IP

01. Juli 2007

Unter Umständen legitim

Über die Rechtmäßigkeit von Herrschaft in Räumen begrenzter Staatlichkeit

Kann Governance, die Ausübung von Herrschaft durch Regierungen oder Institutionen, legitim sein, auch wenn sie nur in begrenztem Maße auf staatlichen Strukturen beruht? Die Antwort: Das kann sie – sofern eine Reihe von allgemeinen Standards für Legitimität erfüllt sind.

Nicht überall, wo Governance ausgeübt wird, gibt es eine starke Regierung und eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit. Dennoch kann diese Governance rechtmäßig sein. Die Voraussetzungen dafür werde ich im Folgenden erläutern.1 Von Räumen begrenzter Staatlichkeit spricht die politische Theorie, wenn drei Merkmale gegeben sind: das Fehlen eines Gewaltmonopols, ein Mangel an verbindlichen rechtsstaatlichen Strukturen sowie ein weitgehendes Unvermögen, kohärente Entscheidungen für eine Gemeinschaft zu treffen.2 Mit Hilfe dieser Kriterien lässt sich eine Linie ziehen vom (positiven) Idealtyp einer verfassungsmäßigen Regierung am einen und dem (negativen) Idealtypus einer nichtstaatlichen Lenkung am anderen Ende; Räume begrenzter Staatlichkeit finden sich eher auf der negativen Seite.

In Räumen begrenzter Staatlichkeit sollten wir nicht nur danach fragen, welche kollektiven Entscheidungen unter den gegebenen Umständen sinnvoll sind, sondern auch danach, wie einzelne Individuen sich verhalten werden, wenn diese Entscheidungen nicht herstellbar sind. Thomas Hobbes hat für diesen Fall die berühmte Hypothese vom „Krieg aller gegen alle“ aufgestellt, eindeutig die schlimmste aller möglichen Varianten. Sollte ein solcher Krieg die Alternative zu einer schwachen, nur eingeschränkt auf staatlichen Strukturen beruhenden politischen Lenkung sein, stellt sich die Frage nach deren Legitimität. Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit ist nicht „gut“ – die Frage muss lauten, ob sie akzeptabel ist. Legitimität lässt sich sowohl normativ als auch soziologisch deuten. Misst man einer Institution Legitimität im normativen Sinne bei, gesteht man ihr auch das Recht zum Regieren zu – wenn denn mit Regieren gemeint ist, dass Regeln erlassen und die Befolgung oder Missachtung dieser Regeln sanktioniert werden. Regieren in diesem weiten Sinne erfordert nicht unbedingt einen Rückgriff auf Zwangsmittel und noch viel weniger, dass der Regelgeber ein gesetzmäßiges Zwangsmonopol beansprucht; es setzt also keinen Staat voraus. Im soziologischen Sinne ist eine Institution legitim, wenn die Allgemeinheit von ihrem Recht zum Regieren überzeugt ist. Soziologische Legitimität spiegelt die gesamten normativen Ansichten einer großen Zahl von Menschen wider.

An dieser Stelle soll in erster Linie die normative Legitimität von Institutionen untersucht werden: Unter welchen Voraussetzungen dürfen Governance-Institutionen als legitim gelten, wenn eine starke Regierung und eine demokratische Öffentlichkeit fehlen?

