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25. Okt. 2011

Unverwüstliche Muslimbruderschaft

Düstere Aussichten für ein freies Ägypten und einen friedlichen Nahen Osten

Sie verfügt über ein höchst effizientes Rekrutierungssystem, ihre Mitglieder sind ideologiefest, engagiert und loyal, ihr politisches Netzwerk ist unübertroffen: Die Muslimbruderschaft dürfte zur stärksten politischen Kraft Ägyptens werden. Dennoch sollte die Europäische Union nicht aufgeben, weiter die demokratischen Kräfte im Umbruchstaat zu fördern.

Die Demonstranten, die den Sturz der Regierung Hosni Mubaraks herbeiführten, waren jung, freiheitsliebend und medial vernetzt. Sie wollten keine Revolution nach Vorbild des Ayatollah Khomeini, eher schon stand ihnen Thomas Paine Pate. Sie forderten Bürgerrechte, Religionsfreiheit und das Ende der Diktatur. Ihre Entschlossenheit und die Schnelligkeit ihres Triumphs gab Grund zur Hoffnung, dass der Nahe Osten nicht mehr die autokratische Ausnahme in einer immer demokratischeren Welt bleiben würde.

Die politische Entwicklung nach der Revolte hat den Optimismus allerdings gebremst. Die Jugend vom ­Tahrir-Platz ist nun in knapp ein Dutzend, oft kaum zu unterscheidende politische Parteien gespalten. Die Zahl der politisch Aktiven bleibt erstaunlich niedrig, denn sie kommen aus der Gruppe politisch gebildeter Internetnutzer, deren Anteil an der ägyptischen Bevölkerung ohnehin schon sehr gering ist.

Die Muslimbruderschaft hingegen nutzt den Umbruch erfolgreich aus. Sie ist eine geschlossene politische Bewegung, die auf beispiellose Weise in der Lage ist, ihre Anhänger zu mobilisieren. Um ihre politische Stärke zu ergründen, um zu verstehen, warum sie sich nicht mäßigen wird, sondern im Fall eines signifikanten Stimmenzuwachses oder gar eines Sieges bei den Parlamentswahlen im Herbst ihre Position nutzen wird, um das Land in eine entschieden theokratische, antiwestliche Richtung zu drängen, sollte man einen Blick auf die Struktur der Organisation und ihrer Mitgliedschaft werfen.

Früh übt sich

Die interne Geschlossenheit der Muslimbruderschaft sowie ihre ideologische Festigkeit ist auf ein strenges Auswahlverfahren zurückzuführen. Muslimbrüder suchen an so gut wie jeder ägyptischen Universität nach neuen Mitgliedern. Besonders fromme Studenten werden als erste gezielt angesprochen. Zunächst identifizieren sich die Anwerber nicht als Muslimbrüder und versuchen lediglich, eine Beziehung zu ihren Zielsubjekten aufzubauen, um ihre Religiosität eingehend zu überprüfen. „Das unterscheidet uns von politischen Parteien“, sagt Khaled Hamza, der die ­englischsprachige Website der Bruderschaft leitet. „Wir sind eine ideolo­gische Graswurzelgruppe und wir nutzen unseren Glauben, um Mitglieder auszuwählen.“ Laut Hamza kann allein die Rekrutierung ein volles Jahr dauern. Muslimbrüder geben diese ersten Kontakte oft als Grund an, warum sie sich schließlich der Gruppe angeschlossen haben.

In ihren Rekrutierungsverfahren zielen die Brüder auch auf Jungen ab einem Alter von neun Jahren ab und dabei bevorzugen sie die Kinder oder Verwandten schon aktiver Muslimbrüder. „Schon sehr früh hat man mich zu Hause dazu angehalten, meinen Vater zu begleiten. Und manchmal wollte er eben, dass ich mich zu bestimmten Leuten setze“, erzählt der 23-jährige Mosab Ragab, ein leitender Jugendaktivist in der Bruderschaft. Ragabs Vater wie auch seine Onkel gehören der Bewegung an. Mit 16 Jahren schrieb auch er sich offi­ziell ein.

