Kommentar

25. Juni 2021

Unsicherer Kantonist: Einem EU-Indien-Abkommen steht einiges entgegen

Ein Kommentar.

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Die Beziehungen zwischen der EU und Indien waren in den vergangenen Jahren nicht unbedingt von einer überbordenden Dynamik geprägt. Regelmäßige Konsultationen und Gipfel konnten nicht über das Fehlen einer konkreten, gemeinsamen Vision über die Zukunft der Partnerschaft hinwegtäuschen.



In der Handelspolitik zeigte sich dieses Dilemma nach dem Einfrieren der Verhandlungen zu eiem Handelsabkommen im Jahr 2013 mit einigen gescheiterten Versuchen, diesen neues Leben einzuhauchen. Auch die zentrale Rolle, die Indien in den Plänen zur Ausgestaltung einer europäischen Indo-Pazifik-Strategie einnehmen könnte, änderten nichts daran, dass es an greifbaren Projekten mangelte.



Umso erstaunlicher ist für viele Beobachter, dass sich die portugiesische Regierung eine Vertiefung der Beziehungen als eine Priorität ihrer Ratspräsidentschaft auf die Fahnen schrieb. In Brüsseler Kreisen waren die Erwartungen an diesen Schwerpunkt der Präsidentschaft gedämpft.



Dann kam jedoch der 8. Mai 2021, der Tag des EU-Indien-Gipfels. Aufgrund der Corona-Lage fand dieser nur virtuell statt, dies schmälerte jedoch nicht die Signalwirkung, die von diesem Treffen ausging. Gerade in Sachen Handelspolitik waren die Ergebnisse bemerkenswert, denn in ihrem gemeinsamen Kommuniqué ließen die Staats- und Regierungschefs der EU und Indiens gleich mehrere Paukenschläge verlauten. Sie beschlossen: die Wiederaufnahme der Verhandlungen für ein umfassendes Handelsabkommen; die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Investitionsschutzabkommen und einem Abkommen zum Schutz geografischer Herkunftsbezeichnungen; die Schaffung von Arbeitsgruppen zu regulatorischer Kooperation und resilienten Lieferketten.



Darüber hinaus verständigte man sich auf eine vertiefte Zusammenarbeit in internationalen Foren wie der Welthandelsorganisation und den G20. Dieses ambitionierte Programm schlug in Brüssel ein wie eine Bombe. Sollte es endlich gelingen, in großen Schritten zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen? Hatte man nur auf diesen einen entscheidenden politischen Moment gewartet, damit beide Seiten endlich das volle Potenzial der Partnerschaft ausschöpfen können? Ganz so einfach werden sich die kommenden Schritte unserer Meinung nach aber nicht gestalten, weder aus demokratie- noch aus handelspolitischer Sicht.



Indien wird gerne als Gegenpol zu China betrachtet, als natürlicher demokratischer Verbündeter in einer immer stärker autoritär geprägten Region. Ein näherer Blick auf die innenpolitischen Verhältnisse lässt jedoch schnell Zweifel an einer solchen Sicht aufkommen. Seit Jahren entwickelt sich Indien weg von den westlichen und vor allem gesamteuropäischen Werten einer Nation, die in Vielfalt geeint ist. Die wachsende Einschränkung regierungskritischer Medien und Organisationen spiegelt sich in einer steten Verschlechterung von demokratierelevanten Indizes wider.



Der wachsende Einfluss der Regierung auf vormals unabhängige Institutionen und Politikbereiche, für die eigentlich die subföderale Ebene zuständig ist, sind weitere Symptome dieser Entwicklung. Die Bestrebungen, Indien in eine Nation der Hindus umzuwandeln, dürften weitere Einschränkungen der Rechte religiöser Minderheiten mit sich bringen.