Zunächst der normative Standpunkt der liberalen Demokratietheorie. Zu den Grundprinzipien der Demokratietheorie gehört es, dass dem Einzelnen die Freiheit zur Selbstbestimmung zugestanden wird und alle Menschen gleich behandelt werden. Daraus folgt, dass überall da, wo kollektive Entscheidungen nötig sind, jeder Einzelne eine gleichberechtigte Stimme haben sollte und Menschen, die miteinander kommunizieren und sich selbst als (öffentliche) Gruppe begreifen, zudem die Möglichkeit kollektiven Handelns haben sollten – was ich im Übrigen beides als wünschenswert erachte. Liberale Demokratietheorie fordert, dass die Machtfülle der Herrschenden eingeschränkt wird; mindestens aber sollten Governance-Institutionen den Missbrauch der Macht durch ein System gegenseitiger Kontrolle und Verantwortlichkeit begrenzen. Wo immer dies möglich ist, sollte diese Verantwortlichkeit eine Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit beinhalten, sollten Institutionen in freien Wahlen mit gleichem Stimmrecht zur Verantwortung gezogen werden können. Ich interpretiere die liberale Demokratietheorie in konsequentialistischer Weise:3 Ihre höchste Rechtfertigung liegt in dem Anspruch, dass sie dem Einzelnen größere Chancen einräumt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und seine individuellen Fähigkeiten auszuschöpfen. Würde die Befolgung liberaler demokratischer Normen die Chancen auf ein erfülltes Leben aber verringern, wäre dies nicht zwangsläufig gerechtfertigt.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass sich die liberale Demokratietheorie mit der tatsächlichen Situation in Räumen begrenzter Staatlichkeit nur schwer vereinbaren lässt. Ganz sicher gilt das auch für Global Governance. Ein Anhänger der Demokratietheorie befindet sich in einer vertrackten Lage: Will er Gehör finden, muss er die hehren Maßstäbe einer „idealen“ Demokratie so anpassen, dass sie auch unter diesen schwierigen Gegebenheiten gelten. Alles andere wäre unrealistisch, sämtlichen funktionierenden Institutionen würde die Legitimität fehlen. Eine demokratische Vorstellung von Legitimität wäre nur wenig hilfreich zur Unterscheidung von Governance-Institutionen oder gar für eine Art von Kritik, die zu Verbesserungen führen könnte.

Rückhalt, Gerechtigkeit, Dynamik

Meiner Meinung nach setzen alle Standards zur Beurteilung der Legitimität von Governance-Institutionen drei Dinge voraus. Erstens müssen sie eine Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion für die Institutionen übernehmen. Zweitens sollten sie sich an einem Konzept von Gerechtigkeit orientieren, Gerechtigkeit aber nicht mit Legitimität gleichsetzen. Drittens schließlich sollten sie nicht nur eine statische Bewertung ermöglichen, sondern auch die Einschätzung von institutionellen Veränderungen. Zunächst einmal sind Governance-Institutionen wertvoll, weil sie Normen setzen und einzelnen Akteuren Informationen an die Hand geben, mit denen diese ihr Handeln zum gegenseitigen Nutzen aufeinander abstimmen können. Institutionen können Transaktionskosten verringern, eröffnen Akteuren Möglichkeiten, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen und stellen öffentliche Güter bereit. Ob eine Institution diese wichtigen Funktionen erfüllen kann, hängt jedoch stark davon ab, ob die Adressaten der Regeln diese als bindend betrachten. Ist eine Institution erst einmal etabliert, werden ihre Unterstützung und die Befolgung ihrer Regeln oft zu einer Frage puren Eigeninteresses: Sind Regeln und Sanktionen für deren Verletzung erst einmal formuliert, werden die meisten Menschen ihre Einhaltung als vernünftig ansehen. Geht es aber um Global Governance und Räume begrenzter Staatlichkeit, so ist darauf kein Verlass, denn oft scheint eine Bestrafung für die Missachtung von Regeln unwahrscheinlich. Daher ist Legitimität besonders wichtig für den Bestand von Institutionen – gerade in Situationen, in denen wir zunächst von einer geringen Legitimität ausgehen. Generell hängt die Beurteilung von Legitimität ganz erheblich davon ab, welche Aufgabenbereiche von Institutionen wir als legitim empfinden. Ein nicht unbedingt demokratischen Idealen entsprechender Verbund von Institutionen, dessen Vorschriften allgemeine Überzeugungen widerspiegeln und der deshalb eine wichtige Koordinierungsfunktion übernimmt, kann – gemäß meiner konsequentialistischen Demokratietheorie – normativ gesehen einem Verbund überlegen sein, der den Idealen zwar eher entspricht, aber weniger mit vorherrschenden Überzeugungen übereinstimmt.