In einigen Fällen wenden sich Anwärter selbst an die Organisation. Üblicherweise sind auch diese potenziellen Brüder in religiösen Familien aufgewachsen. Aber auch dann werden sie vor einer Aufnahme sorgfältig überprüft. „Ich ging zu meinem Onkel, einem Muslimbruder“, erzählt Jugendaktivist Anas al-Kasas, „und er brachte mich zu einem Lehrer, der ein Scheich war. Möchte jemand Mitglied werden, wird ein Bruder abgestellt, um ihn zu leiten.“

Diese sorgsame Anwerbungsprozedur stellt sicher, dass die Organisa­tion nur in junge Männer investiert, die sich ohnehin schon der islamistischen Ideologie verbunden fühlen. Die Rekrutierung ist jedoch nur der Anfang eines mehrstufigen Prozesses, an dessen Ende ein Kandidat zu einem vollwertigen Muslimbruder wird.

Bruder werden

Ein Bewerber ist zunächst ein muhib, ein Jünger. In dieser Phase, die gewöhnlich sechs Monate dauert, sich aber bis zu vier Jahren hinziehen kann, kommt der muhib in eine lokale Gruppe, die usra (Familie). Mit regelmäßigen Treffen überwacht sie die Frömmigkeit und Ideologie des Anwärters. Bestehend aus vier bis fünf Brüdern unter Vor­sitz eines nakib (Leiter) ist die usra die niedrigste, aber wichtigste Einheit in der Hierarchie der Muslimbruderschaft. Sie trifft sich mindestens einmal wöchentlich und bespricht vornehmlich die Lebensumstände und Aktivitäten ihrer Mitglieder. So kontrollieren die Muslimbrüder, ob ihre jungen Kollegen an den strengen religiösen Standards der Organisation festhalten und schaffen zudem ein starkes Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. „Das Hauptkonzept der Organisation ist die Bruderschaft des Islam“, sagt Mohammed Abbas, ein 26-jähriger Jugendarbeiter der Bruderschaft, der aktiv an der Revolution teilgenommen hat. „Bei der usra geht es um Solidarität.“

Nachdem der Leiter der usra durch eigene Beobachtungen oder schriftliche Tests feststellt, dass der muhib regelmäßig betet und über ein Grundverständnis der wichtigsten islamischen Texte verfügt, wird dieser zu einem muajad (Anhänger). Diese Phase dauert ein bis drei Jahre. Der muajad ist ein nicht stimmberechtigtes Mitglied der Organisation und muss bestimmte Pflichten erfüllen, die ihm Vorgesetzte auftragen. Dazu gehört predigen, rekrutieren oder in Moscheen lehren. Zudem muss er einen rigorosen Lehrplan absolvieren wie das Auswendiglernen wichtiger Teile des Korans und das Studium der Texte des Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna.

Die nächste Stufe ist die des muntasib (Angehörigen). Sie nimmt ein weiteres Jahr in Anspruch und ist der erste Schritt in Richtung Vollmitgliedschaft. Ein muntasib kann in offiziellen Abteilungen der Muslimbruderschaft arbeiten, zum Beispiel bei Lehrprogrammen für Geschäftsleute, Arbeiter, Studenten oder Kinder. Außerdem gibt er zwischen fünf und acht Prozent seines Einkommens an die Bruderschaft.

