Titelthema

26. Juni 2023

Ungleichheit hilft Putin

Es ist Zeit, unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ein Kommentar.

Im Kalten Krieg entstand die Soziale Marktwirtschaft. Sie sollte, ganz bewusst, den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern, auf dass möglichst wenig Benachteiligte und Unzufriedene zu den Kommunisten des Ostblocks überliefen.

Als der real existierende Sozialismus einbrach und das Ende des Kalten Krieges nahte, verhärtete sich der Kapitalismus erst in der angelsächsischen Welt und bald auch auf dem europäischen Kontinent. Politik und Wirtschaft kümmerten sich immer weniger um das Gleichgewicht der Gesellschaft, Sozialabbau war angesagt. Die Bundesrepublik schuf im Zuge der Hartz-IV-Reformen Europas größten Niedriglohnsektor: einen Nährboden für die AfD der glühenden Putin-Bewunderer, heute mit linkem Relais bei Sahra ­Wagenknecht.

In der Machtprobe mit Russland und im Kräftemessen mit China ist es an der Zeit, dass die Politik wieder zur Zusammengehörigkeit in der Gesellschaft beiträgt – sonst wird der Westen noch mehr Putin-Freunde hervorbringen, die sich enttäuscht von der Demokratie abwenden. Ohnehin erforderte der Ukraine-Krieg eine beschleunigte Umstellung der Energie­politik – was industrielle Arbeitsplätze und einen Mehraufwand für die Haushalte kostet, also Missmut erzeugt.

Vorrangige Aufgabe aller demokratischen Kräfte ist deshalb die Neulancierung einer ökosozialen Marktwirtschaft, die viel integrative Kraft entfaltet und gesellschaftlich wie ökologisch nach ­Balance strebt. Hier sind die Liberal-Konservativen besonders gefordert, so wie Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft ein liberal-konservatives Vorhaben war, kein linkes.

Der Westen kann sich nicht einzig mit Waffen verteidigen. Angesichts der äußeren und inneren Bedrohung durch Autoritäre muss er die Kluft zwischen Arm und Reich verringern. Denn zu viel Ungleichheit ist Gift für die Demokratie. Und mindert ihre Widerstandskraft.

Den Anstoß zu einer Wirtschaftspolitik, die sich kaum mehr um ihre gesellschaftlichen Folgen kümmerte, hatten einst Konservative wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der US-Präsident Ronald Reagan gegeben. Bald übernahmen jedoch sozialliberale Staats- und Regierungschefs den Stab: in der Bundesrepublik Gerhard Schröder mit den unsanften Reformen des Arbeitsmarkts; in Großbritannien Tony Blair, Schützling des reaktionären Medienmächtigen Rupert Murdoch; in den USA Bill Clinton mit seinem Wahlkampfspruch „It’s the economy, stupid!“

Fortan galt der Primat der Wirtschaft über die Politik. Letztere verlor an Handlungsspielraum, um die Gesellschaft im Lot zu halten: Der überbordende Steuerwettbewerb setzte die Regierungen unter Druck, mehr und mehr Wünsche der Unternehmen zu erfüllen, aber mangels ausreichender Einnahmen die Bedürfnisse weiter Teile der Bevölkerung und die bürgernahen Infrastrukturen zu vernachlässigen. Der Niedergang der Deutschen Bahn, die riesigen Löcher im 5G-Mobilfunknetz oder die unzulänglichen Investitionen ins Gesundheits- und Bildungswesen sind krasse Beispiele dafür – vom desolaten Zustand der amerikanischen Infrastruktur ganz zu schweigen.

Wo sich alles in den Dienst von Senkungen der Kapitalsteuern zu stellen hatte, wurden die Reichen reicher, die Superreichen superreicher, während im Zuge von Reformen des Sozialstaats die Unterschicht manches Opfer auf sich nahm. Vor allem erodierte vielerorts im Westen die (untere) Mittelschicht. Verlierer dieser Entwicklung ist der Optimismus in dieser bedrängten Mittelschicht, die schon Aristoteles als die Tragsäule der Demokratie betrachtete. Wo die Mittleren zahlreich seien, gebe es bei den Bürgern am wenigsten Aufstände und Zwist, schrieb er im 4. Jahrhundert v. Chr.