Gerechtigkeit, um zum zweiten Punkt zu kommen, ist eine Idealnorm, Legitimität aber stellt einen Schwellenwert in einer nicht idealen Welt dar, der den Bedingungen entspricht, unter denen einer Institution das Recht zum Regieren zusteht. Gerechtigkeit und Legitimität sind deshalb eng miteinander verknüpft, nicht aber ein und dasselbe. Aus dem Blickwinkel der Gerechtigkeit selbst wäre es unsinnig, Institutionen deshalb nicht zu unterstützen, weil sie die Erfordernisse der Gerechtigkeit nicht erfüllen – Fortschritte in Richtung Gerechtigkeit nämlich erfordern wirkungsvolle Institutionen. Legitimität mit Gerechtigkeit zu verwechseln, hieße das Beste zum Feind des Guten zu machen. Bei extremer Ungerechtigkeit einer Institution jedoch werden sämtliche moralischen Motive zu ihrer Unterstützung gegenstandslos; um ihre Legitimität zu bewahren, muss sie fortwährend Überlegungen anstellen, was zur Herstellung von Gerechtigkeit erforderlich ist und welchen Beitrag sie selbst dazu leisten sollte.

Drittens gilt es, die Möglichkeit von Veränderungen zu berücksichtigen. Es mag viele Wege geben, über die Governance-Institutionen aus konsequentialistischen demokratischen Gründen an Legitimität gewinnen können. So könnte beispielsweise eine in einem statischen Sinne überlegen anmutende Institution nur lokal von Bedeutung und unfähig zu Verbesserungen sein, während eine scheinbar unterlegene Institution genau diese Fähigkeit aufweist. Unter solchen Bedingungen kann die zu Verbesserungen fähige Institution selbst bei momentaner Unterlegenheit langfristig sehr wohl legitimer sein.

Vier Kriterien für Legitimität

Das erste Kriterium zur Bewertung der Legitimität von Institutionen ist minimale moralische Akzeptanz. Governance-Institutionen sollten, wie andere Institutionen auch, weder massive Menschenrechtsverletzungen noch Ungerechtigkeiten begehen. Es ist nicht überraschend, dass zwischen Grundrechtstheoretikern umstritten ist, welche Grundrechte zu den Menschenrechten gehören und wie einzelne Rechtsprinzipien auszufüllen sind. Einigkeit besteht darüber, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit dazu gehören sollte, außerdem das Recht auf Freiheit und das Existenzrecht. Deshalb lässt sich Folgendes sagen: Governance-Institutionen (und Institutionen generell) sind nur dann legitim, wenn sie die am wenigsten strittigen Menschenrechte beachten. Ist eine minimale moralische Akzeptanz gegeben, sollte der Maßstab für Legitimität jedoch noch ausgedehnt werden.

Ein zweites Kriterium für Legitimität ist der komparative Vorteil. Die Rechtfertigung für die Existenz von Governance-Institutionen ist vor allem instrumenteller Natur: Wir schätzen diese Institutionen wegen des Vorteils, den sie uns bringen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser „Vorteil“ einem Vergleich unterliegt. Die Legitimität einer Institution wird dann in Frage gestellt, wenn es eine institutionelle Alternative zu ihr gibt, die größere Vorteile bringt, ohne exzessiven Aufwand erreichbar ist und das Kriterium der minimalen moralischen Akzeptanz erfüllt. Bleibt eine Institution dauerhaft unter ihren Möglichkeiten, ist ihre Legitimität anfechtbar. Mit anderen Worten: Wenn wir die Legitimität einer Institution hinterfragen, müssen wir immer auch einen Vergleich anstellen. In meiner Werteskala sind diese beiden ersten Kriterien die wichtigsten, die sine quibus non. Herrschaftsordnungen, die diese Kriterien nicht erfüllen, sind illegitim. Die beiden jetzt folgenden Kriterien sind dagegen fraglos wichtig, bei der Beurteilung geht es aber eher um das Ausmaß, in dem sie erfüllt werden. Alle regierenden Institutionen, selbst demokratische, werden ihnen nur bedingt gerecht. Im globalen Maßstab und in Räumen begrenzter Staatlichkeit werden diese Kriterien selten erfüllt; um bei der Anwendung der Demokratietheorie realistisch zu bleiben, muss man damit rechnen, die Messlatte niedriger anzulegen.

