Gegen den Strich

01. Sep 2015

Vereinte Nationen

Sieben Thesen gegen den Strich

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren ...“, heißt es in der Charta der Vereinten Nationen, die 1945 auf der Gründungskonferenz in San Francisco verabschiedet wurde. Doch Krieg wurde nicht gebannt, und auch sonst steht die Weltorganisation oft stark in der Kritik – zu Recht?

Die Vereinten Nationen haben sich überlebt, 
wir brauchen sie nicht (mehr)

Falsch. Die UN sind die einzige Organisation, die wirklich alle Länder der Welt um einen Tisch versammelt. Sie allein verfügt dadurch über besondere Legitimität bei der Lösung globaler Fragen. Angesichts der Vielzahl von Krisen und Konflikten brauchen wir mehr denn je einen zentralen Akteur, der als Vermittler, Dialogplattform und Wahrer des Völkerrechts agieren kann. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie internationaler Terrorismus, Klimawandel, Umweltzerstörung, Staatszerfall, Waffenproliferation, Cyberkriminalität, Migration oder Epidemien haben eines gemeinsam – sie machen nicht vor Landesgrenzen halt. Einzelne Staaten werden sie allein nicht bewältigen können. Dafür brauchen wir eine starke globale Institution wie die Vereinten Nationen.

Man stelle sich nur für einen Moment eine Welt ohne die UN vor. Das wäre eine Welt, in der zusätzliche 90 Millionen Menschen an Hunger litten, in der über 50 Millionen Flüchtlinge auf sich allein gestellt wären, in der jährlich mehr als zwei Millionen Kinder sterben würden, da sie keinen Impfschutz bekämen; eine Welt, in der es keine Blauhelmsoldaten gäbe, die in Ländern wie Südsudan, Kongo oder Mali den Frieden sichern und in der die Vereinten Nationen nicht in Syrien oder Jemen als neutraler Vermittler auftreten könnten. Diese herausragenden Leistungen dürfen wir bei aller berechtigten Kritik am manchmal wenig effizienten UN-System nicht übersehen.

Natürlich dauert die Suche nach Kompromissen unter 193 Mitgliedstaaten und selbst unter den 15 Mitgliedern des Sicherheitsrats lange, ja oft zu lange. Doch bleibt beharrliche Diplomatie unerlässlich, wenn wir gemeinsame Lösungen für die großen Zukunftsfragen der Menschheit finden wollen. Dass die Vereinten Nationen dazu auch nach 70 Jahren noch in der Lage sind, zeigen die jetzt erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen über eine neue, nachhaltige Entwicklungsagenda 2030 oder auch die laufenden Verhandlungen über ein weltweit bindendes Klimaabkommen, das im Dezember in Paris verabschiedet werden soll.

Der UN-Sicherheitsrat taugt nicht als Welt­regierung und ist zu oft handlungsunfähig

Vorsicht! Der Begriff „Weltregierung“ ist irreführend. Anders als eine Regierung, die tagtäglich über sämtliche Bereiche des Lebens einer Nation entscheidet, ist der Sicherheitsrat gemäß UN-Charta lediglich für einen bestimmten, wenngleich sehr zentralen Bereich zuständig: die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, einem der Gründungsziele der Vereinten Nationen. Durch diese Funktion nimmt der Sicherheitsrat unleugbar eine dominante Stellung im UN-System ein. Wir sollten jedoch nicht übersehen, dass andere wichtige Fragen, die für unser globales Zusammenleben von entscheidender Bedeutung sind, in anderen Gremien und Formaten diskutiert und verhandelt werden – als Beispiel seien noch einmal die Verhandlungen für die nachhaltige Entwicklungsagenda 2030 genannt.

Es wäre zudem falsch, den Blick nur auf Vetos und Blockaden zu richten und die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats grundsätzlich infrage zu stellen. In vielen Bereichen zeigt sich das Gremium durchaus handlungsfähig. So hat der Sicherheitsrat im vergangenen Jahr 63 Resolutionen verabschiedet, 60 davon im Konsens. Selbst beim Thema Syrien, bei dem der Rat mehrmals durch Vetos blockiert war, wurden Resolutionen verabschiedet – zu erwähnen sei hier die erfolgreiche Chemiewaffenzerstörung oder die Einigung über grenzüberschreitende humanitäre Hilfe. Insbesondere die konsensuale Annahme der UN-Sicherheitsratsresolution zur Einigung im iranischen Atomstreit hat gezeigt, dass das Gremium sehr wohl seiner Rolle als Wahrer von Frieden und Sicherheit nachkommen kann, wenn alle Mitglieder das wollen.

Und nicht zuletzt: In vielen Krisen bleiben die Vereinten Nationen eine Art „last resort“. Nachdem andere Akteure aufgegeben haben, sind es häufig die Vermittler der UN – gesteuert durch den Sicherheitsrat oder an diesen berichtend –, die den Gesprächsfaden zu den Konfliktparteien nicht abreißen lassen, um sich unbeirrt selbst unter schwierigsten Bedingungen für eine politische Lösung einzusetzen. Dies ist derzeit etwa mit Blick auf Syrien und Jemen zu beobachten.