Erfüllt ein muntasib die Anforderungen seiner Vorgesetzten und Beobachter, steigt er auf zum muntazim (Organisator). Noch einmal zwei Jahre verharrt der Bewerber in dieser Phase, in der er niedere Führungsrollen übernehmen darf wie die Gründung einer usra. Bevor er die letzte Stufe erreicht – die des ach ‘amal (aktiver Bruder) – wird die Loyalität des muntazim noch einmal auf die Probe gestellt. „Die Brüder könnten sich als Geheimdienstagenten ausgeben und dir beispielsweise falsche Informationen geben um zu sehen, ob du redest“, so Jugendaktivist Ragab, dem bereits höher gestellte Mitglieder von solchen Tests berichteten. Für eine Beförderung auf die höchste Ebene ist es zudem nötig, dass die Vorgesetzten darauf vertrauen können, dass der muntazim den Anweisungen der Führung der Muslimbruderschaft folgt. „Es geht um dein Wissen, dein Denken, dein Bekenntnis zur Pflichterfüllung wie die Teilnahme an Demonstrationen oder Konferenzen“, so Mohammed Habib, früher zweiter Mann in der Organisation. Einmal zum ach ‘amal geworden, kann ein Muslimbruder bei allen internen Wahlen abstimmen, in allen Einrichtungen der Bruderschaft mitarbeiten und sich für höhere Positionen bewerben.

Die Ansätze für dieses Anwerbungsverfahren gehen auf die Gründung der Bruderschaft im Jahr 1928 zurück. Formalisiert wurden sie aber in den späten siebziger Jahren, um sicherzustellen, dass der ägyptische Geheimdienst die Organisation nicht infiltrieren konnte. „Ein Agent oder V-Mann kann es wohl bis zum muhib bringen. Aber weiter wird er es nicht schaffen“, meint Ali Abdelfattah, ein Führer der Gruppe in Alexandria. „Man muss geduldig sein, um überhaupt die zweitniedrigste Stufe zu erreichen. Und diese Geduld wird kein Agent aufbringen.“

Selbst wenn Mubaraks Sturz zu einer demokratischeren politischen Atmosphäre führen sollte, wird die Muslimbruderschaft ihr Verfahren der Mitgliederwerbung nicht aufgeben. Sie ist das entscheidende Mittel, um die „Reinheit“ der Mitglieder im Kampf für die Sache der Bruderschaft zu gewährleisten. „Man arbeitet für die Religion und man arbeitet bis zum Jüngsten Tag“, so Mohammed Saad al-Katatni, früherer Leiter des parlamentarischen Blocks der Bruderschaft und jetzt Vorsitzender ihrer neuen „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“.

Effiziente Dienstwege

Nur, wer sich vollständig zur Sache bekennt, kann Vollmitglied werden. Gleichzeitig stellt die strenge Hierarchie der Bruderschaft sicher, dass die Mitglieder auf lokaler Ebene die Vorgaben der nationalen Führungsspitze pflichtbewusst erfüllen.

Ganz oben in der Rangordnung ist das Generalsekretariat (maktab al-­irschad), dem rund 15 langjährige Muslimbrüder und der oberste Führer (murshid) angehören. Jedes Mitglied des Generalsekretariats ist zuständig für einen bestimmten Geschäftsbereich, wie Rekrutierung an den Universitäten, Bildung oder Politik. Gewählt wird das Generalsekre­tariat vom Rat (shura), der aus etwa hundert Muslimbrüdern besteht. Der Rat debattiert wichtige Entscheidungen – beispielsweise darüber, ob die Organisation an einer Wahl teilnimmt – und stimmt darüber ab. Das Generalsekretariat führt die Anweisungen dann aus.

Die Anordnungen werden auf einem klar umrissenen „Dienstweg“ nach unten weitergegeben: Das Generalsekretariat beauftragt seine Vertreter in den Regionalsektoren, diese ihre Vertreter in den Lokalsektoren, die dann ihre Vertreter innerhalb der örtlichen Bevölkerung beauftragen, die den Befehl an die Leiter der örtlichen usra weitergeben, bis letztere schließlich ihre Mitglieder instruieren. Diese Dienstkette läuft auch umgekehrt: Eine usra kann ihre Anliegen bis zum Rat der Bruderschaft und dem General­sekretariat schicken.