Das dritte Kriterium ist institutionelle Integrität. Besteht ein extremes Ungleichgewicht zwischen dem tatsächlichen Auftreten einer Institution und den von ihr proklamierten Praktiken oder Zielen, steht ihre Legitimität ernsthaft in Frage. Eine Institution ist vermutlich illegitim, wenn ihr Handeln jenen Zielen entgegenwirkt, mit denen sie ihre Existenz rechtfertigt. Erfüllt eine Institution das Kriterium der Integrität nicht, besteht Grund zur Annahme, dass wichtige Akteure dieser Institution kein Vertrauen verdienen oder inkompetent sind, dass der Institution Korrekturmechanismen fehlen und sie deshalb wohl kaum jene Güter bereitstellt, welche die Befolgung ihrer Regeln gerechtfertigt erscheinen lassen.

Minimale moralische Akzeptanz, komparativer Vorteil und institutionelle Integrität sind wichtige Maßstäbe für die Legitimität von Governance-Institutionen. Doch oft muss man eine Abwägung treffen. Massive Menschenrechtsverletzungen sind nicht hinnehmbar; die Erwartungen an eine Institution aber sollten zum Teil davon abhängen, wie hoch der von ihr erbrachte Nutzen ist und ob es akzeptable Alternativen gibt. So können wir eine Institution auch dann legitim nennen, wenn es ihr an Integrität fehlt, sie aber grundlegende Menschenrechte wirksam schützt und die Alternativen noch düsterer wären.

Die vierte und letzte Bedingung für Legitimität ist epistemische (erkenntnistheoretische) Qualität. Eine Institution darf sich zumindest nicht auf offensichtlich falsche Überzeugungen gründen und muss hinlänglich über ihr Handeln informieren. Institutionen etwa, die auf Rassismus beruhen, sind ipso facto illegitim, da der Glaube an eine rassische Überlegenheit nachweislich falsch ist. Auch Institutionen, die Informationen systematisch manipulieren und ins Gegenteil der Wahrheit verkehren – wie beispielsweise im stalinistischen Russland – sind ipso facto illegitim. Legitime Institutionen können die allgemeine Kenntnis ihrer Handlungen verkraften. Um eine epistemische Qualität aufzuweisen, müssen Institutionen in einem vernünftigen Maß Rechenschaft ablegen und transparent sein.

Verantwortlichkeit, verstanden als Rechenschaftspflicht, schließt drei Dinge ein. Erstens müssen diejenigen, die Rechenschaft ablegen, bestimmte Maßstäbe erfüllen. Zweitens müssen diejenigen, denen Rechenschaft abgelegt wird, über Informationen zur Anwendung dieser Maßstäbe verfügen. Drittens müssen diejenigen, denen Rechenschaft abgelegt wird, Sanktionen aussprechen können. Mit jeder Form institutioneller Verantwortlichkeit ist also ein gewisses Maß an Transparenz verbunden. Nun muss aber nahezu jede Institution irgendwem Rechenschaft ablegen – selbst wenn es sich dabei nur um kriminelle Hintermänner handeln sollte. Rechenschaftspflicht per se reicht also nicht aus; es muss sich um die richtige Art von Rechenschaft handeln. Zumindest müssen innerhalb der Institution wirksame Vorkehrungen getroffen worden sein, dass ihre Akteure zur Verantwortung gezogen werden können, ihr Handeln einem Mindestmaß moralischer Akzeptanz entspricht und einen komparativen Vorteil bringt. Zudem müssen bestehende Standards bezüglich der Rechenschaftspflicht und unsere Vorstellung davon, wer die Richter sein können und wessen Interessen sie vertreten sollen, überprüfbar sein.

Die Schaffung von Transparenz wird oft als adäquate Antwort auf Besorgnisse hinsichtlich der Legitimität von Governance-Institutionen verstanden; zu sagen, dass Transparenz auch Legitimität sichert, wäre jedoch unangemessen. Damit Transparenz Wirkung zeigt, müssen die Informationen über die Arbeit der Institution zu einem zumutbaren Preis erhältlich sein, angemessen interpretiert und an Verantwortliche weitergegeben werden, die motiviert sind, diese Informationen bei ihrer Beurteilung auch entsprechend zu nutzen.