Mit diesen Entwicklungen geht eine wirtschafts- und damit verbundene handelspolitische Strategie einher, deren Ziele mehr Autonomie, ein höherer Grad an inländischer Produktion und eine Verringerung von Importen sind. Das Vorzeigeprogramm der Modi-Regierung dafür ist „Make in India“ und deckt von Automobilen über IT und Chemie bis hin zu Textilien 25 Sektoren ab. Erste Erfolge sind eine Verbesserung der Einstufung im Geschäftsklima-Index der Weltbank. Probleme bei der globalen wirtschaftlichen Integration, bei der Kooperation und im Handel sind da allerdings vorprogrammiert.



Die Entscheidung der indischen Regierung, sich in der finalen Phase der Verhandlungen zur Regionalen umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (RCEP) zwischen den zehn ASEAN-Mitgliedstaaten und fünf weiteren Ländern in der Region aus den Gesprächen zurückzuziehen, ist ein Beispiel für den Zwiespalt, in dem sich die indische Handelspolitik befindet. Die Frage, ob man bereit ist, regionale Integration mit einer größeren Marktöffnung auch für chinesische Unternehmen zu bezahlen, beantwortete die Regierung klar mit Nein – eine Antwort, die weit über die Region hinaus für Schlagzeilen gesorgt hat.



Auch europäische Firmen sehen sich mit einer Vielzahl von Marktzugangsbeschränkungen und einem strikten regulativen Regime in Indien konfrontiert. Handelshemmnisse reichen von regulatorischen Fragen wie verpflichtenden lokalen Tests und Zertifizierungen über Diskriminierungen durch legislative oder verwaltungstechnische Hürden bis hin zu Klassikern wie hohen Zollsätzen. Diese Marktzugangsbeschränkungen und die nicht gerade konstruktive Haltung der Inder in Verhandlungen unter dem Dach der WTO haben in den vergangenen Jahren die Diskussionen über Handelsfragen in Brüssel dominiert. Weiter verwunderlich ist das nicht, denn in vielen Sektoren, in denen die EU offensive Interessen vertritt, stehen europäische Unternehmen in direkter Konkurrenz zu indischen, die mit „Make in India“ gefördert werden sollen.



Wie passt dieses Bild zu den Ankündigungen des Gipfels? Es gibt offensichtlich einen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, der durch die jüngsten Ereignisse weiter gewachsen ist. Diesen muss man offensiv angehen, sonst laufen beide Seiten Gefahr, sich wieder in schönen Worten zu verlieren, aber inhaltlich kein Stück zusammenzurücken.



Wir müssen eine ehrliche Diskussion mit unseren indischen Partnern über die Inhalte eines umfassenden Abkommens führen. Indien hat Interessen und Prioritäten, die es in die Gespräche mitbringt: einen verbesserten Marktzugang, Patentschutz vor allem im Pharmabereich sowie Dienstleistungen und den grenzüberschreitenden Verkehr natürlicher Personen. Aus europäischer Sicht gibt es unverhandelbare Mindestanforderungen an Handels- und Investitionsabkommen, etwa ein umfangreiches Nachhaltigkeitskapitel und Investitionsschutzregeln, die auf dem System des Investitionsgerichtshofs fußen – beides Neuland für Indien.



Zu Europas Interessen zählen auch Regeln, mit deren Hilfe sich technische Handelshemmnisse beseitigen und der Marktzugang für Waren und Dienstleistungen verbessern lassen. Dass sich der Versuch lohnt, diese schwierigen Gespräche zu führen, steht außer Frage. Außer Frage steht auch, dass die Europäische Union mit ihrem wertebasierten und umfassenden handelspolitischen Ansatz in der Lage ist, komplexe Abkommen zu verhandeln und abzuschließen.



Es liegt nun in der Hand der indischen Verhandlungsführer, nachzuweisen, dass „Make in India“ und ein umfassendes EU-Indien-Abkommen parallel existieren können. Denn die Frage, ob ein Abkommen mit den innenpolitischen Zielen der Modi-Regierung vereinbar ist, wurde nicht durch die Gipfelerklärung geklärt – sie wird vielmehr in den kommenden Monaten beantwortet werden.



Bernd Lange ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel (INTA).

Tim Peter ist Referent für Handelspolitik im Büro von Bernd Lange und arbeitete davor unter anderem in der Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 110-111

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