Wessen Aussichten verbaut werden, der fühlt sich schlecht aufgehoben in der Demokratie – viele flüchten sich dann in die Arme autoritärer Populisten, die sich als die „wahren“ Vertreter des „wahren“ Volkes geben. Reaktionäre Parteien und Bewegungen bewirtschaften die Zukunfts­ängste, insbesondere den Pessimismus jener Mittelschicht, der es oft noch einigermaßen gut geht, die aber im Vorgefühl lebt, den eigenen Kindern oder Enkeln stehe ein schwierigeres Leben bevor. Obendrein sinkt die Kaufkraft, zumal in Inflationszeiten.

 

Propaganda als Betäubungsmittel

Hier setzen die Populisten an, sie bieten Pseudoalternativen, lauter giftige Allheilmittel und stumpfe Zauberformeln, die jedoch immer wieder ziehen. Der „starke Mann“ – in Italien, Frankreich und Finnland die „starke Frau“ – wird es richten: Autoritär wird man durchregieren, die Steuern senken (was die Wirtschaft belebe), den korrupten Staat abbauen (was Geld spare), die abgehobenen Bürokraten in der Hauptstadt bändigen (was dem Bürger Einfluss verleihe), Ruhe und Ordnung durchsetzen (wozu rigorose Strafen verhülfen), die Geflüchteten abschrecken (was eine „gesunde Härte“ erfordere), die Nation wieder in ihr Recht setzen (als ließen sich deren Probleme in die Nachbarländer exportieren).

Und bitte schön, fordern die Reaktio­näre: Gebt ja kein Geld und schon gar keine Waffen her, um die Freiheit zu verteidigen, sprich den Unabhängigkeits- und Verteidigungskampf der Ukraine zu ermöglichen! Wladimir Putin stehe für „Tradition, Familie, Patriotismus, Krieg, Religion, Männlichkeit, Militär, Machtpolitik und nationale Interessen“, lobte ihn ein Wortführer des Diktators in Europa, der Weltwoche-Chefredakteur Roger Köppel.

Das Betäubungsmittel Propaganda wirkt stärker, als liberale Geister wahrhaben wollen. Und reaktionäre „Vollstrecker des Volkswillens“ müssen allemal die Propa­gandawalze gegen die Demokratien auffahren, sonst sind sie verloren. Im Streben der Autoritären liegt nämlich eine enorme Zumutung, die breit beworben werden muss: Das Volk soll sein Schicksal in die Hand nehmen, indem es sich in die Hand des Anführers begibt. Nur in der Hingabe der Wählerinnen und Wähler an ihren Wahlmonarchen wird die Nation souverän. Ohne Daueragitation ist diese dreiste Botschaft schwerlich anzubringen. Sie fordert, in neurechter Dialektik, ein „rückschrittliches Voranschreiten“: Aus Untertanen sollen wieder stolze Bürger werden, indem sie sich dem starken Mann ergeben.

Dabei werden die Autoritären nicht nur von der russischen und chinesischen Desinformationsindustrie unterstützt, sondern eher stärker noch von digitalen Plattformen wie Facebook. Zynisch beschädigen sie die Demokratie, indem ihre Algorithmen hochemotionale Posts und populistische Inhalte bevorzugen. Das hält die Nutzer bei der Stange, was höhere Werbeeinnahmen verspricht. Mit einem Wort: Facebook verdient viel Geld mit Polarisierung und Scharfmacherei. Das hilft den autoritären Reaktionären im In- und Ausland. Demagogen – diese Freunde des Shitstorms – machen sich die Fehlentwicklung der sozialen Medien gern zunutze. Und ein westlicher Oligarch wie Elon Musk ist voll in seinem Element. Der autoritäre Twitter-Chef und schwerreiche Verschwörungstheoretiker manipuliert die wichtigste globale Plattform für politische Debatten in seinem Sinne.

Demokratiepolitik erfordert heute dreierlei: wieder mehr Gleichheit in der Gesellschaft, damit in Kriegs- und Krisenzeiten ihre Resilienz steigt; eine (in der OECD breit unterstützte) Eindämmung des Steuerwettbewerbs als Voraussetzung der Gestaltungskraft von Politik. Und schließlich das stärkere Regulieren digitaler Plattformen, die unsere Demokratien ramponieren. „It’s the democracy, stupid!“

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S.66-67

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Roger de Weck ist Autor und Gastprofessor am College of Europe. Zuletzt erschien „Die Kraft der Demokratie“ (Suhrkamp).

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