Legitime Governance-Institutionen sollten drei epistemische Tugenden aufweisen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, Sachverhalte zu koordinieren. Deshalb müssen sie erstens diesbezüglich verlässliche Informationen liefern und angemessen verbreiten (andernfalls erfüllen sie die Bedingung des komparativen Vorteils nicht). Zweitens müssen sie Informationen über sich selbst preisgeben (da Verantwortlichkeit Transparenz erfordert). Sie müssen wirksame Vorkehrungen dafür treffen, die Informationen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, zu interpretieren und an die jeweiligen Kontrolleure weiterzuleiten. Drittens, und das ist am schwierigsten, müssen sie fähig sein, die Bedingungen für Verantwortlichkeit oder Rechenschaftspflicht von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Aber selbst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, zeitigt Transparenz nicht immer nur positive Folgen. Denn die Akteure könnten sich bemüßigt fühlen, ihrem „Publikum“ in puncto Transparenz etwas vorzugaukeln, wodurch es noch schwieriger würde, eine Verständigung zu erzielen. Wie auch immer: Das Vorhandensein von Transparenz sollte meines Erachtens als Bedingung für Legitimität zunächst angenommen werden, diese Annahme dann aber überprüfbar sein – schließlich können die negativen Folgen von zu großer Transparenz durch eine ausführlichere öffentliche Debatte gemildert werden, während es keine demokratische Antwort auf Geheimaktionen von Bürokratien gibt, die öffentlich keine Rechenschaft ablegen müssen.

Theorie und Praxis

Normative Legitimitätsstandards aufzustellen ist das eine, diese anzuwenden das andere – und weitaus schwierigere. Wegen der engen Verknüpfung normativer und empirischer Aspekte von Legitimität ist bei einer praxisbezogenen Bewertung von entscheidender Bedeutung, wie es um öffentliche Gruppierungen und deren vorherrschende Überzeugungen bestellt ist. Da eine idealtypische demokratische Öffentlichkeit nicht existiert – ganz sicher nicht im globalen Bereich und in Räumen begrenzter Staatlichkeit – wird immer eine Abwägung zwischen der Annäherung an demokratische Ideale und der Stärke von Institutionen zu treffen sein. Stärkere Institutionen zu schaffen bedeutet höchstwahrscheinlich, normative Opfer bringen zu müssen, und umgekehrt.

Auf globaler Ebene bin ich geneigt, nicht allzu strenge Maßstäbe anzulegen; Institutionen sind für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit unerlässlich und diese wiederum ist entscheidend für die Verwirklichung von Frieden, Wohlstand, Umweltschutz oder Menschenrechten. In der Regel erfüllen internationale Institutionen das Kriterium des komparativen Vorteils, da die Alternative in Zerwürfnissen und einseitigem bzw. regionalem Handeln besteht. Sie begehen keine schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen; allerdings neigen sie dazu, von anderen begangene Menschenrechtsverletzungen hinzunehmen, derzeit etwa in Ruanda und im Sudan. Dass eine Institution schwach ist, macht sie noch nicht illegitim. Wenn dem so wäre, wäre das Heilmittel schlimmer als die Krankheit selbst und würde die Institution weiter schwächen. Nur zu oft mangelt es globalen Institutionen an Integrität, denn mit Abhängigkeit ist auch Heuchelei verbunden, weil globale Institutionen nun einmal abhängig sind von Staaten, die selbst oft unlauter agieren. Globale Institutionen weisen ein hohes Maß an Transparenz auf – nicht unbedingt, weil sie relevante Informationen systematisch veröffentlichen, sondern weil sie zu zersplittert sind, um etwas geheim zu halten. Irgendwem sind auch globale Institutionen mehr oder minder rechenschaftspflichtig (zum Teil, weil sie schwach sind) – selbst wenn diese Verantwortlichkeit kaum demokratischer Natur ist. Gemessen an den hier formulierten Standards für Legitimität sind die meisten multilateralen Institutionen im Allgemeinen mit schwerwiegenden Mängeln behaftet, nicht aber illegitim. Wenn denn die Ziele einer solchen Institution moralisch wertvoll sind und die zu ihrer Verwirklichung gewählten Mittel angemessen erscheinen, dann sollte eine kollektive Entscheidung über die Unterstützung der Institution meines Erachtens nicht von Legitimitätsbedenken abhängen.