Die Leistungsfähigkeit dieses Systems erwies sich während der Anti-Mubarak-Proteste. Nachdem die Organisation beschlossen hatte, dass eine Teilnahme „verpflichtend“ sei, wurden die Brüder in Windeseile per Telefonkette informiert und fanden sich prompt zur Demonstration am 28. Januar ein – dem „Freitag des Zorns“. Die überwältigende Mehrheit der ägyptischen Demonstranten stand gar keiner politischen Bewegung nahe. Aber es schien, als habe die Order der Muslimbrüder der Protestbewegung neuen Schwung verliehen. Als an diesem Tag die ­Mittagsgebete in den Moscheen des ganzen Landes endeten, postierten sich an jeder Eingangstür einige Aktivisten. Viele von ihnen, so heißt es, waren Muslimbrüder. Allein deren Präsenz gab den Menschen, die sich an den Protestgebeten beteiligten, ein Gefühl der Sicherheit, das nötig war, um sich Mubaraks Polizisten entgegenstellen zu können. So konnten die Demonstranten einen frühen Sieg erringen: Kurz nach dem 28. Januar befahl Mubarak die Sicherheitskräfte zurück, die zuvor mit roher Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen waren.

Von der Bewegung zur Partei

Jetzt gehen die freitäglichen Proteste auf dem Tahrir-Platz weiter und die Demonstrationen. Doch die von den Muslimbrüdern unterstützten Demonstrationen ziehen weitaus mehr Menschen an als die Kundgebungen anderer Gruppierungen. Sofern Mubaraks Nationaldemokratische Partei nicht unter anderem Namen wiederbelebt wird, verfügt keine andere Partei über ein auch nur annähernd so dichtes Netz bekennender Anhänger wie die Muslimbruderschaft. Damit hat sie die Chance, eine Mehrheit der Sitze und vielleicht sogar eine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Herbst zu gewinnen. Aber das reicht der Bruderschaft noch nicht: Während der vergangenen Monate hat die Gruppe einige unabhängige Kandidaten dazu ermutigt, sich zur Wahl zu stellen, und ihnen die Unterstützung der Bruderschaft versprochen. Wie groß die Zahl der unabhängigen Kandidaten ist, bleibt unklar. Klar ist aber, dass die Bruderschaft eine sehr deutliche Mehrheit im Parlament wünscht, die ihrer Ideologie nahe steht.

Ganz reibungslos ist die Gründung einer legalen Partei der Bruderschaft allerdings nicht vonstatten gegangen. Einige der bekanntesten Mitglieder empfinden das Verbot, für andere islamische Parteien als die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ anzutreten, als erhebliche Einschränkung. Andere fürchten, dass die Bruderschaft mit der Parteigründung das größere Ziel aus den Augen verliert: die langfristige Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft durch die Bereitstellung von sozialen Diensten. Diese Ansicht scheinen besonders junge Aktivisten zu teilen. Ende März dieses Jahres hielten sie ohne Zustimmung des Generalsekretariats eine Konferenz ab, um ihre Position in die Öffentlichkeit zu tragen. „Wir möchten, dass die Bruderschaft eine religiöse Gruppe ist und nicht in die Politik geht“, bekräftigt der Mediziner Achmed Hassan, der an der Konferenz teilnahm.

Aufgrund dieser internen Spannungen meinen einige Experten, dass die Bruderschaft in mehrere politische Splittergruppen zerfallen würde und prominente ältere Führer wie Abu al-Fatuch eine erhebliche Zahl von Anhängern anziehen könnten. Zudem würden unzufriedene Jugendaktivisten sich den Befehlen des Generalsekretariats zu ihrer Wahlentscheidung widersetzen. Solche Spannungen könnten nach Ansicht einiger Experten die Mobilisierungskraft der Bruderschaft untergraben.