Die Diskussion zeigt aber auch, dass der Unmut über die Arbeitsweise und Zusammensetzung des Sicherheitsrats insgesamt wächst und seine Legitimität und Glaubwürdigkeit immer häufiger hinterfragt werden. Wir meinen, dass dieser Trend nur durch eine umfassende, strukturelle Reform umgekehrt werden kann. In New York ist sehr deutlich zu spüren, dass eine große Zahl an Mitgliedstaaten unsere Forderung nach einer Reform dieses zentralen Gremiums teilt. Ein Sicherheitsrat, der die Welt im Jahr 1945 abbildet, wird die Probleme des 21. Jahrhunderts und danach auf Dauer nicht lösen können. Diese Erkenntnis wird sich letztlich durchsetzen. Bis dahin werden wir mit Partnern wie Brasilien, Indien und Japan sowie Unterstützern aus allen Weltregionen weiter für einen inklusiveren Sicherheitsrat werben.

Die aktuelle Diskussion über die Vetoausübung – es geht dabei um eine politische Verpflichtung der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, bei der Bekämpfung oder Verhinderung von Massenverbrechen auf ihr Veto zu verzichten – sehen wir als Teil einer notwendigen Gesamtreform. Aber auch jetzt schon könnten die ständigen Mitglieder natürlich eine Selbstverpflichtung zum Veto eingehen, ohne dass andere Aspekte der Sicherheitsratsreform oder gar eine Änderung der UN-Charta notwendig wären.

Die Vereinten Nationen sind ein 
westliches Machtinstrument

Mitnichten. Selbst der Blick auf die Menschenrechtsdebatte, die ja oft als „westliche Agenda“ angeführt wird, offenbart, dass dies nicht zutrifft. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde nicht nur von westlichen Autoren gestaltet. Gleiches gilt für die neun Menschenrechtskonventionen. Deutlich mühsamer ist jedoch die Implementierung dieser Rechte. Die UN verfügen über entsprechende Verfahren – diese greifen jedoch nur, wenn ein Staat kooperiert. Und die Anzahl der Staaten, die in Menschenrechtsfragen nicht zur Zusammenarbeit bereit sind, steigt leider. Die Regierungen dieser Länder werfen „dem Westen“ Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten vor und berufen sich auf ihre Souveränität und eigenen kulturellen Traditionen. Gleichzeitig ist es aber auch ein großer Erfolg des universellen Überprüfungsverfahrens des Menschenrechtsrats, dass alle Nationen sich diesem stellen und öffentlich zu Vorwürfen Stellung beziehen. Und die jetzt zur Annahme durch die Staats- und Regierungschefs anstehende „Nachhaltige Entwicklungsagenda 2030“ wurde letztlich in langen und oft schwierigen Verhandlungen zwischen Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern entwickelt.

Selbst mit Blick auf das Machtzentrum der Vereinten Nationen, den Sicherheitsrat, ist die These eines westlich dominierten Gremiums nicht zu halten. Nur drei der fünf ständigen Mitglieder sind dem „westlichen“ Lager zuzuordnen. Artikel 23 der UN-Charta gibt zudem die Kriterien vor, die bei der Wahl der zehn nichtständigen Mitglieder zum Tragen kommen. Neben Beiträgen zum Weltfrieden und den Zielen der UN wird dabei auf angemessene regionale Repräsentation geachtet. Aus unserer Sicht sollten diese Kriterien in noch stärkerem Maße auch für neue ständige Mitglieder gelten.

Die UN sind unglaubwürdig, wenn im 
Menschenrechtsrat die größten Verletzer sitzen

Im Gegenteil. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass Frieden, Sicherheit und Entwicklung in einem Umfeld nur nachhaltig möglich sind, in dem die Rechte Einzelner nicht mit Füßen getreten werden. Auch wenn einige Mitgliedstaaten es vorziehen würden, systematische und gravierende Menschenrechtsverletzungen ausschließlich im Menschenrechtsrat zu behandeln, geht der Trend in den Vereinten Nationen doch eindeutig zu einem „Menschenrechts-Mainstreaming“. Das bedeutet, dass Menschenrechte immer häufiger als ein Querschnittsthema angesehen werden, das vielfach Verknüpfungen zu anderen Themenbereichen aufweist.

Auch hat das bereits genannte universelle Überprüfungsverfahren des ­Menschenrechtsrats dazu geführt, dass sich alle Staaten, insbesondere diejenigen, die massiv die Menschenrechte verletzen, vor dem Rat erklären müssen und Empfehlungen erhalten, deren Umsetzung spätestens bei der nächsten Überprüfung angemahnt wird.

Zudem liefern die so genannten Sondermechanismen des Menschenrechtsrats, wie etwa die Untersuchungskommission zu Syrien, wertvolle Beiträge für eine spätere Rechenschaftspflicht („accountability“) in den Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen. Wir setzen uns nachdrücklich für die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Sitzungen des Rates ein, um den unmittelbar Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen Gehör zu verschaffen.