In Räumen begrenzter Staatlichkeit ist die Sache schon schwieriger. Hier gibt es drei mögliche Szenarien:

  1. Staaten oder multilaterale Organisationen können genötigt sein, Völker und Territorien zu regieren, die rechtlich nicht zu ihnen gehören, und darüber zu entscheiden, die Regierungsgewalt an eine ortsansässige Regierung zu übergeben.
  2. Außenstehende können zur Entscheidung berufen werden, bestehende Regierungen anderer Staaten anzuerkennen bzw. zu unterstützen und damit ein Urteil über deren Legitimität zu fällen.
  3. Es kann eine Einschätzung historischer Situationen gefragt sein, die sich als Beispiel für begrenzte Staatlichkeit einstufen lassen, etwa die britische Kolonialherrschaft in Nordamerika.

Regierungsgewalt ausüben oder abgeben?

Wie derzeit im Kosovo, so oblag den Vereinten Nationen für einige Zeit auch die Regierungsgewalt in Bosnien. Sie mussten entscheiden, ob die Legitimation der lokalen Regierungsinstitutionen ausreichte, um die Macht an sie zu übergeben. Gegenwärtig ist es eine drängende Frage, ob die Albaner im Falle territorialer Souveränität eine Regierung für das gesamte Kosovo bilden könnten, die den Legitimitätsstandards entspricht. Eher wohl nicht – es gibt keine kosovarische Öffentlichkeit (Albaner und Serben sind dafür zu zerstritten), und kaum etwas spricht dafür, dass eine solche Regierung gegenüber der serbischen Minderheit auch nur minimale Menschenrechtsstandards einhalten würde. Meine Definition von Legitimität legt nahe, dass der Beachtung der Menschenrechte größere Bedeutung beizumessen ist als etwa Souveränität und territorialer Integrität an sich. Eine Regierung der Kosovo-Albaner, die eine Einhaltung der Menschenrechte der Serben nicht zusichern kann, sollte also nicht anerkannt werden.

Im Irak standen die USA vor einer ähnlichen Wahl, als sie die Souveränität an eine irakische, schiitisch geführte Regierung übertrugen. Diese Regierung erfüllt ganz offenkundig keinen einzigen der hier formulierten Standards – sie begeht massive Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und Mord entweder selbst oder nimmt sie hin. Tatsächlich hat der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki kürzlich auf die Anschuldigung einer Sunnitin, sie sei von schiitischen Streitkräften vergewaltigt worden, mit dem allzu bekannten Versuch geantwortet, die Frau zu diskreditieren, statt eine unparteiische Untersuchung zu veranlassen.

Letztlich scheint diese Regierung der Bevölkerung weniger Vorteile zu bringen als eine ebenfalls denkbare autoritäre Regierung, die sektiererische Gruppierungen unter Kontrolle halten könnte. Das Verhalten der Regierung straft die Worte von Demokratie und Gleichberechtigung, die ihre Sprecher – zumindest gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit – im Munde führen, Lüge. Würde die Regierung die Kriterien minimale moralische Akzeptanz und komparativer Vorteil erfüllen, könnte man der hier aufgezeigten Theorie entsprechend geneigt sein, die Standards für Integrität, Transparenz und Verantwortlichkeit beträchtlich herunterzuschrauben. Schon die ersten Hürden aber hat die Regierung Maliki nicht nehmen können.

Das sagt natürlich nichts darüber aus, was für eine Regierung den Legitimitätstest bestehen würde. Auch das Regime Saddam Hussein mit seinem systematischen Einsatz von Folter, Terror und Mord ist bei diesem Test glatt durchgefallen. Gleiches gilt für die US-Herrschaft, die in den Augen der Iraker niemals legitim sein kann und deshalb für bewaffneten Widerstand und all jene Brutalitäten – auf beiden Seiten – sorgt, den ein von der Bevölkerung unterstützter bewaffneter Widerstand gegen einen militärisch überlegenen Besatzer hervorbringt. Da es im Irak keine einheitliche Öffentlichkeit mit einem kollektiven Wir-Gefühl gibt, lässt sich nur schwer eine Regierung ausmachen, die den aufgezeigten Legitimitätsstandards entsprechen würde. Sich dieses wahrscheinliche Ergebnis einer Intervention nicht klar gemacht zu haben, wird der politischen Elite Amerikas und Großbritanniens auf ewig anzulasten sein – nicht allein den Regierenden, sondern von einigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen der politischen Klasse insgesamt.