Tatsächlich sind Unstimmigkeiten über die politische Zukunft der Muslimbruderschaft eher selten und treiben nur relativ wenige Mitglieder um. Die Konferenz der jungen Mitglieder vom März war nur von Bedeutung, weil sie ohne Erlaubnis des Generalsekretariats stattfand. Besucht wurde sie jedoch nur von einigen Hundert Teilnehmern. Dagegen unterstützten „Tausende Jugendliche das General­sekretariat und die Muslimbruderschaft“, so der prominente Muslimbruder und Journalist Mohammed Abdul Kuddus.

Ende des Parallelstaats

Die EU hat über den wachsenden Einfluss der Bruderschaft allen Grund zur Sorge. Die Gruppe beteuert zwar, dass ihre Ziele „moderat“ seien. Darunter verstehen sie, dass „keine Gewalt angewandt, Terrorismus verurteilt und nicht mit Dschihadisten zusammengearbeitet wird“, so Khaled Hamza, Redakteur der englischen Website der Bruderschaft.

Interviews mit Muslimbrüdern zeigen aber, dass sie Ausnahmen von der Regel der Gewaltlosigkeit machen: „Zionismus ist eine Bande, kein Staat. Also werden wir uns ihnen widersetzen, bis sie keinen Staat mehr haben“, sagt der ehemalige Chef der Bruderschaft Mahdi Akef. Auch die Konflikte in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien und im Irak zählen für die Muslimbrüder zu den Auseinandersetzungen, in denen es für sie erlaubt ist, Gewalt anzu­wenden.

Der Aufstieg der Bruderschaft bedeutet, dass die kommende ägyptische Regierung weniger Bereitschaft zur Kooperation mit Europa zeigen wird. Ägypten könnte näher an den vom Iran geführten Block der Länder rücken, die dem Einfluss des Westens einen Riegel vorschieben wollen. Auch die Zusammenarbeit mit Israel in Fragen der Sicherheit wird Ägypten sehr wahrscheinlich reduzieren. Die neuen Linien ägyptischer Außenpolitik sind schon jetzt sichtbar: Der derzeit regierende Oberste Militärrat hat wieder Beziehungen zum Iran aufgenommen – zu einem Regime, das eine Straße nach dem Mörder des ägyptischen Staatschefs Anwar as-Sadat benannt hatte. Ganz offensichtlich wird die Regierung wegen des wachsenden Einflusses der Bruderschaft und der generellen Unzufriedenheit mit Mubaraks Außenpolitik nervös. Das ist auch der Grund, warum die Grenze zum Gaza-Streifen wieder geöffnet wurde, die seit dem Abzug Israels im August 2005 geschlossen war.

Ägypten würde Israel wohl auch dann nicht den Krieg erklären, wenn die Muslimbruderschaft an die Macht käme. Doch sie hat klar gemacht, dass sie den „Widerstand“ im Gaza-Streifen unterstützen möchte, was vermutlich zu größeren Zahlungen an die Hamas führt. Und das bedeutet, dass sich die Feindseligkeiten zwischen Israelis und Palästinensern weiter verschärfen.

Gerade weil ein Wahlsieg der Muslimbrüder die ägyptische Außenpolitik weiter von europäischen Interessen entfernen wird, muss Brüssel den Einfluss der Gruppe an zwei Fronten bekämpfen. Vor den Wahlen muss die EU den jetzigen militärischen Machthabern und den Parteien unmissverständlich aufzeigen, welche Verhaltensweisen sie akzeptiert und welche nicht. Namentlich sollte die EU versprechen, dass sie jedes Wahlergebnis anerkennt – wenn sich die Gewählten umgekehrt dazu verpflichten, sich nicht in außerägyptische Angelegenheiten einzumischen. Das würde den mit ziemlich großer Sicherheit erfolgenden Vorwurf der Muslimbrüder auffangen, fremde Mächte mischten sich in ägyptische Innenpolitik ein: Europas Nichteinmischung in ägyptische Angelegenheiten würde mit der Nichteinmischung der Muslimbruderschaft in den Nahost-Konflikt aufgerechnet werden. Mehrere europäische Botschafter haben sich bereits mit Führern der Bruderschaft getroffen – in zukünftigen Treffen sollten die Europäer ihre Erwartung klar aussprechen, dass die Bruderschaft in regionalen Angelegenheiten verantwortungsbewusst handeln muss.