Durch die „Human Rights up Front“-Initiative von 2013 hat UN-General­sekretär Ban Ki-moon das Thema Menschenrechte weiter in den Mittelpunkt gerückt. Ziel dieses Vorhabens ist nichts Geringeres als die Herbeiführung eines Kulturwandels. Der Schutz der Menschenrechte soll als eine das gesamte UN-System umfassende Kernaufgabe betrachtet werden. Wir begrüßen diese Entwicklung nicht nur, wir fördern sie auch nach Kräften, zum Beispiel durch Studien für eine stärkere Verzahnung zwischen dem Menschenrechtsrat in Genf und dem Sicherheitsrat in New York.

Die Vereinten Nationen bieten diktatorischen Regimen eine Plattform

Ist so nicht richtig. Die UN bieten in all ihren vielseitigen Konfigurationen nicht nur den 193 Mitgliedstaaten und ihren Regierungen, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, Experten, religiösen Institutionen und auch Prominenten eine Bühne. Dass auch Regierungen darunter sind, deren Ziele, Interessen und Werte wir explizit nicht teilen, ist bei einer Organisation von solch globaler Reichweite unvermeidbar. Dabei bieten die Vereinten Nationen eben auch eine Plattform, um sich kritisch mit den betreffenden Staaten auseinanderzusetzen. Alle Staaten müssen sich vor der Weltgemeinschaft erklären und ihr Handeln begründen. Dies kann nur in unserem Interesse sein.

Ob Entwicklungsziele oder Klimaschutz – von hehren UN-Zielen wird oft wenig umgesetzt

Da muss man genauer hinsehen. Die Umsetzung selbstgesetzter Ziele ist ein wichtiger Faktor für die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen. Gleichzeitig wird durch die Festlegung von Zielen vielfach überhaupt erst ein Problem­bewusstsein für globale Herausforderungen geschaffen. Die unlängst in den Vereinten Nationen erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen zur neuen Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die im September von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten verabschiedet werden soll, sind ein passendes Beispiel.

Die fortschreitende Globalisierung der Weltwirtschaft, der Ausbau der Transportinfrastruktur und die neuen Technologien insbesondere im IT-­Bereich verschaffen uns bisher nicht gekannte Möglichkeiten, die Entwicklung auch der ärmsten Länder voranzubringen und die noch in weiten Teilen der Welt existierende extreme Armut und den Hunger zu bekämpfen. Die damit verbundene Industrialisierung und intensive Nutzung von traditionellen Technologien im Bereich der Energiegewinnung sind mit der Übernutzung der existierenden natürlichen Ressourcen und der anhaltenden Zerstörung der Umwelt verbunden: 2050 wird die Weltbevölkerung auf neun Milliarden Menschen angewachsen sein, von denen 70 Prozent in Städten, und davon wiederum ein Viertel in Slums, leben werden; 90 Prozent des Energieverbrauchs werden in den kommenden 20 Jahren auf die Entwicklungsländer entfallen und von ihnen zu verantworten sein.

Kurz gesagt: Die Überlebensfähigkeit unseres Planeten steht auf dem Spiel. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Weltgemeinschaft in diesem Jahr in den Vereinten Nationen sowohl auf die Agenda 2030 als auch auf ein anspruchsvolles, rechtlich verbindliches Klimaübereinkommen einigt.

Die Vereinten Nationen sind nicht reformierbar, aber wir haben nichts Besseres

Die erste Aussage ist falsch, die zweite richtig. Das Wort des damaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld aus dem Jahr 1954, wonach die Vereinten Nationen nicht gegründet worden seien, „um uns den Himmel zu bringen, sondern vor der Hölle zu retten“, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Das UN-System sollte nicht mit Erwartungen überfrachtet werden, die es realistischer Weise nicht erbringen kann – denn es ist immer zu bedenken: Das UN-System ist auf die Unterstützung sämtlicher 193 UN-Mitgliedstaaten angewiesen, und deren politischer Wille ist für den Erfolg oder Misserfolg insgesamt verantwortlich. Dass sich dieses System mit Blick auf die neuen internationalen Herausforderungen in vielerlei Hinsicht anpassen muss, um zumindest ein bisschen „weniger Hölle“ auf Erden zu ermöglichen, ist unbestritten. Der Wandel muss in vielen Bereichen gleichzeitig stattfinden: im Denken, im Handeln, in der Kommunikation nach außen und hinsichtlich der Übernahme von Verantwortung.

Die Vereinten Nationen stecken gerade mitten im größten Reformprozess ihrer jüngeren Geschichte. Die „Nachhaltige Entwicklungsagenda 2030“ wird die internationale Entwicklungsarchitektur grundlegend verändern. Im Dezember werden wir unter dem Dach der Vereinten Nationen voraussichtlich ein weltweit bindendes Klimaabkommen abschließen, das klare Vorgaben für alle Staaten enthält. Alle Prozesse zeigen, dass die Vereinten Nationen nach wie vor der Ort sind, an dem über die großen Menschheitsfragen entschieden wird – vorausgesetzt, die Mitgliedstaaten bringen den nötigen politischen Willen dazu auf.

Botschafter Dr. Harald Braun ist Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 62-67

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