Angesichts der Wahl zwischen Pest und Cholera fühle ich mich auf die theologische Unterscheidung zwischen der Sünde des Tuns und der Sünde des Unterlassens zurückgeworfen. Es ist schlimmer, aktiv eine Ungerechtigkeit zu begehen als sie einfach nur zuzulassen, insbesondere wenn man die Situation auf lange Sicht nicht zum Guten wenden kann. Die US-Streitkräfte sind so ins Fadenkreuz aller geraten – von sunnitischen Widerständlern bis hin zu militanten Schiiten. Aufgrund ihrer Verwundbarkeit und mangelnden Fähigkeit zur effektiven Kommunikation mit der irakischen Bevölkerung werden die US-Truppen auch weiterhin Unrecht begehen – größtenteils, weil sie unter Druck stehen und verständlicherweise überreagieren. Angesichts der Schwierigkeit, die Lage langfristig zu verbessern, scheint ihre auf unbestimmte Dauer fortgesetzte Anwesenheit im Land nur schwer rechtfertigen zu lassen. Meiner Meinung nach sollten die USA den Irak nach einem festen Fahrplan innerhalb eines Jahres verlassen. Andere Staaten in der Region und die Iraker selbst werden mehr Verantwortung übernehmen müssen, um ein Desaster zu verhindern.

Die andere öffentliche Entscheidung, die von einem Urteil über Legitimität abhängen könnte, ist die über die Unterstützung eines Regimes, das offenkundig demokratische Mängel aufweist, aber immer noch besser ist als jeder denkbare Nachfolger. Beispiel Pakistan: Die von Präsident Pervez Muscharraf geführte Regierung ist nicht demokratisch. Ihre Vorgänger, formal demokratische Regierungen, beruhten auf feudalen Strukturen, waren höchst korrupt und nicht in der Lage, die Ordnung im Lande aufrechtzuerhalten. Der Regierung Muscharraf scheint es an Integrität und Transparenz zu mangeln, da sie die Unterstützung der Taliban durch den Geheimdienst oder doch einzelne seiner Abteilungen toleriert, während sie nominell den von den USA angeführten Krieg gegen den Terror unterstützt. Es fällt jedoch nicht schwer, sich eine pakistanische Regierung vorzustellen, die noch schwerwiegendere Menschenrechtsverletzungen begeht als die gegenwärtige – eine Regierung etwa, der ein ruchloser Diktator vorsteht, der abweichende Meinungen unterdrückt, oder eine Regierung islamischer Fundamentalisten. Tatsächlich könnte auf Muscharraf sehr wohl eine solche Regierung folgen; was den komparativen Vorteil angeht, schneidet er also besser ab. Sollte die einzige Alternative zu dieser schlechten Regierung in einer noch schlechteren liegen, könnte die Regierung Muscharraf den Legitimitätstest sogar bestehen. Nun will ich keineswegs behaupten, dass praktische Politik allein oder auch nur vornehmlich auf den Prinzipien der Legitimität beruhe; für die amerikanische und die europäische Politik gegenüber Pakistan sind politische Interessen ausschlaggebend. Ich denke allerdings, dass der von mir vorgeschlagene Maßstab für Legitimität eine Unterstützung des Regimes Muscharraf rechtfertigen könnte.

Dieses Urteil könnte den Maßstab als zu dehnbar erscheinen lassen, doch dem ist nicht so. Nehmen wir nur Simbabwe. Gemäß meiner Standards ist das Mugabe-Regime eindeutig illegitim, fehlt es ihm doch an Integrität, Verantwortlichkeit und Transparenz – was aber auch für einige Regime gilt, denen ich zögernd zugestehen würde, „oberhalb der Messlatte“ zu liegen. Das Regime Mugabe verletzt die Menschenrechte auf flagrante Weise. Zwar gilt dies (zum Teil noch stärker) auch für andere Herrschaftsordnungen, entscheidend aber ist: Die Regierung scheitert am Kriterium des komparativen Vorteils. Über viele Jahre hinweg hat Mugabe selbst bewiesen, dass es eine sehr viel bessere Regierung in Simbabwe geben könnte als zurzeit, eine Regierung, die größeren materiellen Nutzen bringen und die Menschenrechte besser schützen könnte. Blick in die Geschichte

