht wunderbar produktive und erfüllende Jahre. Fast wie ein gegenseitiges Abschiedsgeschenk habe ich Ende 2005 mit meinen Musikern zwei Konzerte in Indien geben können, eines in Chennai, der Hauptstadt des im Süden gelegenen Unionsstaats Tamil Nadu, ein zweites in Neu Delhi. Tamil Nadu ist im Dezember 2004 entlang der Küste stark von der Tsunami-Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen worden; wir spielten am Jahrestag dieses Unglücks und zum Gedenken an die Opfer. Die Ergriffenheit des Publikums wird uns unvergesslich bleiben. In Neu Delhi trotzten über 7000 Menschen der kalten Dezembernacht, um uns zu hören. Das Staatsorchester habe ich mit diesen Konzerten vollends für Indien gewonnen, soweit mir dies vorher nicht schon als indischer Musiker gelungen war. Aber für unsere indischen Zuhörer war dies ein Brückenschlag zu Deutschland, der mitten in ihre Seele führte.

 Ich freue mich, dass Indien in umfassendem Sinn endlich die Aufmerksamkeit findet, die es verdient. Andere sind berufener als ich, dieses riesige Land im Auf- und Umbruch zu analysieren und die Interessen herauszuarbeiten, die für eine enge Verbindung mit Deutschland und der Europäischen Union sprechen. Aber als Musiker, zu dessen Reich eher die Gefühle gehören, die über die Musik wie durch nichts sonst unmittelbar angesprochen werden können, wage ich an die schlichte Wahrheit zu erinnern,  dass die Beziehungen zwischen zwei Ländern nicht nur auf gemeinsamen Interessen beruhen sondern auch auf Gefühlen. Im deutsch-indischen Verhältnis kann man tagtäglich die Erfahrung machen, wie stark noch das Wohlwollen nachwirkt, dass die deutsche Indologie Deutschland in meiner Heimat eingetragen hat.

Aber, um eine Maxime Goethes zu variieren, wer nur vom Vergangenen lebt, geht daran zugrunde. Indien und Deutschland brauchen die Sympathiewerbung eines lebendigen, breiten Kulturaustauschs. Gemeinsamkeiten gibt es genug – nicht zuletzt in der Musik.

ZUBIN MEHTA, geb. 1936, ist einer der berühmtesten Dirigenten der Welt. Die Liste seiner Ehrungen und Auszeichnungen ist lang: u.a. trägt er den „Nikisch-Ring“, der ihm von Karl Böhm vererbt wurde, ist Ehrenbürger von Florenz und Tel Aviv sowie Ehrendirigent zahlreicher Orchester. 1999 erhielt er den Preis für Frieden und Toleranz der Vereinten Nationen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 58‑59

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