Nach den Wahlen muss die EU weiterhin demokratische Gruppierungen durch verschiedene NGOs unterstützen. Gerade die Ausbildung von politischen Kräften außerhalb von Kairo ist wichtig. In vielen länd­lichen Regionen hat die Bruderschaft fast ein Machtmonopol, und dies trägt maßgeblich zur Stärke der Gruppe bei. Europa und die progressiven Gruppen in Ägypten können diesen Einfluss nur bekämpfen, wenn sie freiheitliche Ideen verbreiten und den Menschen beibringen, wie sie sich politisch organisieren können. Außerdem sollten europäische Politiker immer wieder ihre Hoffnung bekunden, dass Ägypten auch das religiös offene Land wird, für das die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz gekämpft haben. Sie sollten sich jedes Mal zu Wort melden, wenn ägyp­tische Christen angegriffen werden, wie es in den vergangenen Wochen und Monaten mehrmals geschehen ist. Solche Übergriffe sind Vorboten von mehr Intoleranz und mehr Gewalt.

Europäische Unterstützung

Die EU hat einige Vorteile gegenüber anderen westlichen Verbündeten, wenn es um eine demokratische Liberalisierung in Ägypten geht – und darum, den Vorstoß der Bruderschaft abzuwehren, eine theokratische, antiwestliche Einstellung in Ägypten zu etablieren. Amerikanische Unterstützung für demokratische Gruppierungen und Kredite des Internationalen Währungsfonds hat die Übergangsregierung als „Einmischung“ abgelehnt. Um Wirtschaftshilfe der EU hingegen hat Premierminister Essam Scharaf ganz öffentlich nachgesucht. Brüssel sollte sicherstellen, dass die Regierung zumindest Teile dieser Hilfe nutzt, um Dienstleistungen in jenen Regionen auszubauen, die von Bildungs-, Sozial- und medizinischen Einrichtungen bedient werden, die der Bruderschaft nahe stehen. Der „Parallelstaat“ der Organisation muss abgebaut werden, um die Unterstützung für die Bruderschaft zu schmälern.

Die Europäische Union wird keine andere Wahl haben, als mit den neuen Machthabern in Kairo zusammenzuarbeiten, wer immer das auch sein mag. Brüssel muss deshalb sicher­stellen, dass der Aufstieg der Muslimbruderschaft ein kurzfristiges Phänomen bleibt und dass sie klare Grenzen ziehen muss und eine Schädigung europäischer Interessen nicht duldet. Zugleich muss Europa die Ägypter dabei unterstützen, ihre Politiklandschaft pluralistischer zu gestalten; mehr Wettbewerb ist dringend notwendig. Um all dies zu erreichen, müssen sich europäische Politiker über das Wesen der Bruderschaft als politische Organisation im Klaren sein. Die etwa 600 000 Mitglieder pflegen eine nahezu unerschütterliche Treue zu ihrer Gruppe; sie werden daher ihre Ansichten kaum mäßigen. Europas Außenpolitik muss sich also auf die 81 Millionen Ägypter konzentrieren, die nicht der Bruderschaft angehören, größtenteils politisch ungebildet, ungebunden und inaktiv sind. In der zutiefst religiös geprägten Gesellschaft Ägyptens wäre es für die Bruderschaft ein Leichtes, deren Loyalität zu gewinnen, wenn der Westen nicht schnellstens die Alternative fördert – die liberale Einstellung, für die die Jugendlichen auf dem Tahrir-Platz so mutig gekämpft haben.

ERIC TRAGER ist Doktorand an der University of Pennsylvania und Ira Weiner Fellow am Washington Institute for Near East Policy.

© Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Foreign Affairs

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 74-82

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