An dieser Stelle sei ein historisches Beispiel dafür genannt, wie die Legitimität einer Herrschaft gemessen werden kann: die Behandlung der nordamerikanischen Ureinwohner durch Großbritannien und die USA zwischen 1750 und 1850. Beide Kolonialmächte, Großbritannien und Frankreich, hatten Verbündete unter den Indianerstämmen, und an der Grenze zwischen britischem und französischem Territorium fanden heftige Kämpfe statt, die mitunter in regelrechte Massaker mündeten. Großbritannien bemühte sich, Grenzverletzungen durch die Siedler zu verhindern, und seine Politik war so indianerfreundlich, dass sie geradezu den Unmut der englisch sprechenden Bewohner der Kolonie hervorrief. Mit der Unabhängigkeit Amerikas wurde die Politik siedlerfreundlicher. Andrew Jackson (ab 1829 Präsident) hatte sein Renommée im Kampf gegen die Indianer erworben und trat mit Erfolg für die gewaltsame Umsiedlung der „Fünf Zivilisierten Stämme“ aus ihren angestammten Gebieten im Südosten der USA ein, jener Indianerstämme, die sich bereits früh an die Lebensweise der weißen Siedler angepasst hatten. Diese Zwangsumsiedlung wurde als „Pfad der Tränen“ bekannt. Viele unschuldige Indianer verloren auf ihm ihr Leben.

Wie also ist es hinsichtlich der Behandlung der Indianer um die Erfüllung der aufgezeigten Legitimitätskriterien durch die britische Kolonialmacht und die Amerikaner bestellt? Das Kriterium der minimalen moralischen Akzeptanz wird von den Briten erfüllt, vom Amerika zur Zeit Andrew Jacksons hingegen ebenso verfehlt wie das Kriterium des komparativen Vorteils: Die britische Regierung war aus Sicht der indianischen Ureinwohner des Landes weit überlegen. Was Integrität, Verantwortlichkeit und Transparenz angeht, schneidet Jacksons Amerika gut ab – das reicht jedoch, wie dargelegt, nicht aus, um das Scheitern bei den beiden wichtigsten Kriterien aufzuwiegen.

Ein erster Schritt

Ich habe einen Maßstab für die Legitimität von Governance-Institutionen vorgeschlagen und einige Beispiele genannt, wie dieser auf globaler Ebene und in Räumen begrenzter Staatlichkeit angewendet werden sollte. Institutionen auf globaler Ebene und in Räumen begrenzter Staatlichkeit sind häufig vergleichsweise jung und befinden sich erst am Anfang ihrer Entwicklung, sie unterliegen einem raschen Wandel. Angesichts dieser Bedingungen ist es schwer, zu eindeutigen Urteilen zu gelangen. Ich hoffe aber, dass ein Maßstab wie der hier aufgezeigte hilfreich sein kann. Er könnte die vorläufige Unterstützung einer Institution bedingen, zugleich eine Richtschnur für Verbesserungen bieten und institutionelle Veränderungen bewirken. Zur langfristigen Einschätzung bedarf es dringend einer gemeinsamen Bewertungsgrundlage, die hinreichend kritisch ist, aber doch nicht so anspruchsvoll, dass eine koordinierte, normativ fundierte Unterstützung für Governance-Institutionen unter schwierigen Bedingungen unwahrscheinlich wird. Meine Hoffnung ist, dass die hier vorgeschlagenen Standards ein erster Schritt sind, diesen Bedarf zu erfüllen.

Prof. Dr. ROBERT O. KEOHANE, geb. 1941, lehrt Internationale Beziehungen an der Woodrow Wilson School der Princeton University.

  • 1Die von mir vorgeschlagenen Standards beruhen auf einem gemeinsam mit Prof. Allen Buchanan verfassten Artikel; Allen Buchanan und Robert O. Keohane: The Legitimacy of Global Governance Institutions, Ethics and International Affairs, Dezember 2006, S. 405–437.
  • 2Bei einer Konferenz des Sonderforschungsbereichs 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ der Freien Universität Berlin hat Prof. Beth Simmons diese Wesenszüge aufgezeigt.
  • 3Der Konsequentialismus steht in der Philosophie für eine ethische Richtung, der zufolge Handlungen ausschließlich danach zu beurteilen sind, wie gut oder erstrebenswert ihre Folgen sind.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 96 - 107.

Teilen